Zweiter Teil eines Gastberichts über die unbegrenzten Möglichkeiten Europas – die wohl doch gar nicht so unbegrenzt sind. Wie länderübergreifende Bürokratie und neuartige Viren die idealisierten Vorstellungen eines binationalen Masters und zweier enthusiastischer Studentinnen erschweren. Von Janina Däuwel und Carla Magnanimo.
Abgesehen von diesem bürokratischen Wahnsinn hatten wir nun wenigstens Zeit für erste Stadterkundungen. In den kleinen Straßen unseres Viertels San Salvario kann man sich leicht verlieren, hier reiht sich Bar an Bar und jede Nacht leben die Straßen. So saßen wir anfangs bei Sonnenschein und 15 Grad auf der Piazza mit unserem 2€ Aperol Spritz und haben das Leben genossen. Pizzastücke gab es bis nach Mitternacht für den wohlwollenden nächtlichen Snack und man musste eher zusehen, wie man bei dem Lärm schlafen konnte.
In der ersten Märzwoche, also unserer zweiten Woche in Turin, entwickelte sich langsam die Situation zu einer Art Krise. Noch scherzten wir über die vermeintliche Grippe und die Panikmache der Italiener_innen. Uns ging es so, wie es wohl gerade vielen jungen Leuten in Deutschland geht. Alles was wir wollten, war draußen sein, Leute kennenlernen und eine tolle Zeit haben.
Vorahnung
Erst als Carla an einem Samstagabend in Mailand saß und die Zeitungen auf einmal verkündeten, dass die Lombardei den Notstand verhängen wolle, wurde uns der Ernst der Lage etwas bewusster. Durch das Durchsickern dieser Information an die Medien ereignete sich eine Art fluchtartige Abreise vieler Italiener_innen in ihre Heimat oder Ausreise vieler Europäer_innen, solange die Grenzen noch offen waren. Auch wir diskutierten hitzig via WhatsApp, wie wir Carla nun zurück nach Turin bekommen würden, bevor sie für die nächsten drei Wochen in Mailand „gefangen“ wäre. Dies war wahrscheinlich der erste Moment, in dem uns ansatzweise bewusst wurde, zu welchem Ausmaß es noch kommen könnte.
Vorläufiger Optimismus
Nachdem es Carla in einer Nacht-und-Nebel-Aktion sonntagmorgens aus Mailand schaffte (und ja, es fühlte sich mindestens so dramatisch an wie es klingt) und wir nun endlich wieder vereint waren und uns keine Gedanken mehr machen mussten, was wäre gewesen wenn…, genossen wir erst einmal die frühsommerlichen 20°C auf dem größten Flohmarkt Turins. Zu diesem Zeitpunkt war Turin und auch Piemonte (die Provinz) noch recht unbedarft. Man hatte zwar die schrecklichen News der Nachbarn (Lombardei) gehört, aber man selbst dachte, so schlimm würde es hier schon nicht werden (Hallo nach Deutschland an dieser Stelle!).
Hallo Realität
Bereits zwei Tage später wurden wir eines Besseren belehrt. Carlas Mitbewohnerin flog zurück nach Deutschland und wurde dort positiv auf Corona getestet. Das war erst einmal ein Schreck, immerhin war sie der erste Mensch, den wir kannten, der wirklich Corona hatte. Auf einmal war das alles sehr nah. Nun hieß es für uns zwei Wochen Quarantäne, da wir in direktem Kontakt mit ihr standen und somit auch Janina theoretisch infiziert sein könnte.
Seit dem 10. März sind wir nun jede für sich, in selbst auferlegter Quarantäne mit unseren jeweiligen Mitbewohner_innen und verlassen das Haus nur zum Lebensmittel einkaufen und um uns eventuell für eine halbe Stunde die Beine im Park zu vertreten. Dies alles passiert natürlich nur unter den inzwischen wohl bekannten Vorkehrungen, also mit mindestens einem Meter Abstand voneinander und keinerlei Berührungen, nicht einmal einer Umarmung zur Begrüßung.
Ungewissheit
Ungefähr 24 Stunden später richtete sich der italienische Ministerpräsident Giuseppe Conte an die Nation und erklärte nicht länger nur die Lombardei und vereinzelte Ortschaften als “red zone”, sondern das gesamte Land! Also war Lockdown a.k.a Ausgangssperre für alle angesagt. Man konnte die ersten Tage eine völlige Massenpanik im italienischen Volk beobachten, da sämtliche Italiener_innen zu ihren Familien flohen und somit die Ausbreitung möglicherweise verschlimmerten. Auch wir saßen nun da. Lockdown. Keine Uni. Keine Sozialkontakte. Isolation. Was für ein Auslandssemester!
Nur wenige können sich womöglich vorstellen, wie krass dieses Gefühl ist. Wir sind es gewohnt, uns völlig frei bewegen zu können. Seit Jahrzehnten gab es nicht mehr solche Einschränkungen und für unsere Generation ist es sowieso unvorstellbar. Wie kann es sein, dass uns die Regierung vorschreibt, wohin wir gehen könnten, wann und vor allem wie viele Leute wir dabei um uns scharen und das obwohl wir in einer Demokratie leben? Unsere emotionale Lage schwankte im 10-Minuten-Takt. „Sollen wir gehen?“, „Sollen wir bleiben?“, „Was wird aus unserem Doppelmaster?“, „Welche Ausmaße erwarten uns?“. All das waren Fragen, die uns quälten. Hieß also auch, dass wir erneut den Mailkontakt zu unseren Dozierenden und Koordinator_innen aufnehmen mussten, um abzuklären, was nun passieren würde und was unsere Möglichkeiten wären.
