Die Anfänge der Utopie einer geschlechtergerechte(re)n Gesundheitswelt wachsen und gedeihen seit fast einem halben Jahrhundert in Schöneberg. Das Feministische FrauenGesundheitsZentrum (FFGZ) ist ein Stück zementierte Kulturgeschichte: In dem Gespräch, das ich mit Nina Schernus vom FFGZ geführt habe, geht es um die Historie, Zielsetzung und Wirken an einem Ort der Autonomie und Gemeinschaft. Emanzipation in einem Bereich vorantreiben, der in staatliche Einrichtungen bisher eher ausgeklammert wird: Von Brüsten bis Klitoris, von Vagina bis Uterus oder Work-Life-Balance und Zyklus – fehlendes Wissen rund um und Desinteresse an Frauenkörpern und -krankheiten gibt sich bis heute in Bildungseinrichtungen und Krankenhäusern so wie bei Ärzt:innen die Klinke in die Hand. Anders im FFGZ, da hört Frau zu, da darf sie fragen, lernen, bluten, Wissen tauschen, mit anerzogenem Tabudenken brechen und ohne Scham über Vulvalippen sprechen, sich selbst neu begegnen, Geschichten teilen, Mensch – und am besten auch Feminist:in sein. Oder werden. Von Katja Schubel.
Liebe Nina, du arbeitest beim FeministischenFrauenGesundheitsZentrum (FFGZ), einem gemeinnützigen Projekt mit Sitz in Berlin Schöneberg. In eurem Leitbild heißt es, dass eure Arbeit „auf der Erkenntnis [basiert], dass Gesundheit und Krankheit geschlechtsspezifisch geprägt sind“ und dass ihr euch kritisch mit dem bestehenden Gesundheitssystem auseinandersetzt. Wie bist du zum FFGZ gestoßen und wer gibt dieser Arbeit gegenwärtig ein Gesicht?
Ich war als Sozialarbeiterin und Sexualpädagogin in vielen verschieden Projekten aktiv gewesen, bevor ich beim FFGZ tätig wurde. Hier habe ich begonnen, zusammen mit meiner Kollegin Taina Engineer [Ethnologin und Sexualpädagogin, Anm. d. Rdk.], Angebote für junge Frauen zu konzipieren. Am Anfang stand dabei der Emanzipationsgedanke, der unsere Arbeit im Grundsatz immer leitet. Wir wollten im Wege der Wissensvermittlung gerade bei ihnen ein neues Selbstbewusstsein in Sachen Sexualität, Körper und Psyche aufbauen. Es ging uns darum, ihre Lebensrealitäten einzufangen und abzubilden. Aber vor allem wollten wir da sein und die Fragen beantworten, bei denen sie das Gefühl haben, sich bisher von der Gynäkolog:in nicht gehört zu fühlen oder generell nicht (mehr) zu wissen, an wen sie sich wenden sollen. So ist unsere Workshopreihe „Viva-la-Vulva – Empower yourself! Gesundheitliche Selbsthilfe für junge Frauen“ entstanden, die sich vorwiegend an Menschen in ihren 20/30er Jahren richtet. Es können aber auch Einzelberatungstermin bei mir oder Taina zu den Themen gemacht werden. Diese orientieren sich dabei immer an dem sozialen Kontext und der Situation der jeweiligen Person. Unser ganzheitlicher Ansatz betrachtet den Menschen als Komplex und als Teil der eigenen Umwelt, denn die jeweiligen Lebensumstände produzieren spezifische Stressfaktoren. Das ist wichtig mitzudenken, um eine passende Behandlungsmethode ausfindig zu machen.
Euer heutiges Angebot umfasst u.a. vielfältige Beratungsmöglichkeiten, die sich einem „ganzheitlichen Gesundheitsverständnis“ verpflichtet sehen, wie du es eben beschrieben hast. Wo liegen eure Schwerpunkte und wer lässt sich bei euch beraten? Und: Feminismus ist ja ein sehr weiter Begriff – was ist „feministisch“ an eurer Arbeit? Können sich auch queere Menschen an euch wenden?
Unsere thematischen Schwerpunkte liegen hauptsächlich im gynäkologischen Bereich. Wir beraten und geben Informationsveranstaltungen z.B. rund um die Themen Menstruation und Prämenstruelles Syndrom (PMS), Endometriose, Myome, HPV-Virus und alternative Verhütungsmethoden, aber auch zu gesundheitlichen Folgen von sexualisierter Gewalt im Kinder- und Jugendalter und weiteren Thematiken. Zu uns kommen Menschen aller Altersklassen, die sich von diesen Themen angesprochen fühlen und in den Bereichen Beratungsbedarf haben. Auch wenn unser Zentrum aufgrund der Gründung in der Frauengesundheitsbewegung noch die historische Betitelung FrauenGesundheitsZentrum trägt, sind auf jeden Fall auch queere, nicht-binäre Menschen eingeladen, sich bei Beratungsbedarf zu unseren Themen an uns zu wenden. Eine weitere Adresse könnte für manche aber auch die Casa Kuà sein, ein Gesundheits- und Communityzentrum für trans*, inter* und queere Menschen in Kreuzberg.
