Der Widerspruch der anderen – Ein ehemaliger Schulkollege im Kampf gegen den Islamischen Staat

Weit weg vom eigenen Alltag. (Foto: ErikaWittlieb / Pixabay)

Irgendwann trifft man sie wieder – die ehemaligen Bekannten, die so lange aus unserem Universum verschwunden waren, dass sie in der Erinnerung zu namenlosen Nebendarstellern geworden sind. Mit denen man die Erinnerung an eine gemeinsame Zeit teilt. Was aber, wenn die eigene Gegenwart und die des anderen nicht unterschiedlicher sein könnten? Was, wenn der ehemalige Schulkamerad in den Krieg zog, während man selbst in der bequemen Welt der Kompromisse weiterlebt?
(Der Autor möchte unbekannt bleiben).

Es ist schwierig, den genauen Zeitpunkt festzulegen, aber es muss vor etwa vier Jahren gewesen sein, als mich ein Freund auf ein Video hinwies. Umringt von Rauch, vom Alkohol in den Stuhl gepresst und im Geräuschpegel der Kneipe gewogen, war es nicht mehr als eine Anekdote. Ein Statement des Absurden in einer Reihe abstruser Aussagen – nicht nur wegen des Alkohols. Aber es ist die Einzige, die mir am nächsten Tag noch im Kopf blieb: Ein ehemaliger Schulkollege soll nach Syrien gefahren sein. Dort kämpft er nun gegen den IS.

Von und über

Im Lärm und der Kurzsichtigkeit der U-Bahn, wenn nicht genug Platz blieb, um zu lesen (in den Jahren vor dem Mundschutz) und man gezwungen ist, ins Nichts zu starren, da tauchte dieser Mensch hin und wieder in meinen Gedanken auf. Ob er wohl noch lebt, fragte ich mich damals, wie heute noch. Er ist nicht der/die einzige ehemalige Schulkolleg_in bei dem/der ich mir diese Frage stelle und sie auch ernst meine. Aber er ist der Einzige – das musste ich mir irgendwann eingestehen – bei dem es mich wirklich interessiert. Es braucht nicht viel ihn im Internet zu finden; ausgerechnet als Teil der sozialen Medien, die ein offensichtlich bis ins Mark überzeugter Antifa ohne Zweifel verurteilt. Aber, wie so oft, ist die Kommunikation im Internet bewusst einseitig. Ihn zu fragen ist nicht möglich: Accounts, Email-Adressen oder ähnliches gibt es nicht. Es gibt kein von ihm mehr, nur ein über ihn.

Mein letztes Gespräch mit ihm liegt Jahre zurück. Damit hier keine Verwirrung entsteht: Wir waren reine Schulkollegen, keine wirklichen Freunde. Er war niemand, den ich ausserhalb der Schule sah. Ich erinnere mich an wenig Gespräche, meist hitzige und wichtige Diskussionen im Unterricht über dennoch oft belangloses. Gespräche über Idealismus und voreilige Meinungen. Im Video hingegen spricht er darüber, wie es ist zu töten. Dass er aus einer Notwendigkeit heraus tötet. Ich würde ihn gerne mehr dazu fragen. Was er über die Menschen denkt, deren Leben er beendete. Wann ihm bewusst wurde, dass er dazu fähig ist. Ihn vom Weg erzählen lassen, der ihn von der Bank neben mir ins tiefste Syrien brachte, wo er jetzt lebt, ohne Besitz und womöglich ohne jemals seine Familie wieder zu sehen. Wenn er noch lebt. Und dann fällt mir oft auf, wie wenig ich eigentlich über diese Person weiß.

