„Je sichtbarer wir werden und je mehr Kraft wir haben, desto mehr Macht werden wir auch bekommen – The Empire Strikes Back.“

Viele Frauen sind von Femizid betroffen – vor allem in Lateinamerika ist das spürbar. (Quelle: Unsplash)

Nicht erst seit dem tödlichen Angriff in Neuschwanstein wird in Deutschland über Frauenmorde, sogenannte Femizide, gesprochen. International, besonders in Lateinamerika, ist das Thema aber noch wesentlich größer, erklärt die Privatdozentin an der Uni Potsdam Dr. Patricia Gwozdz im Interview. Von Kai Wielert 

 

 

 

 

 

 

 


TRIGGER WARNUNG! Dieser Artikel thematisiert unter anderem die Themen Frauenmord und sexualisierte Gewalt. 


In Neuschwanstein wurde Mitte Juni dieses Jahres eine 21-jährige Frau von einem 30-jährigen Mann ermordet. Nach derzeitigem Erkenntnisstand der Polizei habe der Mann sie und ihre 22-jährige Freundin unter falschem Vorwand zu einer Aussichtsplattform gelockt und versucht, sie zu vergewaltigen. Der Versuch war erfolglos, woraufhin er die beiden Frauen eine Schlucht hinunterstieß. Eine verstarb, die andere wurde mit schweren Verletzungen ins Krankenhaus eingeliefert. In den Medien ist man sich uneins, wie man diese Tat definiert: Ist es Mord (u. a. bei der „BILD“) oder doch ein Femizid (u. a. bei der „taz“)?

Laut dem Bundeskriminalamt (BKA) wird in Deutschland im Schnitt an jedem dritten Tag eine Frau von ihrem Partner ermordet. Ein Mann nur an jedem 30. Tag. Das Problem der Frauenmorde, der Femizide, geht aber über die Partnerschaftsgewalt hinaus: Wenn der Tötungsgrund ist, dass das Opfer eine Frau war, bezeichnet man die Tat als Femizid. Bei uns in Deutschland ist das Thema nicht allzu präsent, vor allem wenn man den Diskurs mit Hochrisikogebieten für Frauen vergleicht, zum Beispiel Lateinamerika. In den spanisch- oder portugiesischsprachigen Ländern der beiden Amerikas werden jeden Tag durchschnittlich zwölf Frauen Opfer von Femiziden.

Zu dieser grausamen Problematik bietet Dr. Patricia Gwozdz ein Seminar an der Universität Potsdam an: „#NiUnaMenos: Literatur und Politik des Femizids in Lateinamerika und der Welt“. Die Privatdozentin für Romanische Philologie und Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft hat mit den Studierenden des Seminars den Instagram-Kanal @fight-femicide gestartet, der Forschungsergebnisse zu Femiziden vorstellt und über das Thema aufklären will.


Ein Teil der Studierenden im Seminar „#NiUnaMenos – Politik und Literatur des Femizids in Lateinamerika und der Welt.“ (Quelle: Dr. Patricia Gwozdz)

speakUP: Was genau ist das Instagram-Projekt @fight.femicide?

Dr. Patricia Gwozdz: Der Kanal ist aus dem Seminar „#NiUnaMenos – Politik und Literatur des Femizids in Lateinamerika und der Welt“ hervorgegangen. Eigentlich liegt es im Fachbereich der Hispanistik, aber ich öffne das auch immer für die anderen Studiengänge. Wir arbeiten also interdisziplinär. Die Idee war, dass wir in der ersten Phase zusammen ganz viele wissenschaftliche Texte lesen, darüber sprechen und auch ein Gefühl dafür bekommen, wie man Quellen erforscht, woher die Informationen kommen und wie man wissenschaftliche Texte liest und sie bewertet.

Wir wollten eine Art Kulturredaktion starten, also in drei verschiedenen Teams mit den Themen Politik, Wissenschaft und Literatur zu arbeiten und selbstständig diesen Instagram-Channel ins Leben zu rufen und sich untereinander zu koordinieren. Für mich war es wichtig, Science-Communication zu betreiben, also Instagram für etwas zu nutzen, wofür es eigentlich nicht gemacht wurde. Die Studierenden wurden dann in der zweiten Phase mit ihren Posts allein gelassen, mit denen sie die bearbeiteten Texte für die Öffentlichkeit aufarbeiten.