Feministisch ist an unserer Arbeit beispielsweise die Parteilichkeit mit den Menschen, die mit ihren Notlagen zu uns kommen. Unsere Arbeit basiert auf der Erkenntnis, dass Gesundheit und Krankheit geschlechtsspezifisch geprägt sind. Das heißt, dass wir uns sowohl auf gesellschaftspolitischer Ebene zu patriarchalen Strukturen im Gesundheitssystem positionieren, als auch zu versuchen, die Ratsuchenden konkret in ihren Belangen und mit einem Fokus auf Selbsthilfe und Selbstermächtigung zu unterstützen.
Was macht die Arbeit beim FFGZ für dich aus?
Das FFGZ besteht aus einem interdisziplinär arbeitenden Team aus Pädagog:innen, wobei wir alle unsere Themenschwerpunkte haben. Das erklärt auch die Breite unseres Angebotes, von Umgang mit den Wechseljahren bis hin zu Bewältigungsstrategien für bestimmte chronische Krankheiten, Periodenschmerzen und Yogakurse. Spannend finde ich für mich an der Arbeit im FFGZ persönlich, dass die älteren Kolleg:innen schon so lange aktiv sind – seit der Gründung in den 80ern. Sie bringen langjährige Beratungsexpertise und die Erfahrung selbst organisierter feministischer Arbeit mit. Wir, Taina und ich, streuen dann unseren jüngeren Blick bei der Projektentwicklung ein und versuchen so die vorhandenen Konzepte weiterzuentwickeln.
Jüngeren Frauen habt ihr mit der Viva-la-Vulva-Reihe ein ganz besonderes Wissenspaket geschnürt: Und zufällig bin ich 25 und weiblich, damit genau die Person, auf die das Format zugeschnitten ist. Was erwartet mich also, wenn ich mich anmelde? Denn das werde ich definitiv tun!
Diese Reihe gliedert sich in drei anderthalbstündige Workshops: Let´s go deeper, There will be blood, Stay healthy. Wir widmen uns mit den Teilnehmenden der klitoralen Anatomie, Körperzeichen und Vaginalgesundheit. Außerdem betrachten wir Verhütungsmittel und Menstruationsartikel, und zwar die wenig besprochenen, häufig unbekannten, abseits des Mainstreams: wie Diaphragma und Portiokappen. Dabei möchten wir auch den kritischen Blick auf gesellschaftliche Körpernormen werfen und die damit einhergehenden (eigenen) Erwartungen an den weiblichen Körper. Für eine vertrauliche Atmosphäre sorgt es, dass die Teilnehmer:innen-Zahl begrenzt ist. So können wir wirklich in den Austausch kommen und bestenfalls werden dann auch die Fragen gestellt, die sich in größeren Gruppen vielleicht nicht getraut werden auszusprechen. Häufig stellt sich dann aber raus, dass fast alle anderen das auch schon mal ratlos zurückgelassen hat oder sie jenes ebenfalls noch nicht wussten. Und: auch wir lernen gern dazu.
Du hast es vorhin schon erwähnt: „Euch“, das FFGZ, gibt es nicht erst seit gestern. Eure Historie schreibt sich offiziell seit dem Jahr 1974. Übersetzt leistet das FFGZ damit seit beinahe einem halben Jahrhundert wertvolle Informationsarbeit, die in staatlichen Schulen und dort verwendeten Lehrbüchern noch immer zu kurz kommt: Bei euch stehen Körper und Psyche der Frau im Zentrum. Wie kam es zu seiner Gründung und welche Entwicklungen hat euer Wirken aus deiner Sicht durchlebt?
