Ein junger Student erwacht aus unruhigen Träumen und findet sich in seinem Bett zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt wieder. Seine beiden Mitbewohner:innen versuchen, eine Lösung für die absurde Situation zu finden. Part I der Kurzgeschichte von Roland R. Maxwell.
Das Zimmer lag im Dunklen, die Vorhänge waren zugezogen. Eigentlich war es ein schöner, sonniger, leicht windiger Tag in dieser mittelgroßen brandenburgischen Stadt, die irgendwo in der ostprignitz-ruppinischen Einöde lag, wo sich meistens nur Berliner hin verirrten, getrieben von der Suche nach Natur, fernab der lauten und dreckigen Großstadt. Ansonsten wurde der Ort so gut wie gemieden.
Eigentlich war es eine kleine hübsche Stadt, sie hatte nur eben nicht viel zu bieten. Ein geschlossenes Schwimmbad, drei Supermärkte, eine Provinzschule, welche das Digitale Zeitalter bisher erfolgreich ignoriert hatte, sowie einen kleinen Park. Umgeben von Forstwäldern und landwirtschaftlich genutzten Äckern war es das perfekte Bild einer Stadt, die es in Brandenburg beinahe tausendfach gab.
Das Wetter war herrlich, die Außentemperatur betrug angenehme zweiundzwanzig Grad, keine einzige Wolke ließ sich am strahlend blauen Himmel blicken. Ein Tag, an dem man rausging und etwas unternahm. Eis essen, zum Beispiel. Oder spazieren gehen. In den Pool springen. Oder sich mit Freunden treffen. Aber einen jungen Mann interessierte das alles gar nicht – er war viel zu sehr mit seinem Hobby beschäftigt, das er über alles liebte.
Die Vorhänge waren zugezogen, das Zimmer war dunkel und Gregor saß gebeugt über seinen Schreibtisch. Eine Lampe erhellte seinen Arbeitsplatz. In der einen Hand hielt er eine Pinzette, in der anderen eine Glaskopfstecknadel. An seinen Kopf hatte er sich eine Lupe geschnallt, durch diese betrachtete er das ihm vorliegende Prachtexemplar. Papilio machaon, der Schwalbenschwanz. Er war einer von Gregors Lieblingsfaltern. Seine gelben Flügel mit dem schwarzen Muster nebst dem leichten Blau und die roten Punkte hatten es ihm wirklich angetan, die Natur brachte doch die wundervollste Ästhetik hervor.
Sobald der Schwalbenschwanz an seinem Platz wäre, zwischen Danaus plexippus1 und Anthocharis cardamines2, dann wäre der Präparatsschaukasten fertig, der fünfte in Folge. Gregor war gerade dabei, die Nadel in den Thorax zu stecken, als plötzlich ein markerschütternder Schrei ihn aus seiner meditativen Ruhe riss, woraufhin er die Glaskopfstecknadel versehentlich in den Kopf des unschuldigen Falters rammte. Verwirrt blinzelte er und schüttelte den Kopf, erst dann realisierte er seinen Fehler. Traurig blickte er auf das ruinierte Resultat.
»Schöne Scheiße aber auch«, seufzte er.
Auf einmal hörte er, wie schnelle Schritte sich auf sein Zimmer zubewegten. Bevor er auch nur reagieren konnte, wurde seine Tür mit einer Wucht, die einem Orkan glich, aufgerissen. Vor ihm stand Johanna, blanke Furcht stand in ihr Gesicht geschrieben. Mit weit aufgerissenen Augen blickte Gregor sie an.
»Ist was pas…«, begann er, doch er konnte den Satz gar nicht beenden. Johanna packte ihn am Arm und zog ihn von seinem Arbeitsplatz weg.
»Johanna! Was … Was ist denn …«, stammelte Gregor.
Doch seine Mitbewohnerin sagte nichts, sondern zog ihn einfach nur hinter sich her. Gregor stolperte, doch Johanna war unerbittlich und ignorierte sein Quengeln. Sie schleppte ihn in das Zimmer von Finn und da verstand Gregor endlich die Aufregung. Die grünen Vorhänge waren weit aufgerissen, Kleidungsstücke lagen wild auf dem Boden verstreut. Doch das Highlight befand sich auf Finns Bett. Jetzt konnte Gregor auch die Furcht und die Angst Johannas nachvollziehen. Auf dem Bett lag ein riesiger Käfer, ein goldglänzender Rosenkäfer um genau zu sein.
»Cetonia aurata«, murmelte Gregor ehrfürchtig.
