‚Trickle down has never worked‘: Wie Joe Biden die amerikanische Wirtschaftspolitik revolutioniert

Präsident Biden hat ambitionierte Pläne für die USA (Bild: Brodie Vissers).

In den USA arbeitet die Biden-Administration daran, mit dem größten Investitionspaket der Landesgeschichte mit einem Schlag sowohl die amerikanische Wirtschaft zukunftsfähig zu machen, als auch die soziale Ungerechtigkeit massiv zu bekämpfen. Was hinter diesen Plänen steht, ist eine gänzlich neue Art, über Geld, Schulden und die Rolle des Staates nachzudenken: die modern monetary theory. Von Leon Isenmann. 

Bei seiner Hundert-Tage-Rede vor dem Repräsentantenhaus äußerte Präsident Joe Biden die sowohl kurze wie revolutionäre Feststellung: ‚Trickle down economics has never worked.‘ Gemeint ist damit das ökonomische Paradigma, das die US-amerikanische, und damit die gesamte westliche, Wirtschaft seit der Reagan-Ära prägt: trickle-down economics.

Vereinfacht gesagt kann man trickle-down economics als diese Annahme beschreiben: Geht es den Reichen gut, verdienen auch die Ärmeren. In der Vorstellung neoliberaler Ökonom:innen führen gesteigerte Profite der Produktionsmittelbesitzenden zu einer höheren Reinvestitionsrate, es werden also Arbeitsplätze geschaffen, Löhne erhöht und der Wohlstand aller gemehrt. Der westliche Kapitalismus ist daher seit den 80ern geprägt von einem Unterbietungswettbewerb der Industriestaaten um die niedrigsten Unternehmens- und Vermögenssteuern – es soll möglichst alles dereguliert werden, was die unsichtbare Hand des freien Marktes auch selbst und ohnehin viel klüger regeln könne als der träge Staat mit seinen fortschrittsbehindernden Regeln und Richtlinien.

Zusätzlich zur Deregulation der Wirtschaft und der Entkopplung der Finanzmärkte von der Realwirtschaft ist die zweite große Bewegung des Neoliberalismus, vor allem in den USA, die Privatisierung der sozialen Sphäre. Seien es Altenheime, Krankenhäuser, Gefängnisse, Schulen oder Universitäten – schrittweise wurden zunehmend alle Bereiche des öffentlichen Lebens in die Hand privater Akteur:innen gegeben. Der (vermeintlich) ‚schlanke Staat‘ ist daher das wirtschaftspolitische Paradigma der Neuzeit – zumindest bis jetzt.

Reaganomics und ihre Folgen

Mit einem Durchschnittseinkommen von $280.000 verdienen die reichsten zehn Prozent der Amerikaner:innen das mehr als 18-fache der ärmsten zehn Prozent, die Top ein Prozent sogar das mehr als 120-fache. Kosten für Medizin, für Bildung und Wohnraum haben astronomische Höhen erreicht und sorgen effektiv dafür, dass die absolute Mehrheit der gegenwärtigen amerikanischen Generation oft kein nennenswertes Vermögen an ihre Kinder weitergeben kann, während das vererbte Vermögen der reichsten ein Prozent beständig wächst.

Diese Fakten sind dabei nur die oberste Spitze des Eisbergs. Die rassistische und systematische Diskriminierung insbesondere der schwarzen US-Bevölkerung ist ein ganzer Themenkomplex, der mit diesen Tatsachen und ihren historischen Ursprüngen in Reagans Ökonomie unmittelbar zusammenhängen – an dieser Stelle sei nur kurz auf dessen ‚war on drugs‘ und der gleichzeitigen Entwicklung eines privatwirtschaftlichen Gefängnissystems hingewiesen.

Wenn Biden also sagt: ‚trickle down economics has never worked‘ dann ist damit nicht bloß eine abstrakte wirtschaftspolitische Agenda gemeint. Biden und das hinter ihm stehende Expert:innenkabinett geben den ersten ernsthaften Ausblick seit Jahrzehnten darauf, die Wurzel der eklatanten sozialen Probleme in den USA anzugehen.