In den 70ern gab es eine sehr starke Frauenbewegung, die verschiedene Projekte ins Leben gerufen hat: Das FFGZ ist damals in einem besetzten Frauenzentrum in Westberlin entstanden. Sein Fundament bildeten also die damaligen weiblichen Stimmen, die Gerechtigkeit im Gesundheitssystem forderten. Sie setzten sich zu dieser Zeit vor allem mit Themen wie Schwangerschaftsabbruch und (den Risiken von) Gen- und Reproduktionstechnologien auseinander. Im Vordergrund stand die Kritik an den bestehenden patriarchalen Verhältnissen in und um das Gesundheitssystem. Ein eindrucksvolles Vorbild fand das Unterfangen in den kurz zuvor erblühten Bewegungen in den USA. Dort hatten sich Aktivist:innen in Konflikte um Abtreibungen und die Gesetzeslage für Selbstbestimmungsrechte und freie Entscheidung positioniert. Sie gründeten zudem Selbsthilfe- und Untersuchungskreise, in denen sich Frauen mit dem eigenen Körper beschäftigten und ihr Wissen teilten. Sie setzten sich also mit Spiegel und Spekulum [medizinisches Instrument, vor allem zur Untersuchung von Vagina und Vulva eingesetzt – Anm. d. Redkt.] hin, lernten sich selbst und die Anatomie neu kennen und gelangten – im besten Fall – zu einem positive(re)n Körpergefühl und Selbstverständnis. Schließlich wurden von diesen feministischen Gruppen Räumlichkeiten besetzt, die sie als „woman health center“ bezeichneten. Eines der ersten solcher Zentren war das Los Angeles Feminist Women’s Health Center (LAFWHC). Gegründet wurde es 1972 in den Räumen eines Frauenhauses in Los Angeles. Das erklärt übrigens auch unseren Namen: Inspiriert von den dortigen Entwicklungen wurde auf dieser Atlantikseite versucht, die eigenen Kämpfe an selbiger Strategie orientiert zu führen – wie wir sehen hat das auch hier funktioniert. Seit jeher blieb es unser Motto – „Frauengesundheit in eigener Hand.“ Hilfe zur Selbsthilfe leisten, Frauen zu ermöglichen sich gehört zu fühlen, in einem Gesundheitssystem, das sie ganz oft ohnmächtig zurücklässt und mit dem Gefühl, nicht wichtig genug zu sein oder dass es einfach keine Antworten gebe. Wir hingegen fördern den dynamischen Austausch: sich gegenseitig zu beraten, Erkenntnisse zu teilen, und wir geben Input. Dabei entwickeln wir wie gesagt die Formate weiter, aber im Kern bleibt es dabei: Wir stecken unsere Energie in Enttabuisierung, Empowerment und Emanzipation. Seit 1976 gibt das FFGZ zudem die Clio raus, eine Zeitschrift, in der Fachfrauen aus Wissenschaft, Medizin und Naturheilkunde ihr Wissen teilen. Die allererste Publikation des FFGZ war das selbst verlegte Handbuch Hexengeflüster. Frauen greifen zur Selbsthilfe, das zu einem Bestseller wurde.
Du hast gerade davon gesprochen, dass ihr ein gewisses Gefühl der Ohnmacht im Gesundheitssystem beenden wollt. Was genau meinst du?
Ich greife mir mal das Beispiel „hormonfreie Verhütung“: Viele Menschen, die zu Gynäkolog:innen gehen sind unzufrieden, weil sie das Gefühl haben, nicht aufgeklärt und nicht ernst genommen zu werden. Bei verschiedenen Themen: Menstruation, aber auch wiederkehrende Vaginalinfektionen und bei dem Thema „rund um Verhütung“, wo viele das Gefühl haben, nicht richtig informiert zu werden, was es eigentlich alles gibt – z. B. nicht-hormonelle Verhütung. Deswegen hat das FFGZ schon früh angefangen, Barrieremethoden wie Portiokappe und Diaphragma anzupassen und beizubringen, wie diese benutzt werden. Schon ungefähr seit den 70er Jahren bis heute. Ganz oft werden außerdem Menschen nicht die kompletten Informationen gegeben, die sie brauchen, um gewisse Beschwerden und deren Entstehung zu verstehen. Es fehlt an einer komplexen Betrachtung des jeweiligen Körpers, medizinische Behandlung erschöpft sich in Symptombekämpfung. Viele Stressfaktoren aber, besonders solche, die was mit dem Patriarchat zu tun haben und von geschlechtlich geprägten Machtverhältnissen ausgehen, beeinflussen Frauenleben – mehr noch: Es braucht eine intersektionale Perspektive. Rassismus- oder Antisemitismuserfahrungen strahlen ebenso auf die Psyche und wirken damit auf das Immunsystem oder ähnliches.
Ich erinnere mich, dass ich im Biologieunterricht im Lehrbuch im Bereich Sexualaufklärung und Anatomie keine Abbildungen von Vulva und Vagina oder der Klitoris vorgefunden habe. Euer Motto lautet ja „Frauengesundheit in eigener Hand“. Welche Rolle spielt solche (fehlende) Bildung in Sachen Selbstbestimmung und für die eigene Gesundheit?