Er traute sich gar nicht zu fragen, aber: »Wo … ist eigentlich Finn?«
Johanna sagte nichts, sondern zeigte nur mit zitterndem Zeigefinger auf das Biest, das auf dem Rücken lag und mit seinen Beinen in der Luft strampelte.
»F… Finn?«, Gregors Stimme brach fast weg, »Finn? Was … Was ist … Was ist mit dir passiert?«
Und dann passierte das Unmögliche, dieses Geräusch würde Gregor nie wieder vergessen, der Käfer begann zu sprechen!
»Ich erwachte aus unruhigen Träumen und fand mich in meinem Bett zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt«, die Stimme, die aus der Kreatur wich, glich in keinster Weise der von Finn, sie glich dem Klickern von Zahnrädern.
Johanna sah völlig verzweifelt aus, sie wusste nicht, was sie mit ihren Händen anfangen sollte, weshalb sie mit ihnen einfach sinnlos gestikulierte, kein Wort drang aus ihrem trockenen Mund, ihre Augen zitterten, sie stand den Tränen nahe. Finn sagte nichts, seine smaragdgrünen Beine strampelten weiter, so als würde er sich auf einem unsichtbaren Laufband befinden.
Gregor war ratlos und auch ein wenig überfordert mit der Situation. Als er heute morgen aufgestanden war und die Sonne und den blauen Himmel erblickte, hätte er sich nie denken können, dass er es mit einem ein Meter achtzig großen Rosenkäfer zu tun bekommen würde. Er versuchte, die angespannte Lage etwas aufzulockern.
»Hat schon was kafkaeskes, nicht wahr?«, witzelte er verzweifelt.
Johanna funkelte ihn böse an, ihre Augen brannten vor Wut.
»Das ist nicht witzig! Wie wäre es, wenn du dich verdammt nochmal nützlich machst und einen Arzt oder so etwas anrufst?«, befahl sie in barschem Ton.
»Ich bezweifle, dass ein Arzt da helfen kann. Hierbei scheint es sich um ein bisher gänzlich unbekanntes medizinisches Phänomen zu handeln. Zumindest habe ich noch nie von einem Fall gehört, wo sich ein Mensch plötzlich in ein monströses Insekt verwandelt hat. Wer soll uns in solch einer Situation schon behilflich sein?«
Johanna ließ kraftlos die Schultern fallen, sie begann zu schluchzen und schlug sich die Hände vors Gesicht. Gregor wollte sie trösten, wollte sie berühren, sie aufmuntern, doch er fand nicht die richtigen Worte, stattdessen kniete er sich ans Bett und berührte eines von Finns Beinen. Das Chitin fühlte sich kalt an, fast leblos, doch unter der metallisch wirkenden Oberfläche konnte er ein Pulsieren spüren. Er schluckte, sein Hals fühlte sich trocken und rau an, wie eine Wüste aus Fleisch. Nach längerem Überlegen fand er endlich den Mut zu sprechen: »Finn? Hörst du mich? Was ist mit dir passiert?«
Der Käfer schien seinen Kopf in Richtung Gregor zu drehen, seine Beine hörten auf sich zu bewegen. Mit ausdruckslosen Facettenaugen starrte er seinen Mitbewohner an, in ihnen spiegelte sich kein Verstehen der Worte. Die Mandibeln bewegten sich und heraus kam die grässliche, klickende Stimme: »Ich hab verschlafen. Es ist schon so spät. Ich muss los, ich muss arbeiten. Ich muss los, sonst komme ich zu spät zur Arbeit. Meinem Chef gefällt es nicht, wenn ich zu spät komme. Er wird mich feuern, er wird mich feuern. Ich brauch doch das Geld.«
»Finn …«, Gregor versuchte, seinen Freund zu beruhigen, »Finn, das ist doch jetzt völlig egal. Ich glaube, dein Boss kann warten. Du bist jetzt wichtiger. Wir müssen uns um dich kümmern!«
Finn schüttelte seinen Käferkopf.
»Es ist warm, mir ist so warm, warum ist es so warm? Die Hitze macht mir zu schaffen. Atmen fällt mir schwer, ich bekomme keine Luft. Warum ist es hier so stickig? Luft, ich brauche Luft. Mir ist so warm, so warm«, die Gliedmaßen von Finn wedelten wie wild in der Luft. Sein Abdomen hob und senkte sich. Gregor sah Johanna entschlossen an.