Ein $5 Billionen-Plan

Wie aber will die Biden-Administration das schaffen? Wo beginnt man damit, die gesamtgesellschaftliche Fehlentwicklung aus 30 Jahren aufzuarbeiten? Die Antwort der Regierung scheint zu sein: überall gleichzeitig. $2,8 Billionen ($280 000 000 000) will Biden in die Infrastruktur, den Klimaschutz und den öffentlichen Sektor investieren. $1,8 Billionen sollen amerikanischen Haushalten und vor allem Familien zu Gute kommen, $6 Billionen sind als Haushaltsbudget für das Jahr 2022 veranschlagt und im März diesen Jahres haben nahezu alle amerikanischen Bürger:innen $1.400 als ‚covid-relief-money‘ bekommen, ohne bürokratischen Aufwand, per Post und ohne mögliche Rückzahlungsbedingungen.

Bidens Plan wird zurecht als die Erfüllung einer linken Wunschliste bezeichnet, er ist um ein vielfaches größer und weitreichender als die ökonomischen Veränderungen, die im Wahlkampf 2020 noch vom (für amerikanische Verhältnisse) linken Partei-Demokraten Bernie Sanders gefordert wurden. Angesichts dieser fast erschlagenden Ambitionen nach Jahren sozialpolitischen Stillstands ist es dabei mehr als berechtigt zu fragen, wo diese unvorstellbaren Summen plötzlich herkommen sollen, war es doch das Mantra der letzten Jahrzehnte, Staatsausgaben so gering wie möglich zu halten und Staatsschulden zu minimieren.

Das neoliberale Bild

Was wir dabei in Aktion sehen, ist die effektive Umsetzung einer Wirtschaftstheorie, die als modern monetary theory (MMT) bezeichnet wird. Eine ihrer prominentesten Vertreter:innen, die Wirtschaftswissenschaftlerin Stephanie Kelton, sitzt nun in beratender Funktion direkt am Ohr des Präsidenten, nachdem sie zuvor lange im Lager Bernie Sanders dessen Wahlkampf mitbetreute und den von Alexandria-Ocasio Cortez vorgeschlagenen green new deal mitgestaltete.

Anschaulich kann man den Unterschied dieser Theorie zum bisher gängigen neoliberalen Paradigma über deren Einstellungen zur Verschuldung eines Staates erläutern als: Wenn eine Person sich verschuldet, kann das schnell problematisch werden. Solange sie arbeitet, wird sie ihren Kredit abbezahlen können. Verliert sie aber ihr stetiges Einkommen, etwa durch Arbeitslosigkeit, wird das Kreditinstitut zunächst mahnen und dann ihren Besitz pfänden. Stirbt sie, gehen die meisten Schulden an die potenziellen Erb:innen über.

Staatsschulden werden gemeinhin als genauso problematisch dargestellt. In Deutschland werden vor allem FDP, CDU und SPD nicht müde, von einer Verantwortung unseren Kindern gegenüber zu sprechen, unsere Schulden zu minimieren – vor allem wenn es um Argumente gegen Investitionsprogramme für den Klimaschutz oder unsere öffentlichen Einrichtungen geht. Dementsprechend wurde in Deutschland 2011 die Schuldenbremse im Grundgesetz verankert, die dem Zweck dient, unsere staatliche Neuverschuldung zu minimieren und damit die möglichen Staatsausgaben aller kommenden Regierungen effektiv zu begrenzen.

Das Bild der MMT

Bidens Infrastrukturplan spaltet Republikaner und Demokraten (Bild: Bruno Passos).