Das heißt die einzelnen Posts sind kein Gemeinschaftsprojekt des Seminars, sondern wurden selbstständig von den Studierenden erstellt?

Es ist insofern ein Gemeinschaftsprojekt, dass wir zusammen im Seminar die wissenschaftliche, politische und literarische Vorarbeit geleistet haben durch die gemeinsamen Diskussionen. Die Posts werden dann von vier- bis achtköpfigen Teams gemeinsam gestaltet. Und das sehr frequentiert: Alle zwei Tage kommt ein neuer Post raus. Ich erstelle dann dazu immer eine Zusammenfassung aus der gesamten Woche. Das sind dann die sogenannten Review-Posts.

Woher kommt der Fokus auf Lateinamerika?

Weil der Hashtag „#NiUnaMenos“ aus Lateinamerika und Spanien, also spanischsprachigen Ländern, stammt und weil die UN-Women-Organisation diese große Seite aufgebaut hat, die darüber informiert, wo quantitativ betrachtet die meisten Femizide auftreten. Dazu gehört nicht nur Lateinamerika, sondern unter anderem auch Länder des asiatischen Kontinents wie China, Indien und südostasiatische Inseln.

Der Fokus liegt besonders auf Lateinamerika, damit die Studierenden aus der Hispanistik auch die Möglichkeit bekommen, spanischsprachige Posts gestalten zu können. Wir betreiben den Kanal nämlich zweisprachig, teilweise sogar dreisprachig: Unsere Beiträge sind auf Englisch, Spanisch und auch auf Deutsch. So versuchen wir viel mehr Reichweite in den verschiedenen Communities zu erreichen und damit eine Brücke zwischen Europa und Lateinamerika zu bauen, weil man in Europa selten über Frauenmord spricht, in Lateinamerika dafür sehr, sehr häufig. Wir wollen so eine Verbindung zwischen den Diskursen hier und in Lateinamerika schaffen.

Was ist die #NiUnaMenos Bewegung?

Die Story hinter der #NiUnaMenos Bewegung. (Quelle: instagram.com/fight.femicide)

Wie alle politischen Hashtag-Bewegungen unserer Zeit – dazu gehört natürlich auch #MeToo und #BlackLivesMatter – geht die #NiUnaMenos aus einem individuellen Einzelfall hervor, der mediale Aufmerksamkeit erregt, weil er strukturellen Rassismus in all seinen Formen in den Vordergrund tödlicher Übergriffe rückt.

In unserem speziellen Diskurs war es eine sehr junge Frau in Argentinien namens Chiara Páez, die 2015 im Alter von 14 Jahren von ihrem Freund getötet worden ist, wobei man nach der Autopsie das Abtreibungsmedikament Oxaprost in ihrem Körper nachweisen konnte. Sie war also im dritten Monat schwanger. Gerichtlich wurde dann bestätigt, dass ihr damaliger Freund sie zu der Abtreibung gezwungen haben soll. Als sie es nicht wollte, hat er sie umgebracht. Allerdings soll die Haftstrafe wohl von 21 Jahren auf 15 reduziert werden, weil zu dem Zeitpunkt des Mordes noch das Jugendstrafrecht greift.

Hier haben wir also einen rechtlich gesicherten Tatbestand des Femizids vorliegen: Er hat sie getötet, weil sie eine Frau war, die selbst bestimmend über ihren Körper verfügen wollte und er es nicht akzeptieren und respektieren wollte. Um es noch drastischer aus der Perspektive des Täters zu formulieren: Die Frau musste sterben, nicht nur, weil sie eine Frau war, sondern eine Frau, die gegen den Mann entschied, gegen seinen Willen, und damit seine Macht untergrub. Das hat Manuel Mansilla, ihr Freund, nicht geduldet. Die Folge war Mord, die einzige Form, in der er noch seine Macht zeigen konnte, indem er ihr das Leben nahm.

Wo liegen die Unterschiede zwischen #NiUnaMenos und den Green Wave Protesten?

