Sinnika – Eine Kurzgeschichte

Durch Lesen kann man in neue Welten eintauchen. (Foto: pixabay.com)
Sinnika ist tot. Nie wieder werde ich sie sehen. Nie wieder werde ich sie in den Arm halten. Sinnika ist weg. Ohne Abschied. Ohne letzte Worte. Wann habe ich sie zum letzten Mal berührt? Wann habe ich ihr das letzte Mal in die Augen geschaut? Wann habe ich ihr ein letztes Mal „ich liebe dich“ gesagt? Alles zu spät. Alles jetzt vorbei. Von Nouran Elmaraghi
Sinnika wachte aus ihrem Schlaf auf. Neben ihr lag der Roman. Sie musste wieder zur Bibliothek, um ihre Präsentation vorzubereiten. Diese war in drei Tagen. Aber wie könnte sie nun diese Fragen beantworten: Was ist mit der Protagonistin im Roman passiert? Ist sie gestorben? Ist sie weggelaufen? Hat sie sich wirklich das Leben genommen? Oder kannte sie endlich ihren Wert und hat ihn verlassen? Zu viele Fragen. Und die Antwort?
“Du musst abtreiben!”, sagte er ihr mit einem kalten Ton. Aber… sie wollte es behalten. Das war auch ihr Baby. Jahrelang fühlte sie sich einsam und endlich: endlich hat sie die Chance, jemanden an ihrer Seite zu haben. “Entscheide dich. Entweder das Baby. Oder ich”. 
Die Schlange war lang. Um die Uhrzeit war die Mensa immer voll. An diesem Tag gab es Salzkartoffeln mit Quark, Eier in Senfsauce sowie Lachsfilet und Wedges. Typisches Essen in der Mensa. Sinnika hatte einen dunkelblauen Rollkragenpullover und weite Jeans an. Blau war ihre Lieblingsfarbe. Diese passte zu ihrem Namen, denn Sinnika bedeutet blau auf Finnisch. Er setzte sich zu ihr und streichelte ihre Hand mit seinem kleinen Finger. Sie ließ es zu.
„Was hatte ich an?“, fragte sie. „Dein blaues Kleid“, antwortete er. Sie lächelte. „Dann ziehe ich es an und wir treffen uns vor dem Fahrstuhl“. Sie legte auf. Zum blauen Kleid hatte sie kleine silberne Ohrringe und glitzernde silberne Schuhe an. Aufgeregt?
„Du weißt doch, Frauen machen erstmal gedanklich Schluss“, dachte sie. Er konzentrierte sich auf sein Handy. Sinnika war tief in Gedanken versunken. Den Roman hatte sie in der Hand. Was ist mit der Protagonisten passiert? Schafft sie ihre Präsentation?
Sie zögerte. Wahrscheinlich war es zu früh, ihre Hand zu halten. Im Fahrstuhl küssten wir uns. Lange und intensiv. Und später waren wir in meiner Wohnung und sie hat die Nacht bei mir verbracht. Sie war hübsch, aber komisch. Nah und gleichzeitig distanziert. 
Hier sind wir mal gelaufen. Hand in Hand. (Foto: pixabay.com)
Es war windig. Aber Sinnika war zu abgelenkt, um den lauten Wind überhaupt hören zu können. Sie war in Gedanken versunken. Hier sind wir mal gelaufen. Hand in Hand. Wir haben viel gelacht. Er wollte mich küssen, aber ich habe ihn geärgert und bin weggelaufen, damit er mir hinterher rennt. Ich hatte mein rotes Kleid mit den kleinen weißen Punkten an. Er konnte mich fangen und seine Augen schauten mich liebend an. Es war der perfekte Moment, uns zu küssen. Genau hier. Genau an dieser Stelle.
„Distanziert? Ich war mit Freunden. Denkst du, ich unterbreche unsere Gespräche, um mir dein ständiges Heulen anzuhören?“. Sie weinte. Ich bin krank! Warum verstehst du das nicht? Leider habe ich nur dich. Wen soll ich denn sonst anrufen? Das habe ich mir doch nicht selber ausgesucht. 
Für die Präsentation hatte Sinnika nur noch einen Tag Zeit. Sie legte den Roman zur Seite. Es war zu kalt draußen. Es hatte geschneit. Sie beobachtete die fallenden Schneeflocken und dachte nach. Er kam rein und setzte sich zu ihr. Beide blieben still.
“Es ist doch das, was du wolltest”, schrie sie voller Verzweiflung. Seine Stille schaffte es immer, ihr Herz langsam zu reißen. Sie meinte: “Du sagtest wortwörtlich, dass du nichts mehr mit mir zu tun haben willst. Du hast mein Herz gebrochen! Dann bin ich verschwunden. Ja, ich gebe es zu, ich bin verschwunden. Aber warum sollte ich dir sagen, wo ich bin, wenn du mich nicht mehr willst? Bin ich jetzt schuld, weil ich dir deinen Wunsch erfüllt habe? Du wirst es jetzt nicht umdrehen, ich lasse es nicht zu!”. Sie verließ den Raum und knallte die Tür hinter sich zu.
Neben dem Roman stand noch eine kalte Tasse Kaffee […]. (Foto: pixabay.com)
In Sinnikas Raum lag der Roman. Die Präsentation rückte immer näher. Neben dem Roman stand noch eine kalte Tasse Kaffee und eine Club Mate. Ihre Lern-Musikplaylist lief im Hintergrund. Auf dem runden Nachttisch gab es noch einen kleinen Zettel und zwei Stifte. Das nächste Lied auf der Playlist war “Still got the Blues” von Gary Moore.
Sinnika ist tot. Hat sie meinen Text gefunden? Konnte sie meine Gedanken lesen? Vielleicht wollte ich das. Sinnika ist tot. Nie wieder werde ich sie sehen. Nie wieder werde ich sie in den Arm halten. Habe ich sie nicht wertgeschätzt? Sinnika ist weg. Ohne Abschied. Ohne letzten Worte. Nicht mal einen Abschiedsbrief hat sie hinterlassen. So einfach war es für sie, zu gehen? Wann habe ich sie zum letzten Mal berührt? Wann habe ich sie das letzte Mal in die Augen geschaut? Wann habe ich ihr ein letztes Mal „ich liebe dich“ gesagt? Habe ich sie geliebt? 
Es war der Tag der Präsentation. Was ist mit der Protagonistin passiert? Wer ist die Protagonistin? Ist sie gestorben? Ist sie weggelaufen? Wieder zu viele Fragen. Und die Antwort? Der Roman liegt auf Sinnikas Nachttisch. Oder hast du auch eine Kopie?

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