»Geschichte« als Möglichkeit zur Identifikation mit den eigenen Wurzeln

Wir sind von „Geschichte“ umgeben. St. Johanneskirche in Brandenburg an der Havel (Foto: Roland R. Maxwell).

Warum beschäftigen wir uns mit Geschichte? Welchen Sinn verfolgen wir damit? Was hat das mit Identität zu tun? Unser Autor geht diesen Fragen auf den Grund. Von Roland R. Maxwell.

Erst kürzlich saß ich in einem Seminar mit dem Thema „Die extreme Rechte im geteilten und vereinten Deutschland“, dort kamen wir zu durchaus interessanten Fragen: Warum sind „Rechte“ eigentlich so „geschichtsbesessen“? Warum begeistern sich so viele „Rechte“ so sehr für Geschichte? Es wurden viele Sachen in den Raum hineingeworfen, eine kleine Auswahl: Rechte denken in „langen Linien“, sie sind fasziniert von Krieg, Kampf und Militär, sie suchen sich eine „stichhaltige“ argumentative Basis für ihre „Propaganda“, sie wollen Dinge herleiten und verorten und rechtfertigen, sie erzählen sich gerne Helden- und (gleichzeitig auch) Opfergeschichten.
Da ich sehr schüchtern und unfähig bin, meine Gedanken korrekt an mein Sprechorgan zu übersenden (das Gedachte kommt in der Regel als eine Mischung aus Gestotter und Genuschel heraus), habe ich mich entschieden, meine Gedanken zu diesem Themenkomplex auf Papier zu verfassen.

Wer beschäftigt sich mit Geschichte?

Darüber kann man noch eine größere, allgemeinere Frage stellen: Warum beschäftigen wir uns überhaupt mit Geschichte, mit der Vergangenheit, mit dem „eigentlich längst Abgeschlossenen“? Denn – das tun ja nicht nur „die Rechten“ und Nationalisten. Wir alle tun es auf die eine oder andere Art. Egal, ob wir uns zu den Kommunisten, den Sozialisten, den Liberalen, den Konservativen, den Grünen oder den Sozialdemokraten zugehörig fühlen. Ob wir nun Christen (da spielt es keine Rolle, ob katholisch, protestantisch oder orthodox), Juden, Muslime, Buddhisten, Shintoisten oder Hinduisten sind. Ob wir uns in der BRD, in den USA, in Ungarn, in der Ukraine oder in der ehemaligen DDR und UdSSR befinden. Ob akademisch oder als Privatmann. Wir denken alle in „langen Linien“, konstruieren uns Geschichtsnarrative, picken uns die Details aus, die uns passen, erzählen uns Helden- und Opfergeschichten.
Die Linken (insbesondere die Marxisten) schwärmen von der Ära der UdSSR, der Pariser Kommune und den Räterepubliken (ganz zu schweigen von den vielen „Heldenfiguren“ wie Lenin, die russischen Sozialrevolutionäre, Stalin, Che Guevara, Fidel Castro, die Kämpfer des Anti-Kolonialismus, die „antifaschistischen“ Partisanen im Zweiten Weltkrieg; nicht zu vergessen die unzähligen „Opfererzählungen“ – Opfer der Reaktion, des Faschismus, des Kapitalismus etc.) und verorten die Idee des Gemeineigentums bis in die Zeit der Jäger und Sammler zurück. Gerd Koenen hat in seinem (eher anti-kommunistischen) Mammutwerk „Die Farbe Rot – Geschichte und Ursprünge des Kommunismus“ eine ganze Halle von Fässern aufgemacht – er beginnt beim Sklavenaufstand von Spartakus, geht über zu den Bauernkriegen mit Florian Geyer und Thomas Müntzer, springt dann zu den Frühsozialisten wie Saint-Simon, dann zur Französischen Revolution und dem Jakobinertum, bis er dann bei Marx und Engels und dem „Kommunistischen Manifest“ landet.
Auch suchen Linksliberale gerne in der Geschichte nach transsexuellen und queeren Persönlichkeiten, um zu beweisen, dass „es das ja schon immer gab“. Ähnlich tun es Konservative. Liberale versuchen zu beweisen, dass es in Deutschland eine lange Tradition des Liberalismus gab. Demokraten orientieren sich an den Beispielen früherer „Demokratien“ (wie die der Antike oder der Städterepubliken).
Das Christentum ist voll mit unzähligen Erzählungen von Märtyrern und den Lehren der alten Kirchenväter. Der Papst selbst zieht eine unglaublich lange Linie von sich zu St. Petrus.
Putin ist bekannt dafür, dass er die Eroberung der Ukraine versucht, geschichtlich zu untermauern (mit eher schwachen Erfolg). Man erinnere sich nur an das Interview zwischen ihm und Tucker Carlson.
Auch die BRD kennt eine Reihe von Opfererzählungen – Opfer von Antisemitismus, von Rassismus, von Kolonialismus, von Faschismus und Nationalsozialismus, von Kriegen und Terror, der DDR. Jedes Jahr erinnern wir uns an die Befreiung der Konzentrationslager, an das Ende des Ersten und Zweiten Weltkriegs, an die Opfer der Reichspogromnacht und der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik. Wir gedenken aber auch den (ausgewählten) Helden der deutschen Geschichte – den Widerständlern des Dritten Reichs, den Dissidenten der DDR, den Tag der Befreiung durch Alliierte und Rote Armee (wobei nicht alle dem Begriff „Befreiung“ zustimmen würden). Wir erinnern uns an die Wiedervereinigung von BRD und DDR und feiern „Meilensteine“ wie die Verabschiedung des Grundgesetzes. In diesem Jahr jährt sich das übrigens zum 75. Mal – die Regierung hat keine Kosten gescheut, um die Bevölkerung daran großflächig zu erinnern.
In der „Geschichte“ wird intensiv nach Beweisen dafür gesucht, dass wir eine „Einwanderungsgesellschaft“ sind und schon immer waren, schließlich haben „marokkanische und türkische Gastarbeiter die Republik aufgebaut“ und irgendwie hat auch der Alte Fritz irgendwann Hugenotten nach Preußen geholt. Man spricht auch heutzutage sehr gerne von der „Migrationsgeschichte“. Natürlich wird nicht alles gefeiert und nicht alles ist es „wert, erinnert zu werden“. Die Reichsgründung 1871 gehört nicht zum „bundesdeutschen Kanon“; Bismarck ist nicht nur großer Staatsgründer und -mann, sondern auch „Kolonisator“ (da könnte man glatt auf die Idee kommen, die Statue in Hamburg umzustürzen).

