Chiles Frühling 2019

Brennende Barrikade im Zentrum Santiagos. (©fabianortegaphoto/Instagram)

Die immer noch andauernden Proteste in Chile gehen seit Monaten weltweit durch die Presse. Johanna, die gerade ihren Bachelor an der Uni Potsdam beendet hat, erlebte die Unruhen während eines Praktikums in der chilenischen Hauptstadt hautnah mit. Ihre Einblicke in die Gesellschaft Chiles, ihren Lernprozess über die dortige Ungleichheit und über das Leben zwischen Ausgangssperre und Polizeigewalt hat sie für uns aufgeschrieben. Ein Gastartikel von Johanna Dahm.

Der Beginn des Ausnahmezustands

Halb sieben Uhr abends in Santiago de Chile. Die Frühlings-Sonne strahlt auf das Universitätsgebäude an der Alameda, Santiagos Hauptstraße, ich laufe mit Freund_innen gen Zuhause, wir gehen um eine Ecke und bleiben direkt alle stehen. Eine Handvoll Soldat_innen hat uns entdeckt, will uns eindeutig nicht in der Nähe sehen. Dies wird unmissverständlich durch die offenen Gewehrläufe kommuniziert. Meine Freund_innen weichen zurück, eine junge Familie schließt sich ihnen an. Ich bleibe stehen, hebe meine Hände und schreie, dass wir nach Hause wollen! Der vorderste Soldat bleibt unbeeindruckt, beginnt auf mich zuzulaufen. Ich drehe mich um und die verrückten Tage gehen weiter. Es ist eine halbe Stunde vor der Ausgangssperre in der ersten Woche der Proteste in Chile.

Die während des Ausnahmezustands verhängte Ausgangssperre bedeutet, wenn du draußen nach dieser Zeit gefunden wirst, kann auf dich geschossen werden. Viele Tage und Wochen, mittlerweile Monate, in denen das bloße Nachhause-Kommen, das Einkaufen von Lebensmitteln, die überwältigende Flut von Informationen in sozialen Netzwerken von Freund_innen und eigenen Erfahrungen auf den Straßen, täglich neue Herausforderungen birgt. Die Nachrichten, die sonst im Nebel des Weltgeschehens an mir in Deutschland oft vorbei gezogen waren, sind nun in nächster Nähe, überwältigend grausam, verrückt und gewaltig.

Aufgewacht in einer neuen Welt

Am Plaza Italia, inoffiziell umbenannt zum Plaza de la Dignidad (Platz der Menschenwürde), zündet ein Protestierender ein Bengalo. (©fabianortegaphoto/Instagram)

Der 18. Oktober 2019 markiert den Beginn des “chilenischen Frühlings”. Auf den Straßen trafen sich sodann Hunderttausende, um sich gegen Ungerechtigkeit und Ungleichheit zu vereinen – und für alles, was in Chile noch bis zur Demokratie fehlt, zu protestieren. “Chile Despertó” – “Chile ist aufgewacht” – und irgendwie bin auch ich in einer neuen Welt aufgewacht.

Die Geschehnisse waren im Herzen Santiagos nicht einfach an mir vorbei gezogen, sondern haben mich wie alle Chilen_innen mitgenommen. Um dem Ganzen einen Sinn und eine Einordnung beifügen zu können, wollte ich etwas produzieren, das den Wochen der Proteste, die noch immer nachbeben, einen groben Rahmen gibt. Somit entstand dieser persönliche Querschnitt der Ereignisse aus Sicht einer Potsdamer Studentin in Santiago de Chile.

Eine gespaltene Gesellschaft

Eine Protestierende steht den Sondereinsatzkräften der chilenischen Polizei gegenüber. (©fabianortegaphoto/Instagram)

Chile. Im Nachhinein wusste ich so gut wie nichts über dieses lang gestreckte Land hinter den Anden am anderen Ende der Welt, als ich im September aufbrach, um ein dreimonatiges Praktikum eines neurowissenschaftlichen Forschungslabors der “Pontificia Universidad Católica de Chile” zu beginnen. Ich kannte von einer vorigen Reise den Süden, Patagonien, die Gletscher, die leeren Weiten, das raue Meer und die Fjorde im Pazifik. Frische Luft, sauberes Wasser, grüne Wälder, Wiesen mit Kühen und Pferden.

Doch konnte ich auch neben der Schönheit des Landes genauso gut die erschütternden politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse erspähen. Die hohen Preise in Supermärkten, Apotheken, einfach überall. Schattenseite des neoliberalen Wirtschaftssystems. Und die Schatten fallen eben nur auf die eine Seite der Bevölkerung. Dass der Alltag in Santiago keine anstrebenswerte Normalität für die Mehrheit ist, ist nicht schwer zu erkennen, wenn man sich “unterhalb des Plaza Italia” bewegt.

