Recht ist politisch: Manche Selbstverständlichkeiten können nicht oft genug wiederholt werden. Rechtsnormen sind keine feststehenden Gitterstäbe, sie sind Ergebnisse von Entscheidungen. Gesellschaftlicher Druck kann sie biegen – aber auch in die falsche Richtung. Der Besuch des „Juristischen Salons“, einer neu geborenen Veranstaltungsreihe von und mit Professor Dr. Schladebach, führte dies vor Augen: Im Gespräch mit Gregor Gysi wurde am Mittwoch, dem 23. Oktober, der Wert der Verfassung beleuchtet. Von Katja Schubel.
Gregor Gysi ist Generalist. Dies wird er in wenigen Minuten selbst feststellen, während hinter den großen Scheiben des Hörsaals 03 am Campus Griebnitzsee ein angenehmer Herbsttag allmählich in die ihm nachfolgende Nacht fällt. Noch aber ist es hell draußen, ebenso wie hier im Saal; wo sich gerade das anfängliche Stimmengewirr nach einem letzten krassen Crescendo abrupt ins Gegenteil verkehrt: All eyes on Gysi, alle Augenpaare hängen schon wenige Atemzüge später schweigend an den Lippen des Rechtsanwaltes. Warum der an diesem schlichten Mittwochnachmittag so viele junge Studierende angezogen hat, weiß er selbst nicht so richtig, dies stellt er ganz zu Anfang klar.
Zumindest habe er die Krawatte gleich zu Hause gelassen, sie sei ihm nicht angemessen erschienen. Sein Gesprächspartner hingegen trägt eine, denn – das muss Gysi kurz vergessen haben – wir befinden uns in einer Juristischen Fakultät. Und Ordnung ist hier nicht nur das halbe Leben: Mitunter kommen auch Studierende selbst in Anzug daher. Während ich diesen Gedankengang beiseiteschiebe, tänzelt Gysi bereits seine Biografie entlang und landet mit einer Pirouette in der Beschreibung seines Weges ins Rechtsstudium. Mehr geschlittert als gelaufen ist er diesen, eine Verlegenheitsentscheidung sei es gewesen, ohne schnur-stracksen Richtungswind. „Jurastudium ist eines für Doofe“, so habe ihm das die Mutter einer Schulkameradin erklärt. Und dieser Satz, so betont Gysi, der habe ihm imponiert.
„Vernachlässigen Sie nicht die Kultur!“
Heute, Ende Oktober 2019, sitzt er also hier auf diesem Podium. Hoch oben über seinem Kopf an die Wand projiziert ein Polilux das Bild der Justitia, darunter steht in schwarzen Buchstaben „Juristischer Salon – Über Rechtspolitik“. Organisiert hat das Zusammentreffen Jura-Professor Dr. Schladebach, der im Sessel neben Gysi im Lichte der Aufmerksamkeit der Anwesenden badet. Der 70-jährige Stargast erklärt derweil gerade (ungefragt) ihm und den Zuhörer*innen, warum er kein Experte sei. Expert*innen hätten so viel Ahnung zu einem Thema, zu viel, sodass sie es nie erklären könnten. Er hingegen könne immer reden, zu allem. Genau das weiß das Publikum, die wir hier zu dreihundert sitzen, und ja, das auch und gerade an einem schlichten Mittwochnachmittag. Denn Gysi ist schließlich nicht nur Generalist, wie eben beschrieben, sondern Rechtsanwalt, Linke-Politiker und allen voran: Sympathieträger.