Nun gibt es mit diesem Bild jedoch aus Sicht der MMT einige Probleme: Allen voran ist da der Umstand, dass Staaten nun einmal keine Personen sind. Staaten sterben nicht und Staatsschulden werden entsprechend nicht den Kindern von morgen ‚vererbt‘. Staaten geht auch nicht einfach die Arbeit und das Geld aus, weil sie sich aus Sicht der MMT nicht durch Arbeit (also über Steuereinkünfte) finanzieren, sondern weil sie stattdessen gerade die Rahmenbedingungen für jede mögliche Wirtschaftsleistung schaffen. Im Falle der USA und der europäischen Blockstaaten kommt zudem hinzu, dass diese effektiv ihr eigenes Geld erschaffen. Das von uns verwendete Geldsystem speist sich damit allein durch die Legitimation der Staatsbürger:innen.

Geld ist damit kein irgendwie zu erwirtschaftendes Gut, sondern vielmehr das ‚Schmiermittel‘,  das unsere hochkomplexe Gesellschaft handlungsfähig macht.

Daraus folgt dann, dass Steuern dementsprechend nicht dazu da sind, die Staatsausgaben aufzufangen, sondern sie dienen zum einen als legitimierend für das Geldsystem, und haben zum anderen eine tatsächliche Steuerungsfunktion – sie sind gewissermaßen die Spielregeln, nach denen sich die Wirtschaft ausrichtet.

Kann ein Staat also sein eigenes Geld drucken, ist seine Wirtschaft durch die Partizipation der Bürger:innen legitimiert, und hat er eine auf lange Zeit stabile Wirtschaftsleistung, steht ihm nach der MMT nichts im Weg, große Kredite aufzunehmen. Das ist der zentrale Ansatz der modern monetary theory: Staaten sind nicht auf das Geld ihrer Bürger:innen angewiesen, sondern sie erschaffen Geld allein durch politisches Handeln, das gesamtgesellschaftlich legitimiert ist.

Geld auf Zeit

Daraus ergibt sich eine grundlegend neue Sicht auf staatliche Verschuldung: Eine Gesellschaft, deren Bürger:innen nicht von Monat zu Monat um ihre existenziellen Grundlagen bangen muss, wird durch Käufe, durch den Bau von Immobilien und durch Anlagen mehr Geld in die Wirtschaft reinvestieren. Schulden sind also im Sinne der MMT einfach eine andere Form von Zahlungsmittel: Sie sind Geld auf Zeit und ihr Wert ist auf die Zukunft ausgerichtet.

Aus diesem Grund kann Biden Billionen in Aspekte der sozialen Frage investieren, ohne dabei die Steuern der meisten Bürger:innen erhöhen zu müssen. Nicht nur, dass er damit hoffentlich das Leid der Mehrheitsbevölkerung verringert, er handelt damit möglicherweise auch schlichtweg ökonomisch klug.

Vorsichtiger Optimismus?

Bei alledem ist jedoch zu betonen, dass es sich bei den gegenwärtigen Entwicklungen um eine neue und ungetestete Art handelt, als Staat mit Geld umzugehen – es bleibt also abzuwarten, wie sich die Lage entwickelt. Auch muss das billionenschwere Investitionspaket erst vom Senat verabschiedet werden – die Verhandlungen dazu laufen derzeit noch.

Trotzdem sind die Veränderungen spannend und in ihrer Größenordnung historisch einzigartig. Gelingt Bidens Plan, kann das ein Weg sein, uns ein Stück weit das Gefühl zurückzugeben an der durch den Staat erzeugten Struktur unserer sozialen Realität mitwirken zu können. Zwar ist die soziale Frage in Deutschland nicht ganz so brisant wie in den USA, aber auch hier gibt es strukturelle und zunehmende Ungleichheit, eine marode Infrastruktur und unterfinanzierte Bildungseinrichtungen – die Pandemie hat dabei alle diese Probleme noch einmal deutlich verschärft.

Während in den USA die Zeichen der Zeit zumindest in Teilen erkannt wurden, verkündete unterdessen unser Finanzminister Olaf Scholz erst kürzlich freudestrahlend: „Schon 2023 können wir zurück zur Schuldenbremse!.“ Wir alle können es kaum erwarten.

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