Der freie Wille

Die (zumindest zeitweise) Lebensrealität des anderen. (Foto: Donations_Are_Appreciated / Pixabay)

An den Feiertagen im Dezember sah ich üblicherweise, so wie die meisten von uns, ehemalige Freunde. Menschen, mit denen man die Ruinifizierung der Erinnerung ebenso verlangsamt, wie sichtbar macht; mit denen einem auffällt. wie viel man bereits vergessen hat und wie viel da bereits verloren gegangen ist. Als hätte ein anderes Ich all diese Dinge erlebt – man selbst kann nur noch zuhören, wie Andere die eigenen Erfahrungen schildern. Irgendwann kam hin und wieder das Gespräch über unseren Schulkollegen auf. Der, dessen Erinnerungen an uns Teil von denen sind, die nicht in tatsächlichen Ruinen spielen. Dessen Lebensrealität nicht weiter von unserer entfernt sein könnte. Dessen Rauch, Ruinen, Lärm und Schmerz keine stilistischen Mittel sind, um den Alltag besser zu beschreiben. Jemand, der den Tod und die Zerstörung bewusst aufgesucht hat – im Gegensatz zu all denen, die keine Wahl hatten.

Es ist seltsam, über einen Menschen zu schreiben und dabei zu merken, dass das Einzige, was ich hier wirklich untersuchen kann, ich selbst bin. Worin sich meine Erfahrung der Welt mit der Angenommenen eines ehemaligen Bekannten unterscheidet. Dieser Mensch fuhr in einen Krieg, der ihn direkt nicht berührt hat. Es gibt genug Gründe, warum ein solcher Einsatz gegen Leid und Unterdrückung gerechtfertigt ist – besonders in einer Welt, die durch immer mehr Information immer näher zusammenrückt und Konflikte nicht mehr fern und unwirklich wirken.

Trotzdem: Der Konflikt, der jahrelang die Medien beherrschte und das Leid der Menschen schien mir nie so nahe wie jetzt. Alle Bilder, Artikel, Kolumnen, Dokumentationen und Reportagen hatten nicht den selben Effekt, wie das Bewusstsein über den Lebensweg eines ehemaligen Bekannten. Auch wenn es jemand ist, der in der unglaublichen Situation ist, einen Krieg freien Willens gewählt zu haben. Nicht wie die Syrer_innen, Libanes_innen, Westafrikaner_innen und alle anderen Betroffenen, die ich in den Reportagen sehe. Die Unfreiwilligen. Die nicht übers Internet einen Flug in den Krieg buchen, sondern zu Fuß einen Weg aus ihm heraus. Manche meiner Freunde empören sich über diese Arroganz, den Wahnwitz und die empfundene Dreistigkeit, vom Konflikt von den Menschen der Region abzulenken auf die von einem weißen Mann selbst gewählte Teilnahme am Leid. Zugegeben, ich habe Respekt vor jemandem, der dermaßen für seine Überzeugung steht. Aber leugnen kann ich die Argumente meiner Freunde nicht.

Die Welt der Widersprüche

Und dann fällt es mir auf: All diese Gedanken streben ein irgendwie geartetes Messen an. Ist sein Töten gerechtfertigt? Ist dieser Mensch besser als wir, weil er sich aktiver einsetzt? Wie sinnvoll ist es, Gewalt mit Gewalt zu bekämpfen? Wie gerecht ist es, über einen Menschen zu schreiben, der sich nicht verteidigen kann? Muss ich meine Überzeugungen anzweifeln? Stehe ich nicht genug für sie ein? Egal, welchen Gedanken ich dazu fasse – es erfolgt sofort Widerspruch von einem anderen Gedankenargument.

Im Video spricht mein ehemaliger Klassenkamerad davon, nicht weiter in einer Welt aus Widersprüchen leben zu wollen. Er hat recht: Ich bin, beispielsweise, überzeugt davon, dass Freiheit und Gleichberechtigung fundamentale Grundwerte sind, die international gelten sollten. Aber bis auf den gelegentlichen Protest und die vereinzelte Spende an Menschenrechtsorganisationen verbringen ich meine Zeit in Passivität und überlasse die Dinge ihrem Lauf. Gleichzeitig unterliegt aber auch mein ehemaliger Klassenkamerad einer Illusion: Er tötet um das Töten zu beenden. Er erweitert das Leid auf die eigene Familie um Leid zu beenden. Er ist von einer Welt aus Widersprüchen in die nächste gezogen. Ich bin in meiner geblieben.
Ich hoffe es geht ihm gut, dort wo er jetzt ist.

 

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