»Finn scheint eine Panikattacke zu haben. Wir müssen etwas unternehmen«, Gregor dachte nach, »Wir müssen ihn auf den Bauch drehen, dann sollte er besser Luft bekommen. Wahrscheinlich werden seine Stigmen von der Decke blockiert.«
Johanna schüttelte wild den Kopf.
»Auf keinen Fall fasse ich dieses … dieses Ding an! Das kannst du vergessen!«, jammerte sie.
»Es ist kein Ding! Es ist Finn. Unser Freund, unser Mitbewohner. Den, den wir schon seit dem Abitur kennen, mit dem wir gemeinsam studieren wollten. Und wenn wir ihm nicht helfen, dann könnte er sterben! Also, hör auf zu heulen und fass mit an!«
Gregor packte Finn an der rechten Seite, Johanna, nach ein paar Schluchzern, tat es ihm auf der linken Seite gleich. Die Deckflügel waren kalt, sie fühlten sich beinahe wie lebendes Metall an, doch da war auch eine gewisse Feuchte, wie eine leichte Schleimschicht, welche die Elytren überzog. Gregor hatte noch nie erlebt, dass ein Käfer so dermaßen schwitzte.
»Okay … Ich hab ihn«, verkündete er Johanna, »Bei Drei drehen wir ihn um … Okay?«, Johanna nickte, »Okay … Eins … Zwei … Drei!«
Die beiden Studenten hoben den Käferkörper hoch. Gregor war überrascht davon, wie schwer doch dieses Insekt war. Wobei es doch keine wirkliche Überraschung war, wenn man bedenkt, dass es sich um einen ein Meter achtzig großen Rosenkäfer handelte, das ganze Chitin musste schließlich auch etwas wiegen. Gregor fragte sich auch, wie es überhaupt möglich war, dass ein solch gigantisches Insekt existierte. Nach den normalen Naturgesetzen sollte es eigentlich kollabieren und an seiner eigenen Größe ersticken. Doch trotzdem war es hier, vor seinen Augen und in seinen Händen. Eine weitere Frage drängte sich in seinen Kopf hinein: Konnte Finn eigentlich fliegen?
Nach einigen Schnaufern und Seufzern und Wendungen schafften es die beiden Studenten doch noch, ihren verwandelten Freund auf den Bauch zu drehen. Doch dann geschah ein Missgeschick. Gregor wusste nicht, was genau dazu führte, ob nun Johanna zu früh losließ oder ob seine Hand am Chitin abrutschte. Durch was auch immer es geschah, es passierte viel zu schnell, um es aufzuhalten.
Eine Kralle von einem von Finns Beinen raste hinab und traf Johanna am Arm. Ein ekliges, nass-feuchtes Reißgeräusch war zu hören, auf ihrem Arm zeichnete sich ein langer roter Graben ab. Die Wunde war nicht sonderlich tief, aber sie blutete stark. Johanna ergriff ihren Arm und schrie vor Schmerzen, oder was wahrscheinlicher ist: vor Schreck. Sie fluchte, ihr standen die Tränen in den Augen, schnell rannte sie ins Badezimmer und schloss die Tür hinter sich zu. Das alles geschah innerhalb weniger Minuten, Gregor hatte gar nicht genug Zeit zum Reagieren und zum geistigen Verarbeiten der Situation.
Er schaut zu Finn, der jetzt auf seinem Bauch lag, seine Fühler wedelten neugierig in der Luft. Sogleich erhob er sich mit seinen sechs Gliedmaßen und krabbelte vom Bett hinunter. Er hob seinen Kopf und sah Gregor an, doch in seinen grün-grauen Facettenaugen war kein Erkennen, er hätte genauso gut irgendeine x-beliebige fremde Person anstarren können. Gregor spürte einen Stich in seinem Herzen. Er kannte Finn schon sehr lange, ungefähr seit der Mittelstufe. Sie hatten sich von Anfang an gut verstanden, waren so etwas wie beste Freunde geworden, die sich gegenseitig unterstützten und den Rücken freihielten. Finn beschützte den körperlich schwachen und eher feminin wirkenden Gregor vor stumpfsinnigen Raufbolden und verklemmten Schlägertypen. Im Gegenzug half er Finn in Biologie, Chemie und Mathematik weiter, Fächer in denen der eher auf Sport und Literatur Fixierte arge Probleme hatte. Die beiden hatten gemeinsam an derselben rückständigen Provinzschule ihr Abitur gemacht und nun studierten sie gemeinsam an derselben (etwas weniger rückständigen) Universität. Sie hatten Partys gefeiert, waren nachts von Kneipe zu Kneipe gewandert, gemeinsam für Klausuren und Hausarbeiten gebüffelt, gelacht, geweint, waren verzweifelt und hatten siegreich gebrüllt, wenn sie ein weiteres Semester bestanden hatten.