Was ist das ‚Green Wave Movement‘? Der Instagram-Kanal klärt auf. (Quelle: instagram.com/fight.femicide)

Das Green Wave Movement kannte ich noch gar nicht. Das war für mich selbst als Dozierende neu. Die Verknüpfung von #NiUnaMenos und dem Green Wave Movement war natürlich effektiv, weil es darum ging, mit dem ersten Post schon die größte Hashtag-Aufmerksamkeit zu generieren. Inhaltlich würde ich beide auf jeden Fall trennen wollen, denn bei dem Green Wave Movement geht es um das Abtreibungsgesetz und die allgemeinen Frauenrechte in der Reproduktionsmedizin und eben nicht um den Femizid im engeren Sinne. Es ist auch problematisch in dieser Diskussion, dass #NiUnaMenos und zum Beispiel, was wir jetzt in Deutschland haben, mit Rammstein und Neuschwanstein usw. alles zusammen in diesen einen Hashtag hineinfließen zu lassen.

Anmerkung der Redaktion: Till Lindemann, Frontsänger der Berliner Band Rammstein, wird vorgeworfen, er habe ein Rekrutierungssystem aufgebaut, um junge Frauen bei After-Show-Partys sexuell zu missbrauchen. Teilweise seien die Frauen auch unter Drogen gesetzt worden.

Das werden wir uns in der Evaluation anschauen, ob die medial inszenierte und öffentlich geführte Diskussion wirklich effektiv war, um etwas zu ändern. Unter dem Hashtag vereinigen sich zu viele unterschiedliche Fälle von Frauen und in der Öffentlichkeit wird jetzt immer überall Femizid drauf gestempelt. Deshalb versuchen wir uns in ein paar Wochen auch damit zu beschäftigen, diese Begriffe nochmal genau zu differenzieren und zu schauen, ob der Fall in Neuschwanstein nun ein Femizid war oder nicht. In den Medien geht das jetzt drunter und drüber und da ist es auch schwierig den Studierenden erstmal zu sagen: Ihr müsst auch die Berichterstattung kritisch lesen und gucken, wie ihr das jetzt in diesen Hashtag-Diskurs mit hereinnehmen wollt.

War der tödliche Angriff in Neuschwanstein denn ein Femizid?

Dazu hatte ich schon ein aufgeregtes Streitgespräch mit einer Freundin, weil sie ganz klar gesagt hat: „Na Patricia, das ist ein Femizid.“ Und dann habe ich gesagt: „Du, schau doch mal auf unseren Kanal, die Studis haben da schon versucht, das ein bisschen differenzierter zu betrachten.“ Klar ist, dass der Tötungsgrund genderspezifisch gewesen sein muss, nämlich dass die Frauen aufgrund ihres bloßen Daseins als weibliches Geschlecht getötet wurden. Das Problem ist: Es sieht auch wie ein Tatunfallhergang aus, weil eine Vergewaltigung stattfinden sollte, die eben wie auch immer vereitelt wurde und aufgrund dessen diese Frauen dann in den Abgrund geworfen wurden. Ich würde im Grunde sagen, dass es noch kein Femizid ist.

Übersetzung: „Einerseits… Guatemala ist eines der ersten Länder, das Femizid als eigenständiges Verbrechen mit einer hohen Mindeststrafe von 25 bis 50 Jahren bestraft.“ (Quelle: instagram.com/fight.femicide)

Dabei ist nämlich das Problem, wie man das rechtlich fassen sollte. Deshalb hat das Team Politik auch einen Post zu Guatemala gemacht. Das war eines der ersten Länder, die überhaupt Frauenmord rechtlich als Frauenmord deklariert hat. Und man muss tatsächlich abwarten, welche Ursachen und Motive, die zu der Tat geführt haben, juristisch in der Fallaufklärung dann bewiesen werden. Dann kann man bestimmt in paar Wochen sagen, dass es ein Frauenmord war oder eben nicht. Aber jetzt sofort mit dieser Nachricht nach kurzer Zeit zusagen, das ist ein „Femizid“, da würde ich mich aus wissenschaftlichen und auch aus juristischen Gründen noch erstmal zurückhalten wollen. So wie ich das gerade in der Berichterstattung sehe, ist es allein die taz, die den Begriff verwendet. Viele Tageszeitungen sprechen von einem „tödlichen Angriff“.

