In den 1970ern Jahren hatte die US-amerikanische Zulassungsbehörde FDA Frauen im gebärfähigen Alter verboten, an Phase-I und Phase-II Studien für Medikamente teilzunehmen. Die Folgen der Gender-Data-Gap werden über Jahrzehnte vor allem bei Herzmedikamenten in schwerwiegenden Nebenwirkungen sichtbar. Und trotz einer US-Richtlinie, welche dieses Problem vermeintlich lösen sollte, zeigt sich auch heute noch: Es hat sich kaum etwas geändert. Von Anna Maria Faust.
Das Problem der Gender-Data-Gap beginnt bereits bei kleinen Mäusen in Laboren. 80% der präklinischen medizinischen Forschung wird an männlichen Mäusen vorgenommen, welche sich in mehr als der Hälfte der körperlichen Eigenschaften, wie beispielsweise Knochendichte, von den weiblichen Mäusen unterscheiden. Die Gründe hierfür sind einfach: Zum einen sind männliche Mäuse deutlich günstiger und zum anderen haben sie keinen Zyklus, welcher die Testergebnisse beeinflussen könnte.
Auch für die Medikamententests an Menschen finden wir eine ähnliche Argumentation vor. Der weibliche Zyklus ist Grund dafür, warum bis heute kaum Frauen an medizinischen Test teilnehmen dürfen. Die Hormonschwankungen würden das Auslesen der Ergebnisse verkomplizieren und Risiken für die Gebärfähigkeit könnten entstehen. Die Sparsamkeit an eben solchen Tests und Studien zeigt sich immer wieder in verheerenden Folgen für die weibliche Gesundheit, denn die Nebenwirkungen von Medikamenten sind bei Frauen rund 50% höher.
Das tödliche Medikament
Digoxin. Gewonnen aus dem Wolligen Fingerhut soll dieses Medikament seit mehr als 200 Jahren bei Herzschwäche sowie Herzrhythmusstörungen von Patient:innen helfen. 2002 wurde eine DIG (Digitalis investigation group) -Studie eingeleitet, welche die Gesamtsterblichkeit von Patient:innen mit Herzinsuffizienz und linksventrikulärer systolischer Dysfunktion in Verbindung mit dem Medikament untersuchen sollte. Über einen Zeitraum von 37 Monaten wurden 6800 Proband:innen (darunter viermal so viele Männer wie Frauen) mit Digoxin oder Placebo behandelt. Zunächst ließen sich keine Zusammenhänge feststellen, erst eine Subgruppenanalyse, welche geschlechterspezifisch untersuchte, führte zu einem schockierenden Ergebnis: Während die Sterblichkeit der Männer unter Digoxin sich um 1,6% verringerte, stieg sie bei den Frauen um 4,2%. Das vermeintliche Herzmedikament verkürzte also das Leben der Frauen, was bis zu dieser Studie niemandem bekannt war.
Auch die Untersuchung von Amerikas beliebtestem Schlafmittel Zolpidem führte zu ähnlich lebensgefährlichen Ergebnissen. Während nur noch 3% der Männer acht Stunden nach der Einnahme einen riskanten Blutspiegel über 50 ng/ml aufzeigten, waren es bei Frauen 15%. Die daraus resultierende Müdigkeit wird von Betroffenen oftmals nicht aktiv wahrgenommen und als „Hangovereffekt“ bezeichnet. Der Hangovereffekt des Medikaments beeinträchtigt die Fahrtüchtigkeit extrem und führte statistisch zu vermehrten Autounfällen bei Frauen am Tag nach der Einnahme. Nachdem die Nebenwirkung des Zolpidem bekannt wurde, gab es 2011 erstmals unterschiedliche Dosierungsempfehlungen für Männer und Frauen. Das FDA empfiehlt Frauen trotzdem, am nächsten Tag nicht hinter dem Steuer zu sitzen.
Übersehene Symptome
Aus dem Deutschen Herzbericht geht jährlich das gleiche hervor: Männer erleiden häufiger einen Herzinfarkt, doch Frauen sterben öfter daran. Von den in Deutschland an Herzkrankheiten verstorbenen Menschen sind 45,9% Männer und 54,1% Frauen. Doch der Grund dafür liegt schlicht darin, dass der weibliche Herzinfarkt nur allzu gerne aus Mangel medizinischer Schulungen übersehen wird. Während Männer sich bei einem Herzinfarkt an die Brust fassen, stehen Brustschmerzen bei der Frau eher im Hintergrund. Hauptsymptome sind Übelkeit, Schweißausbrüche oder Erschöpfung. Da eben diese unspezifischen Symptome erst später erkannt werden, kommen Frauen durchschnittlich eine Stunde später mit einem Herzinfarkt ins Krankenhaus und erliegen diesem deshalb häufiger.
Eine weitere, übersehene Krankheit ist die Endometriose. Schätzungsweise 15% aller Frauen zwischen 15 und 45 Jahren leiden an der am weitesten verbreiteten gutartigen gynäkologischen Erkrankung, bei welcher die Gebärmutterschleimhaut sich außerhalb der Gebärmutter ansiedelt. Und trotzdem dauert es häufig länger als sieben Jahre bis die Krankheit diagnostiziert wird. Grund dafür ist gewiss auch die gesellschaftliche Stellung gegenüber der Periode, denn Schmerzen seien ja schließlich normal und nicht besorgniserregend. Zusätzlich ist für eine Diagnose auch eine Bauchspiegelung mit Gewebeentnahme notwendig. In den meisten Fällen wird diese Krankheit deshalb erst entdeckt, wenn die betroffene Patientin keine Kinder mehr bekommen kann.
Wann kommt die geschlechterspezifische Medizin?
Noch immer geht es im Bereich der geschlechterspezifischen Medizin nur langsam voran. 1994 führte die USA bereits eine Richtlinie ein, welche auch Frauen in medizinische Forschung einbeziehen sollte und zusätzlich eine erste Studien im Bereich der Gendermedizin. 2014 ging das National Institutes of Health (NIH) sogar soweit, dass bei zukünftigen Forschungsprojekten mit Tierversuchen beide Geschlechter eingeschlossen werden müssen.
Auch in der Europäischen Union tut sich etwas: Immer mehr Schulungen finden ihren Platz in der Ärzteschaft und auch Universitäten bieten einzelne Module zur geschlechterspezifischen Medizin an. 70,4% der medizinischen Fakultäten in Deutschland lehren die Studierenden nach einer Umfrage des Deutschen Ärzteblattes jedoch immer noch unzureichend die Geschlechterunterschiede bei Krankheiten und Symptomen.
Aber in Europa ist Hoffnung am Horizont: Anfang dieses Jahres ist eine Verordnung aus 2014 in Kraft getreten, nach der alle Proband:innen, welche an einer Studie teilnehmen, repräsentativ für die Bevölkerung sein müssen – unabhängig von Geschlecht und Alter. Gewiss werden die Forschungen nun länger dauern und kostenaufwendiger sein, jedoch ist dies ein geringer Preis für das Recht der Frauen, auf wirksame medizinische Behandlung.