Dieser Plaza Italia, ein großer Platz im Osten des Zentrums, spaltet sozusagen die Oberschicht bergaufwärts – also gen Osten, gen Anden – ab vom restlichen Santiago. Ich wohne direkt an der Grenze. Die Grenze, die die Realitäten Chiles teilt. In die eine, in der es nach Müll und Pisse stinkt, in der es nachts dunkel und ungemütlich auf den Straßen wird, in der riesige Menschenmassen die Märkte beleben, die Straßen füllen und auch die Kultur tagtäglich neu gelebt wird in Bars, in Ateliers, auf den Straßen und Plätzen. Und dann die andere Realität, in der Bäume und Pflanzen das Straßenbild bestimmen, das kulinarische Angebot groß und modern ist, die großen Unternehmen sitzen, das höchste Gebäude Südamerikas steht und das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen skandinavische Verhältnisse annimmt. Die Ungleichheit ist unübersehbar, wenn man diese Grenze ab und an überschreitet.

Verständnis vom Leben komplett auf den Kopf gestellt


Laser in der Nacht sollen Nachrichtenteams und Einsatzkräfte der Polizei irritieren. (©fabianortegaphoto/Instagram)

Wir alle wissen ja von der Ungleichheit, kennen die Fakten. Ich wusste von Beginn an: als Europäerin, weiß, an einer Universität ausgebildet, gesund, versichert und finanziell in keinen ernsten Schwierigkeiten geht es mir besser als dem überwiegenden Rest der Welt. Ohne Probleme bekam ich mit meinem Lebenslauf die Praktikumsstelle an der besten Universität Chiles. Doch dann in Santiago lebend erkannte ich auch schnell: Die Welt, in der ich in Berlin lebte, ist in keiner Weise mit den Verhältnissen hier zu vergleichen.

Mir erscheint jeden Tag Neues absolut absurd. Zu Beginn musste ich mich erst einmal daran gewöhnen, nirgendwo hier wirklich reinzupassen. Blond und blauäugig gehört man hier klar zur Oberklasse. Eine Oberklasse, in der ich mich hier kaum bewege. Doch auch mit meinen Freund_innen, die üblicherweise zur ersten Generation von Uni-Absolvent_innen der Familie gehören und unter dem Plaza Italia geboren sind, komme ich immer wieder an Grenzen, die mir neu sind. Sie gehen nicht davon aus, dass eine Europäerin die umfassende Situation des Landes verstehen wird. Zu kompliziert und lang sind die Erklärungen, die ich mit meinem aktuell verfügbaren Spanisch noch nicht mal im Detail verstehen kann. Zwar fehlen mir noch immer die Antworten auf viele Fragen, doch habe ich bereits viel darüber erfahren können, wie es ist in einem Land zu leben, in dem mein Verständnis vom Leben komplett auf den Kopf gestellt wird. Und genau um das zu erfahren, bin ich ja grundsätzlich auch nach Santiago de Chile gekommen.

Gemeinsam auf die Straße gegen den Status Quo

Weinchen am Feuerchen. (©fabianortegaphoto/Instagram)

Der Knall, mit dem die Proteste begannen, war laut, energetisch, brachte alle Leute auf die Straßen. Es wurde gemeinsam für das protestiert, was seit langen Jahren und Jahrzehnten fast täglich auf Protestmärschen erfolglos eingefordert wurde. Es wird das Ende der Privatisierung vom Wasser gefordert, genauso wie das Ende des neoliberalen Wirtschaftsexperiments, die Aufklärung der Mordfälle aus der Diktatur Pinochets und den darauffolgenden Regierungen, in denen Polizist_innen im Interesse der Politik und Wirtschaft mordeten und der indigenen Bevölkerung das Land raubten.

Es wird gegen den Macho-Staat und die Gewalt an Frauen protestiert. Eine Reform der Gesetze zu Altersvorsorge, Gesundheitswesen, Bildungswesen und sozialen Institutionen wie der größten Kinderheim-Institution wird gefordert. Die Liste der Forderungen ist überwältigend. Und jede einzelne berechtigt und wichtig. Anfangs waren die Proteste ein bloßes Ventil für die angestauten Gefühle der Wut, Verzweiflung und Machtlosigkeit. Auf den Straßen traf man sich, um zu zeigen: “Wir haben keine Angst mehr!”, “Wir sind mehr als sie!” Und mit diesem “sie” sind die Politiker_innen und Polizist_innen, Machtinhaber_innen und Chilen_innen der privilegierten Oberschicht gemeint.