Ist Femizid nicht einfach nur Mord?

Ja! Das würde ich sofort unterschreiben. Ich habe selbst Psychologie studiert und weiß, dass es sehr wenige, fast keine psychologischen Studien über Frauenmord gibt, weil man den Vergewaltiger nicht einfach fragen kann, denn er wird nie von sich aus sagen, was seine Gründe waren. Es ist schwer einen „Femicidio“ oder auch Feminicido nachzuweisen. Es gibt auch den Begriff Femigenozid, also dass man auf die Völkerebene geht und den Femizid mit dem Holocaust vergleicht. Die argentinische Anthropologin Rita Segato, über die wir auch noch posten werden, will, dass auf globaler Ebene Femizide als Völkermord an den Frauen gesehen werden. Das ist im Moment ein rechtlicher Kampf, weil man nicht weiß, wie man das definieren soll. Es ist eben nicht einfach nur Mord, weil es in den Statistiken immer wieder Frauen und Mädchen vor allem in intimen Partnerbeziehungen trifft.

Das macht es auch bei Neuschwanstein schwierig, weil wir viel zur Gewalt in Intimate Partnership Relations forschen, also die Fälle, denen häusliche Gewalt vorangeht und die dann zum Tod führen. Das sind diejenigen Fälle, die dann in die Kriminalstatistik einfließen, auf denen die nationalen und internationalen Reports gründen, wie derjenige, den wir auch in unserem Seminar zusammen vorab besprochen haben und der auch für die Database der UN Women ausschlaggebend war. Man kann sie statistisch einfach besser eingrenzen und interpretieren als Morde im öffentlichen Raum, wo keine Beziehung zwischen Täter und Opfer besteht. Natürlich kann es sich trotzdem dabei auch um einen Femizid handeln. In der intimen Partner- oder Expartnerbeziehung spielen die interpersonalen Konstanten, die man dann soziologisch und psychologisch irgendwie aufarbeiten muss, eine wichtige Rolle. Alles, was außerhalb des Hauses passiert, ist dann schon schwerer statistisch als Frauenmord zu erfassen, weil es dann einfach ein Mord ist.

Was gibt es für Motive bei Femiziden?

Wir haben uns dazu verschiedene Studien angeschaut: Die These ist, dass man mit einem Femizid nicht ein konkretes Individuum töten will, sondern die Frau als solches, weil sie bestimmte Dinge repräsentiert. Bei den Männern ist auf jeden Fall immer ein Faktor totaler Kontrolle über den Oikos, den Haushalt, die Kinder. Auch die ökonomische Seite spielt eine Rolle. Frauen, die ökonomisch abhängig von ihren Männern sind, sind auch viel häufiger betroffen. In allen Studien, die ich kenne, geht es eigentlich um Macht und Kontrolle. Natürlich spielen auch Eifersucht, Rache und der emotionale Faktor eine Rolle, aber das ist zweitrangig, da drüber steht wirklich die Kontrolle über den weiblichen Habitus, der sich im Haus um alles kümmert, aber dem Mann nicht gehorcht und er die Frau deswegen sanktionieren muss.

Die anthropologischen Theorien von Rita Segato sind da am interessantesten, denn sie hat in ihrer ersten großen wissenschaftlichen Arbeit richtige Feldforschung betrieben, ist in die Gefängnisse gegangen und hat mit den Vergewaltigern gesprochen. Für sie ist es die Macht über den Frauenkörper als solches. Das betrifft nicht nur zum Beispiel Ciudad Juárez und die kollektiven Frauenmorde zwischen den Clans und Gangs, in denen es darum geht sein Territorium abzustecken. In diesen Fällen – auch der öffentlichen Zurschaustellung der ermordeten Frauenkörper – ist es ein Ritual. Das andere, was sie in ihrer langjährigen Arbeit herausgefunden hat, ist, dass ein Vergewaltiger immer als Kollektiv handelt: Er stellt sich vor, wie, eine ganze „Bruderschaft“ (fraternidad) hinter ihm steht, während er einen Frauenkörper misshandelt. Bei ihm gibt es nicht ein individuelles, psychologisches Motiv, sondern sie spricht dann von einer Bruderschaft, die dahintersteht und als Kollektiv imaginativ diesen Frauenkörper beherrscht, also im Prinzip kannibalistisch in sich aufnehmen will.