Ich finde es fatal, dass es diese Abbildungen und Aufklärungen nicht gibt und dass sich die Folgen davon in unserer Arbeit zeigen und dass sich diese Ohnmacht daraus speist, dass es diese Unwissenheit gibt – weil, wenn ich nicht weiß, wie Bereiche meines Körpers aussehen oder aufgebaut sind –
Oder heißen –
Ja. Dann fehlt es mir an Selbstbewusstsein auf mein Gefühl zu vertrauen und externe Informationen irgendwie auch nur ansatzweise zu hinterfragen. Ich fühle mich den Aussagen von Ärzt:innen ausgeliefert, nehme sie an. Vor allem im Kontext von Menstruationsbeschwerden – Schlagwort Endometriose – da ist tatsächlich diese Unsicherheit und Konfrontation mit dem Gesundheitssystem etwas, das dazu führt, dass diese Krankheit viel später bemerkt wird als dies nötig wäre (etwa mittels Bauchspiegelung). Und es handelt sich ja auch um eine Krankheit die viele Menschen, die sie haben, deutlich in ihrem Alltag beeinträchtigt – mit Folgen für Bildung und Beruf. Wenn ich immer wieder ausfalle, dem machtlos gegenüberstehe, dann hat das Folgen für die Psyche, auf den mentalen Gesundheitszustand und die Qualität zwischenmenschlicher Beziehungen. Viele Beschwerden haben und darin oft nicht ernst genommen werden: Da bleibt ein Gefühl des Ausgeliefertseins gegenüber dem eigenen Körper und dieser Wissenshoheit. Das meine ich mit Ohnmacht. Und die Krankheit ist mit dem momentan gegebenen Mitteln zwar nicht heilbar, aber Beschwerden können gelindert werden! Und in manchen Fällen helfen auch OPs, usw.
Da hast du mich erwischt: Was ist denn Endometriose überhaupt?
Es handelt sich um Schleimhautwucherungen außerhalb des Uterus, die sich zyklisch aufbauen und Beschwerden verursachen können, beispielsweise starke Schmerzen. Die Schleimhaut, die sonst zyklisch auf- und wieder abgebaut und mit der Menstruation abgetragen wird, kann – da außerhalb der Gebärmutter – nicht einfach abgeblutet werden und bereitet dann Schmerzen.
Im Lehramtsstudium arbeiten Studierende teils mit veralteten Materialien, die den weiblichen Köpern und Bedürfnissen wenig bis keine Aufmerksamkeit schenken. Lehrer:innen im Bereich Biologie müssen sich dann spätestens vor einer Klasse Gedanken dazu machen, wie sie ihren Unterricht etwa in Bezug auf das Vorstellen von Verhütungsmitteln, über das Erwähnen der Pille mit ihren vielen Nebenwirkungen und Kondomen gestalten. Welche Literaturempfehlungen oder Hinweise hättest du für sie?
Die Publikation Frauenkörper neu gesehen ist eine gute Grundlektüre – auch von den Abbildungen her – um sich mit Anatomie und Körperfunktionen auseinanderzusetzen und zwar auf eine Weise wie man es vielleicht im Studium nicht tut. Auch die Modelle und Zeichnungen von vielma.at sind klasse!
Zum Schluss darf ich dir noch berichten, dass die Universität Potsdam als erste Hochschule in Brandenburg seit diesem Jahr auf einigen Toiletten Periodenartikel zur Verfügung stellt, also solche Hygieneprodukte, die menstruierende Personen benötigen. [PeriodUP] Die Kosten für die Befüllung und Reinigung werden derzeit zu gleichen Teilen von der Hochschulleitung und dem Studierendenparlament getragen. Die Anschaffung der Spender übernimmt das Koordinationsbüro für Chancengleichheit. Ist Periodenarmut, die damit institutionell bekämpft werden soll, bei euch Thema?
Ja und Nein. Periodenarmut ist ein politisches Thema für uns – und dadurch, dass wir uns auch als politischen Ort begreifen, setzen wir uns auch mit Periodenarmut auseinander. Menschen die zu uns kommen, sind nicht unbedingt von Periodenarmut betroffen, aber wenn wir Workshops geben, geben wir die auch für Menschen in prekären Lebenssituationen. Und da fällt auf, dass Periodenarmut ein Thema ist und dass generell das Thema der Periode in der Lebensrealität vieler Frauen noch ein Tabuthema darstellt und damit etwas problematisches hat: Beschwerden, über die nicht gesprochen werden darf, Einschränkungen im Alltag, negativer Bezug zur Periode. Nicht nur bei Frauen in prekären Lebenssituationen, aber da fällt es mir besonders oft auf, dass sie mit dem Thema ganz schön alleine gelassen werden.
Umso dankbarer bin ich, dass es euch gibt, die ihr Ohnmacht und Alleinsein beendet – und dem System mit Kritik und einer Perspektive die Stirn bietet. Wundervoll, dass du dir die Zeit genommen hast, Nina!