Und heute redet er mit Augenzwinkern nicht nur darüber, wie er zum Juristen wurde oder weshalb zu ihm leider nur Menschen kommen, die (Rechts-)Probleme haben. Es geht um mehr, so wird er unter anderem folgenden Ratschlag äußern: „Vernachlässigen Sie nicht die Kultur. Erweitern Sie die Lebenssicht, besuchen Sie das Theater“. Dies ist sein Rat an uns Jurastudierende, die wir uns so leicht im Bibliotheksgrau kleiden. Denn, so sagt er und wippt dabei aufgeregt in dem schwarzen Sessel auf und ab, der Zeitgeist wirke sich natürlich (dieses Wort zieht er dabei in die Länge) auf das Recht aus. Und Zeitgeist sei nun mal kulturgeprägt. So etwa habe ihn die 2017 erfolgte Änderung des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) zugunsten der gleichgeschlechtlichen Ehe gefreut, dies sei wenige Jahre früher undenkbar gewesen.
Nichts gelernt (außer vielleicht Pflichtstoff): Wer nach der Wende Wände will
An und für sich wird Gysi an diesem Abend noch einige weitere kluge Erkenntnisse äußern, nicht zuletzt auch diese: „Das Verwaltungsrecht, wollte ich Ihnen nur sagen, ist etwas Merkwürdiges“. Die Jurastudierenden im Saal scheinen einhellig seiner Meinung zu sein, ich beobachte zustimmendes Nicken und bemerke leicht gekräuselte Mundwinkel, nicht nur bei mir selbst. Vielleicht liegt dies daran, dass er diese Merkwürdigkeit einem Professor gegenüber äußert, der seine Zeit sehr gern dem Verwaltungsrecht widmet. Mitunter auch deshalb, weil es sich hierbei um eine besonders trockene Rechtsmaterie handelt, so trocken, dass allein der Gedanke an eine Vorlesung zu bröseln anfängt. Womöglich ist es eine Mischung aus beidem. Gysi jedenfalls spielt darauf an, dass er schon Verwaltungsrechtsfälle gewonnen habe und wieder andere verloren. Warum das eine oder andere geschehen sei, genau das werfe ihm ein Rätsel auf.
Strafrecht und Zivilrecht hingegen findet er spannend; dies wären die Gebiete, denen er sich heute vertiefend widmen würde, gebe es die Möglichkeit eines „Nochmals“. Aber sein Studium ist viele Jahre her, damals noch zu DDR-Recht: Er verliert sich hier kurz in Einzelheiten, findet sich aber schnell in der Gegenwart wieder. Heute, in einem Land ohne Mauer, sei es auch wichtig, mal die Rechtssysteme anderer Länder kennenzulernen. Gysi plädiert für ein Auslandsjahr, das Augen öffne – für die Genialität der eigenen und diejenige einer fremden nationalen Rechtsordnung, dem juristischen Voneinander-Lernen. Doch, so weist der Politiker beinahe mit Sorgenfalte in dem so jung gebliebenen Gesicht hin, mache ihm die Entwicklung Sorgen. „Orbán, Erdogan, Trump,…“: Er reiht die Namen aneinander, die so unweigerlich den gegenwärtigen Rechtsruck in der internationalen Gemeinschaft nachzeichnen; wie AfD-Zitate nach 1933 schmecken können.
Die Erfahrungen der Nazizeit haben die Entstehung des Grundgesetzes beeinflusst, darauf wird er weiterhin verweisen, welches am 23. Mai 2019 sein 70. Jubiläum feierte. Soziale Grundrechte, dies hebt der Linke hervor, seien aber nicht enthalten: Stattdessen kann er nur Art. 20 I GG zitieren; der etwa von sozialem Staat „spricht“. Aber so etwas wie ein Recht auf Wohnen etwa? Fehlanzeige. Die Wohnung an und für sich ist geschützt, so fährt Gysi fort, widersprüchlicher Weise aber kein Recht auf Wohnen. Dies sei jedoch leicht nachzuvollziehen, angesichts der Verfassungshistorie: Gewachsen aus den Erfahrungen des dritten Reichs lag es den Grundgesetzmüttern und –vätern daran, die politischen Rechte zu stärken. Soziale Rechte sind explizit nicht geregelt, also zu kurz gekommen.