Das ist die anthropologische Theorie, die ich ehrlich gesagt sehr interessant finde, wenn wir von dieser Machtthese ausgehen, denn dies ist der große Urgrund: über den Frauenkörper zu herrschen, der einem ja sowieso unterworfen ist im Patriarchat. Die Männer wollen diese Macht aber noch mal unterstreichen. Denn wir hatten noch nie so viele Menschenrechte wie heute, so viele neue Rechte, auch für Frauen und trotzdem nimmt die Gewalt zu. Vielleicht ist es auch ein dialektisches Spiel: Je sichtbarer wir werden und je mehr Kraft wir haben, desto mehr Macht werden wir auch bekommen – The Empire Strikes Back. Diese anthropologisch-soziologische Komponente finde ich sehr interessant, die würde ich auch weiterverfolgen. Die psychologische muss man dann individuell anhand von Täter-Opfer-Profilen untersuchen: ist es Eifersucht, ist sie fremdgegangen, oder was ist da passiert. Oft jedoch werden gerade in diesen psychologischen Narrativen die Frauenmorde als Beziehungsdrama „getarnt“.

In Deutschland ist ein Femizid keine gesonderte Straftat. Was müsste in Deutschland rein rechtlich passieren, damit sich die Situation verbessern würde?

Josefine, unsere Studentin, wird zu dem Thema Strafrechtsverfolgung noch einen Post machen, weil sie sich da eingearbeitet hat. Die Zahlen sprechen ja für sich, das ist gar keine Frage. Jetzt ist halt das Problem, dass sich die Frauen bei den zuständigen Behörden nicht melden. Und wenn sie sich melden, steht ihnen ein unheimlich großer bürokratischer Aufwand bevor. Dass die Strafverfolgung sehr schwierig ist, hat man allein schon in der #MeToo Debatte gesehen.

Wenn die Justiz da was tun will, dann wäre der erste Schritt, dass Frauenmorde juristisch ganz anders gelesen werden und der bürokratische Vorbau abgebaut wird: All die Hürden, die eine Frau auf sich nehmen muss, um zur Polizei zu gehen und einen ersten Tatbestand überhaupt zu melden. Da weiß ich aus einigen Artikeln zu dem Thema, dass das Monate oder sogar Jahre dauert und bei den Frauen dadurch immer wieder eine Traumata-Rekonstruktion stattfindet. Irgendwann sagen sie dann: „Ich hab‘ kein Bock mehr darauf, zu beweisen, dass der Staat mir hier glaubt, ich weiß, dass ich ein Opfer bin.“ Aber man ist erst dann Opfer, wenn vor Gericht entschieden wird, dass man Opfer ist. Da fängt schon das juristische Problem an, dass diese Täter-Opfer-Benennung erst dann stattfindet, wenn gerichtlich entschieden wurde: Ok jetzt bist du Opfer, weil das Gericht das an den und den Gesetzen entschieden hat. Ich glaube, es sind immer noch Definitionsprobleme.

Die Schaltstelle, um die Definition von der globalen UN-Ebene auf nationale und regionale Ebene zu übersetzen, funktioniert noch nicht, weil jedes Land eine eigene Gesetzesnorm hat. Und was da jetzt getan werden muss: Auf jeden Fall brauchen wir noch viel mehr soziale Bewegungen, noch viel mehr Druck aus der Community auf das System selbst. Die Juristerei, das Rechtssystem wird von sich aus natürlich nichts tun. Wir wissen aus der Geschichte des Feminismus, dass es immer die politisch-sozialen Bewegungen waren, die den Stein ins Rollen gebracht haben.

Unbestritten liegt die Schuld für Femizide bei den Tätern, die Frauen tragen keinerlei Schuld an den Verbrechen. Was können sie dennoch tun, um sich präventiv davor zu schützen, bevor die Politik das Problem konsequent bekämpft?