Nackte, skrupellose Gewalt

Erste Hilfe wird von Freiwilligen rundum und überall geleistet und ist auch dringend notwendig. (©fabianortegaphoto/Instagram)

Insgesamt denke ich von mir als schnelle Lernerin, doch in dieser Situation ein Denksystem für mich zu schaffen, das mir hilft, die Dinge schneller verstehen und bewerten zu können, kommt mir zäh und absolut verrückt vor. Da wäre zum einen die Polizeigewalt: Die Überzeugung und Wut, mit der hier Phrasen wie “Guter Polizist, toter Polizist”, “Der Polizist, der Vergewaltiger”, “Tod den Polizisten” und natürlich auch “ACAB” geschrien und gesprayt werden. Bevor ich nicht mit eigenen Augen und in Videos die nackte und skrupellose Gewalt sah, verstand ich sie nicht so ganz.

Ich fragte andere, was sie persönlich denn mal erlebt haben von Seiten der Polizei, denn bestimmt war das doch nur so dahin erzählt. Doch jede einzelne Person berichtete mir von persönlichen Gewalterfahrungen, auf physischer und psychischer Ebene, von Seiten der Polizei. Dies ist natürlich letztendlich nur ein Geschwür der großen verfahrenen politischen Situation. Der Gewalt von Polizei und Militär gegen die eigene Bevölkerung. Über 300 Menschen haben ein Auge durch Gummigeschosse verloren. Es wurden über 20 Personen auf verschiedene Weisen getötet. Noch immer gelten Menschen als vermisst. Über 2.000 weitere Personen wurden auf andere Weisen verletzt. Seither noch immer kein Dialog der Regierung mit der Bevölkerung, kein Bedauern, keine ernsthaften, klugen Maßnahmen. Demokratie steht irgendwie drauf, ist aber nicht wirklich drin.

Während ich nun also genau weiß, an welchen Kreuzungen Santiagos regelmäßig ein Wasserwerfer auftaucht oder aus welcher Unterführung die Polizist_innen gerne mal ihre Gummi- oder Tränengas-Geschosse abfeuern, so kann ich durch die Straßen laufen und mich sicher fühlen, wenn ich mit anderen Student_innen oder Protestierenden unterwegs bin, mich aber hüte in die Nähe von Polizist_innen zu kommen. Die Straßenproteste nehmen viele Gesichter an. Es wird in Parks und auf Plätzen musiziert, getanzt, gelacht und gesungen. Sport, Yoga und Akrobatik wird unternommen. Essen und Getränke werden verkauft.

Mit der Dämmerung kommen die Barrikaden und die Feuer und die grünen Laser, die die Polizist_innen irritieren sollen. Es wird lange dauern, bis die nun traditionellen Freitags-Demonstrationen aufhören. Im neuen Jahr 2020 sind spannende Zeiten auch in Chile zu erwarten. Es soll abgestimmt werden wie die neue Verfassung wohl entstehen soll, nach dem Sommer werden damit neue Ausschreitungen erwartet. Eines ist klar: Die Zivilbevölkerung Chiles wird sich nicht noch einmal mit der Normalität abgeben, welche auf verschiedenen Ebenen den meisten Chilen_innen so übel mitspielt, dass es für viele schlicht und brutal den schieren Tod bedeutet.

Die neue Generation hat das ganze Land mitgerissen

Immer wieder flammt auch ausgelassene Stimmung auf. (©fabianortegaphoto/Instagram)

Ich habe nun mein Praktikum abgeschlossen und warte auf einen Arbeitsvertrag, mit dem ich einige Monate länger hier bleiben kann. Ich weiß, dass es schwierig ist, mitzufühlen, wenn man weit weg ist. Auf der ganzen Welt passieren schreckliche Dinge. Doch freue ich mich über jede Person, die dies hier liest und sich ein klein wenig genauer auf sozialen Medien nach Neuigkeiten aus Chile auf dem Laufenden hält.

Und noch immer, oder vielleicht sogar mehr denn je, ist Chile eine Möglichkeit, Lateinamerika genauer kennenzulernen. Denn trotz der Grausamkeiten, die das Land nun erneut durchlebt, mangelnd es nicht am Zusammenhalt, am Humor und dem Einfallsreichtum der Chilen_innen. Kunst, Kultur und Leben ist neu aufgeblüht. Die neue Generation ist aufgeweckt und hat das ganze Land mitgerissen.

Autor

2 Antworten auf &‌#8222;Chiles Frühling 2019&‌#8220;

  1. Danke, dass du deine Sichtweise und Erfahrungen mitteilst. Fand ich sehr erfrischend und gut geschrieben. Viel Erfolg weiterhin in Chile

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