Nach diesem ebenso kurzen Ausflug in die Geschichte landet das Gespräch – und es kam, wie es kommen musste – bei der SPD. Ihrem Versagen, ihren Problemen: „Ich werde jetzt gar nicht mit den falschen Entscheidungen während des ersten Weltkrieges anfangen“, erklärt der Generalist überraschend lakonisch. An dieser Stelle schweifen meine Gedanken ab, weil schon so viel zu der SPD gesagt wurde, in letzter Zeit – und doch alle irgendwie einer Meinung sind. Die SPD hat nicht viel richtig gemacht und ist nun auf der Suche nach ihrem Gesicht.
Aber, denke ich, es ist schön hier zu sitzen und über Politik zu reden. Und es ist schön, dass dieser Hörsaal voll ist. Und dies, obwohl es sich nicht um Pflichtstoff handelt. Und obwohl es mit Sicherheit noch ganz, ganz viel zu tun gebe: Schließlich studieren wir alle Jura. Und wenn das kein Studium für Doofe ist, dann zumindest für Leute mit viel Zeit. Zeit in Bibliotheken, die nicht mit philosophisch anmutendem Denken gefüllt wird. Sondern stupidem Auswendiglernen. Es geht um das kritiklose Hinnehmen menschengemachter Paragraphen. Hinnehmen von starren Gesetzesstrukturen. Hinnehmen dessen, das in den wenigen Semestern zu wenig Zeit bleibt, um ins Gespräch mit Justitia zu kommen. Auch heute schweigt die einzige Frau auf dem Podium nur. Aber immerhin hängt sie ein bisschen ab mit uns – und jedenfalls sitzt da heute überhaupt wer und redet mal über den Wert der deutschen Verfassung.
Rechtsruck: Eine Tragödie mit Wiedererkennungswert
Hinter den Scheiben ist das Tageslicht verschwunden. Und als Gysi fragt, ob Abschottung wirklich die Antwort auf die gegenwärtigen Probleme und sozialen Fragen sein kann, unterstreicht das Schwarz der Nacht den rhetorischen Klang. Das Jurastudium kann so furchtbar farblos sein. Aber heute keimt da ein Hoffnungsschimmer in mir auf. Das Jurastudium kann lernen: Die Jagd nach dem Freischuss darf nicht alles sein. Mitunter bilde ich es mir ein, aber an der Wand über dem Podium fängt eine Frau an leise zu lächeln. Nur ganz kurz. Und plötzlich klatscht der Saal. Unruhe, Menschen drängen sich vorbei, das Gespräch hat ein Ende gefunden. Es war ein schöner Ausflug in wichtige gegenwärtige Fragen (ohne allzu konservativen Beigeschmack).
Kurz haben Justitia und ich vergessen, dass die Geschichte sich zu wiederholen droht: Die AfD fällt mit Sicherheit(-sanliegen) durch die Hintertür. Wir müssen vorsichtig sein, auf unsere Verfassung aufpassen. Art. 18 GG macht die deutsche zu einer wehrhaften Demokratie, nicht ohne Grund. Selbstschutz ist das Gebot der Stunde. Gesellschaftliche Verantwortung will gelernt sein. Und sie lernt sich nun mal leichter, wenn der (juristische) Pflichtstoff (maßvoll) schweigt. Die Rechtsrucktragödie ist kein Stück, das irgendwer sehen will – aber wenn wir nicht denken, werden wir dafür zahlen. Das ist Tatsache – und es verhält sich diametral zu der Art von Kultur, die Gysi gemeint hat. Um den Zeitgeist zu retten, müssen wir mehr als laute Pflichtstoff-Held*innen sein… Um Konstantin Wecker zu zitieren: „Sage Nein!“.
Die Autorin ist im Aktionskreis kritischer Jurist*innen Potsdam (AKJ Potsdam) aktiv: Dieser freut sich immer über neue Gesichter. Falls ihr auch Lust habt, kritisch Recht in angenehmer Gruppenatmosphäre zu hinterfragen: https://potsdamakj.wordpress.com/wirueberuns/