Das ist eine sehr wichtige Frage, über die ich mir ständig Gedanken mache. Virginie Despentes, eine große französische Schriftstellerin, hat in ihrer King Kong Theorie geschrieben, dass uns im Grunde nichts schützen wird. Wenn wir im Minirock, Flipflops oder kurzem CropTop rausgehen, dann wird es immer dieses Risiko geben, dass wir ungeschützt in eine Falle geraten, aus der wir dann nicht mehr herauskommen und dann passiert etwas Grausames an unseren Körpern. Es gibt da keine Regel, ich bin die letzte die sagen würde: Verhüll dich am besten komplett. Wir wissen ja, auch aus den fünfzehnminütigen „Männerwelten“ moderiert von Sophie Passmann und von Joko & Klaas quasi gesponsert, dass es im Grund egal ist, was du anhast, es kann dir jederzeit passieren. Du kannst ein Pyjama anhaben oder du kannst sexy aussehen, im Grunde gibt es da wenig Schutz.

Das einzige, was jetzt ins Rollen kommt, um vielleicht mal Rammstein ins Spiel zu bringen, sind die Strukturen, die bei Konzerten geändert werden, zum Beispiel After Partys oder die Row Zero zu verbieten. Perfekt, so fängt alles an. Eigentlich ist das das perfekte Beispiel dafür, wie auf großen Festivals und Konzerten Awareness geschaffen werden kann. Zum Beispiel können dort Wagen stehen, wo Frauen sich melden können, wenn etwas passiert ist. Dann funktioniert es glaube ich, dass man von der individuellen auf die kollektive Ebene miteinander in diesen einzelnen Situationen zusammenkommen könnte. Aber ein Grundrezept gibt es leider nicht. Auch wenn man als Frau in einer Gruppe ist, ist man nicht geschützt, das war ja in Neuschwanstein so – selbst zwei Frauen reichen nicht aus, um gegen einen Mann anzukämpfen.

Vielleicht bin ich mittlerweile auch so, dass wenn ich allein unterwegs bin, ich meinen Schlüssel in der Hand hab, den spitzesten von allen, falls doch irgendwas passiert. Pfefferspray oder so habe ich noch nicht, ich habe auch kein Messer in der Handtasche oder sonstiges, auch wenn ich bereits an gefährlichen Orten der Welt war. Ich war in Rio de Janeiro, ich war in Bogota und ich habe versucht mich immer irgendwie anzupassen: Keine Markenklamotten, nichts Auffälliges. Gott sei Dank hatte ich Glück, aber ich kenne auch andere Fälle. Einen optimalen Schutz gibt es nicht, aber man kann vielleicht aufmerksamer als sonst sein, auf seine Umwelt, und unheimlich Abstand nehmen, quasi mit der Intuition eines Tieres eine Gefahrensituation einzuschätzen: Ok, da gehe ich jetzt nicht hin. Aber ich wünschte es gäbe diese eine Formel, die man allen Frauen raten könnte, aber da ist auch jede auf sich allein gestellt und ich würde auch nichts vorschreiben wollen.

Quelle: instagram.com/fight.femicide

Es gibt natürlich Ratschläge und Tipps, dazu haben wir auch einen Post erstellt: „Was kann man machen“. Das muss auch jede Frau für sich selbst abschätzen. Sie muss Mut und Vertrauen in sich selbst haben. Man muss sich in Gefahrensituationen erstmal so verhalten, als hätte man tatsächlich keine Angst: Fühl dich etwas mutiger als du eigentlich bist, sei ein bisschen lockerer, habe trotzdem immer Acht auf die Gefahrenlage, die kommen könnte. Das beste Mittel ist allerdings noch: Immer mit jemandem telefonieren, wenn man allein ist, bis man zuhause ankommt. Das wird sogar in popkulturellen, feministischen Netflix-Serien wie „Valeria“ kommuniziert.

Die politische Rechte sieht in der, ihrer Meinung nach, massiven Migration nach Deutschland einen Grund für Femizide. Wir schätzen Sie das ein?

Du meinst, dass das auch was mit der Asylpolitik zu tun hat? Ich glaub, dass die Medien da wieder für ein bestimmtes Feld ganz viel Aufmerksamkeit schaffen und alle reden darüber. Denken wir zurück an Köln, diese ganze Silvester-Geschichte.