Hoffnung
Unsere Eltern zu Hause wurden nun auch zunehmend besorgter, was uns die ganze Entscheidung natürlich nicht leichter machte. Es folgten Telefongespräche zwischen uns, die wir eigentlich nur wenige Minuten voneinander entfernt wohnten. Aber es kam uns vor, als würden hunderte von Kilometern zwischen uns liegen. Doch jetzt ist es entschieden. Wir bleiben hier, fürs Erste. Die Situation in Deutschland scheint sich in eine ähnliche Richtung zu entwickeln und wir sind beide noch nicht bereit unser Auslandssemester gehen zu lassen. Die Vorlesungen der UniTo wurden als Videos hochgeladen und wir können diese von zu Hause aus machen, bei den Prüfungen könnte es sein, dass wir persönlich anwesend sein müssen.
Jedoch kann das zu diesem Zeitpunkt noch keine_r abschätzen und aus den E-Mails unserer Verantwortlichen ist leise Verzweiflung und Ungewissheit zu vernehmen. Die ungeklärte Prüfungssituation war ebenso ein ausschlaggebendes Argument in Turin zu bleiben, wie die Ungewissheit einer möglichen Ausreise und die damit verbundene Ansteckungsgefahr. Außerdem ist da noch immer diese leise Hoffnung, dass demnächst zumindest wieder ein Funke Normalität einkehrt und wir zumindest die letzten Wochen hier noch – DRAUßEN – genießen können.
Gelassenheit in der Krise
Vor einigen Tagen wurde ein neues Dekret der Regierung erlassen, wonach alle Parks und öffentlichen Orte geschlossen wurden. Joggen darf man nur noch allein, einkaufen nur noch im Supermarkt in unmittelbarer Nähe. In Veneto, der Region um Venedig, darf man sich nur noch 200 Meter von seiner Wohnung entfernen. Wie dies kontrolliert wird, wurde nicht spezifiziert. Doch auch in Turin fahren immer mehr Polizeiautos mit Blaulicht durch die Straßen und kontrollieren die Menschen. Grund dafür sind die noch immer nicht sinkenden Zahlen der Infizierten und Toten. All dies sind definitiv extreme Maßnahmen. Man fühlt sich von Tag zu Tag mehr eingeschränkt und zu Hause eingesperrt.
Der Ausflug in den Supermarkt ist nun der einzige Kontakt in die Außenwelt und die einzige Möglichkeit sich die Beine zu vertreten. Und doch scheint es, als wäre einkaufen hier trotz allem noch entspannter als in Deutschland. Uns erreichen immer wieder die Nachrichten von extremen Hamsterkäufen. Unsere Eltern, die seit Tagen kein Klopapier oder Mehl mehr bekommen, da die Regale nach einer Stunde komplett leergeräumt sind, berichten von regelrechten Streitigkeiten und Handgreiflichkeiten zwischen Supermarktkund_innen. Menschen, die mit vollen Einkaufswagen mehrmals am Tag einkaufen gehen, damit sie mehr und mehr haben und lagern können, für den da kommenden Ausnahmezustand.
Das ist erschreckend und wirft auch Fragen über unser soziales Miteinander auf. Uns kommt es völlig verrückt vor, hunderte von Packungen Klopapier und Dosentomaten zu kaufen, so dass andere in der Folge tagelang ohne diese Dinge auskommen müssen. Wenn es derzeit etwas gibt in Italien, dann sind es volle Supermarktregale! Und das in dem zurzeit am schwersten betroffenen Land der Welt! Vielleicht müssen wir bald Care-Pakete nach Deutschland schicken, denn in Italien sind Klopapier, Pasta, Mehl und Konserven KEINE Mangelware. Wir können an dieser Stelle auch nur noch einmal an alle appellieren und sagen: Hört auf zu hamstern! Es ist mehr als genug für alle da. Die Zentrallager sind voll. Vorräte für zwei Wochen sind mehr als genug. Denkt auch an eure Mitmenschen. Wir befinden uns alle gemeinsam in dieser Krise und sollten uns auch so verhalten.
Auszeit
Was also tun in all diesem Trubel? Ruhe bewahren. Zu Hause bleiben. Wein trinken und
abwarten. Mehr kann man eh nicht machen. Die Zeit nutzen, um endlich mal die Bücher zu
lesen, die man schon so ewig auf seiner Liste stehen hat. Oder ohne schlechtes Gewissen
den Tag vorm Fernseher verbringen. Ruft Freund_innen und Bekannte an, am besten sogar per Videoanruf, sodass man sich sieht. Zu Zeiten des „Social distancing“ ist es wichtig, seine
Kontakte virtuell zu pflegen, also nutzt den Vorteil der Digitalisierung und verkriecht euch
nicht im Bett, dass macht das Ganze nämlich nicht besser, sonder nur eins: depressiv!
Wie oft beschweren wir uns, dass wir nicht genug Zeit für all die Dinge haben, die wir tun
wollen? Wie oft wünschen wir uns Urlaub, Ferien oder einfach mal ein paar Tage Auszeit?
Es liegt wohl in der menschlichen Natur, immer das zu wollen, was man gerade nicht hat.
Aber wenn wir einfach mal versuchen, das Positive aus dieser Situation zu ziehen, können
wir diesen Ausnahmezustand auch als eine Art dringend notwendige Auszeit sehen und mal etwas für uns tun.
In diesem Sinne, Andrò tutto bene (dt. Alles wird gut), wie die Italiener_innen sagen würden.
Saluti da Torino,
Carla und Janina
Eine Antwort auf „Erfahrung Ausland – Idealisierung trifft Ausnahmezustand! Teil 2“