Und nun sollte das alles vorbei sein? In Finns glasigen Augen konnte Gregor kein Erkennen sehen. Der Finn, der früher mal existierte, schien nicht mehr da zu sein, nur noch Käfer-Finn. Vielleicht steckte sein alter Geist irgendwo noch in dieser Hülle drin, umgeben von zentimeterdicken Chitin. Doch in der jetzigen Situation waren die Erinnerungen verloren, verschlossen in einem Käferkörper, das Ich als Geisel des Es.
»Ich muss los. Ich muss zur Arbeit. Ich habe Hunger. Großen Hunger. Essen. Ich brauche Essen. Essen. Muss raus. Muss los. Arbeit. Essen«, klickerte Finns Stimme, die aber irgendwie auch nicht seine war. Die Sätze wurden kürzer, die Wörter einfacher. Der Geist von Finn schien den Kampf gegen Käfer-Finn zu verlieren.
Gregor stellte sich demonstrativ vor ihn und streckte seinem alten Freund die Hände entgegen, die Stopp! signalisieren sollten. Zuerst klickte Finn erbost mit den Mandibeln und schaute sich verwirrt um, doch schließlich schien er sich eingeschüchtert umzudrehen. Gregor ging langsam rückwärts aus dem Raum hinaus, nicht für eine Sekunde wandte er seine Augen von dem riesigen Käfer ab, der sich in die hinterste Ecke trollte. Schmollte er etwa? War er beleidigt? War er zu diesen Gedanken überhaupt in der Lage? Oder suchte er sich einen Alternativweg? Diese Fragen schossen Gregor in den Kopf, doch er hatte keine Zeit, über sie nachzudenken.
Als er den Flur erreichte, warf er die Tür ins Schloss und drehte den Schlüssel um. Daraufhin schlich er langsam an die Badtür, klopfte einmal und sagte dann: »Johanna? Johanna, ist alles in Ordnung mit dir? Geht es dir gut?«
Verstohlen öffnete sie die Tür und schaute hinaus. Ihr Gesicht war aschfahl, ihre Augenringe waren größer als die Ringe des Saturn, sie zitterte leicht. Johanna streckte ihren Arm aus, Gregor sah ihn sich genauer an. Es sah schon übel aus. Die Wunde begann sich bereits zu entzünden, weißgelbe Eiterblasen bildeten sich. Erstaunlich, wie schnell es doch passierte, aber wahrscheinlich lag es daran, dass die Krallen eines Käfers einfach unhygienisch waren.
»Wie geht es dir?«, fragte er seine Mitbewohnerin sanft.
»Es schmerzt, es brennt höllisch, als hätte dir jemand Salzsäure auf den Arm gekippt«, sie verzerrte das Gesicht.
»Lass mich mal gucken, was wir an Medizin haben«, Gregor begab sich ins Badezimmer und öffnete den metallenen Medizinschrank, wo er noch ein paar Schmerztabletten und einen Verband fand. Zwar nur eine magere Ausbeute, aber immerhin besser als nichts. Soldaten im Krieg hatten weniger zur Verfügung.
Er ging zurück zu Johanna und behandelte die Wunde. Gott sei Dank erinnerte er sich noch an den Erste-Hilfe-Kurs, den er vor ein paar Jahren für die Fahrschule absolvieren musste, sonst wäre das Anlegen des Verbandes ein ziemlich peinliches Unterfangen geworden. Gregor gab Johanna noch zwei Schmerztabletten, die sie erstaunlicherweise ohne ein Glas Wasser hinunter bekam. Danach beorderte er sie auf die Couch. Zuerst protestierte sie scharf, sie wolle sich nicht ausruhen und womöglich einschlafen, während dieses … (sie sprach es nicht aus, aber sie wollte sicherlich Ding sagen, Gregor konnte es ihr nicht verübeln, Käfer-Finn war nicht mehr ihr Finn) im Zimmer nebenan krabbelte. Doch sie fing an zu gähnen und sah dann ein, dass vielleicht ein wenig Ruhe nicht schaden könnte, besonders mit einem verletzten Arm. Also begab sie sich auf die Couch im Wohnzimmer und schien auch bald schon einzuschlafen.
Wie es weitergeht, erfahrt ihr in Part II …
1Monarchfalter
2Aurorafalter