Anmerkung der Redaktion: In der Silvesternacht zu 2016 wurden am Kölner Hauptbahnhof über 100 Frauen beklaut, sexuell belästigt und in einigen Fällen auch vergewaltigt. Laut der Polizei seien die Tatverdächtigen größtenteils nordafrikanischer und arabischer Herkunft gewesen.

Da hatte der „Focus“ dieses Cover herausgebracht, auf dem eine weiße Blondine mit schwarzen Handabdrücken an ihrem Körper gezeigt wurde. Das war das Schlimmste, was Medien hätten ausrichten können, das Schlimmste einfach. Das ist auch wieder so eine Sache, eigentlich müsste das rechtliche Konsequenzen haben. Natürlich gibt es eine gewisse Medienfreiheit, aber das war so plakativ, dass der Rassismus noch mehr angefeuert wurde.

Das FOCUS-Cover zu den Vorfällen in der Silvesternacht 2016. (Quelle: FOCUS)

Das kenne ich aus eigener Erfahrung, eine Ex-Freundin von mir ist Psychotherapeutin in Rosenheim. Sie ist unheimlich wütend gewesen auf alle männlichen PoC in Deutschland, weil sie sich für die Frauenrechte eingesetzt hat und dann ganz schnell eine rechte Mentalität gegen Menschen mit Migrationshintergrund entwickelte. Sie sagte dann auch: „Ich beweg mich da nicht mehr, wo sie sind, weil die einfach ein ganz schlimmes Frauenbild haben und uns hassen“. Leider befeuern die Medien das, weil sie immer wie ein Pferd mit Scheuklappen in eine Richtung, einen bestimmten Diskurs fahren. Ich glaube, dass das Thema Femizide in Deutschland eher wegen #MeToo und zusätzlich #BlackLivesMatter mehr Aufmerksamkeit bekommen hat, das hat sich dann vermischt. Jetzt haben wir die Rammstein Geschichte, die auf jeden Fall viel bewirken wird, auch juristisch, weil man wahrscheinlich sehen wird, wie Rammsteins Anwälte da agieren werden. Dann wird man sehen, wie das System eigentlich von innen heraus schon richtig beschissen ist. Ich glaube, dass das einfach ein globaler Diskurs ist, der jetzt in Deutschland einfach mehr Aufmerksamkeit bekommt, weil hier die Fälle, obwohl sie noch geringer sind als in anderen Ländern, aber gemessen an der Bevölkerung doch relativ hoch, nun in einen Aktivismus übergehen, der immer sichtbarer wird.

Was ist jetzt noch auf dem Kanal geplant?

Das Ganze Projekt geht noch bis Ende Juli, dann ist es erstmal abgeschlossen. Der Kanal bleibt aber am Leben und jeder darf frei posten, was er findet. Ich finde es wichtig, dass das Ganze öffentlich bleibt. Was jetzt noch kommt: Mittlerweile ist unser Post zu dem Gesetz gegen Femizide in Guatemala erschienen, außerdem hat das Team Wissenschaft die psychologischen Faktoren des Femizids aufgearbeitet und gepostet. Empfehlenswert ist auch der Post über den Roman Gestapelte Frauen von der brasilianischen Schriftstellerin Patrícia Melo, die das Justizsystem in Brasilien komplett auseinandernimmt und aus der subjektiven Figurenperspektive über Morde berichtet und sie erzählerisch sehr genau darstellt. Bald werden auch die Posts zur Anthropologin Rita Segato erscheinen, die ich gerade erwähnt habe. Mittlerweile liegt auch ein Buch ihrer Essays über Femizide in deutscher Sprache vor. Wir möchten sie daher noch sichtbarer machen, weil die Diskussion auf akademischer Ebene ja auch sehr eurozentrisch geführt wird. Deswegen finde ich wichtig, dass Rita Segato und ihr Buch noch sichtbarer werden hier in Deutschland.

Vielen Dank, für das spannende Interview Dr. Patricia Gwozdz. Folgt dem Kanal @fight.femicide, um mehr über das Thema zu erfahren!

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