Warum beschäftigen wir uns eigentlich mit Geschichte?

Warum tun wir das alles? Es ist relativ einfach – Geschichte ist ein Mittel zur Identitätsbildung. Die Geschichte beantwortet Fragen wie „Woher kommen wir?“, „Wer sind wir?“, „Warum ist das Jetzt, so wie es jetzt ist?“. Da ist es völlig unerheblich, ob ich nun Familiengeschichte, Ideengeschichte, nationale Geschichte, Parteiengeschichte, Emanzipationsgeschichte, Kolonialgeschichte, Sprachgeschichte, Kulturgeschichte oder Kirchengeschichte betrachte.
Wir alle sind Teil eines größeren Ganzen, ob wir das nun wollen oder nicht. Ich bin der Sohn, der Enkel, der Urenkel etc. von dem und dem. Ich komme aus dem und dem Land, bin dort und dort aufgewachsen. Ich gehöre der und der Religion an. Ich verschreibe mich der und der Idee oder Ideologie. Ich bin Mitglied in der und der Partei. Unser gesamtes Leben ist ein gewaltiges Netzwerk, das „lange Linien“ in die Vergangenheit hat und uns mit anderen Menschen verbindet. Wir kommen nicht als leere Schablonen zur Welt, auf der man alles Mögliche beliebig aufdrucken kann. Bereits vor unserer Geburt werden wir durch die Stimmen unserer Mitmenschen geprägt. In unseren Körper vereinen sich die Gene unserer Mütter und Väter und unserer Vorfahren. Selbst wenn wir unsere Eltern und unsere Familie verabscheuen, können wir uns nicht dem Fakt entziehen, dass wir wie sie aussehen (und manchmal auch wie sie handeln).
Wenn wir auf die Welt sind, kommen wir mit Geschichte in Berührung. Wir durchwandern die Ruinen vergangener Reiche und Zivilisationen, wir besuchen Museen und Gedenkstätten, hören (unter guten Umständen) den Lehrern im Geschichts- und Deutschunterricht zu. Als Kinder spielen wir Ritter oder „Cowboy und Indianer“, wir lesen Märchen und Volkssagen, lauschen den Großeltern und Eltern, wenn sie von der alten Zeit sprechen, wir feiern Feste und haben Traditionen. Wir benutzen historische Sprichwörter, Metaphern und Zitate wie „den Rubikon übertreten“, byzantinisch, „wie die Könige leben“, „Napoleonkomplex“, „die Würfel sind gefallen“. Wir sehen Schlösser und Kirchen und historische Parkanlagen und Denkmäler und Friedhöfe und selbst wenn wir uns dafür nicht bewusst interessieren, so existieren diese Dinge trotzdem in unserem Umfeld und wir nehmen sie wahr. Das alles ist mehr oder weniger Geschichte.
Die Geschichte (und auch die sich daraus ergebene Kultur und Sprache) formt unser Bewusstsein und unseren Blick auf die Wirklichkeit. Und dieser Formung kann sich niemand entziehen. Ich bin Deutscher und das wird sich auch erst mal nicht ändern – ich spreche deutsch, denke deutsch, fühle deutsch, bekenne mich zum Deutschen, habe (ost-)deutsche Eltern, (ost-)deutsche Großeltern, ein Teil meiner Urgroßeltern waren deutsche Siedler in Bessarabien. Was ist „Deutsch“? Was bedeutet „Deutschsein“? Nun, das ergibt sich aus „langen Linien“ aus der Historie …
Selbst ein Anti-Deutscher (gemeint ist hier eine linke Strömung) entscheidet sich, anti-deutsch zu sein, weil er durch die deutsche Geschichte (Auschwitz, Drittes Reich, Shoah etc.) geformt wurde. Letztendlich ist auch er ein Produkt einer spezifischen Geschichtserzählung und deren Deutung. Er hat die deutsche Geschichte betrachtet, ist in Deutschland aufgewachsen und hat für sich den Entschluss gefasst: „Deutschland muss sterben“ oder „Nie wieder Deutschland“ oder irgendeinem anderen Nonsense. Ein Anti-Deutscher kann nur Anti-Deutscher sein, weil er selber Deutscher ist. Das Beispiel kann man problemlos auf jede andere Gruppe übertragen.
Nichts entsteht in einem Vakuum. Weder das Dritte Reich noch das Kaiserreich noch die Vereinigten Staaten noch die BRD noch die UdSSR noch das Christentum noch die EU noch das deutsche (oder irgendein anderes) Volk haben sich aus eigener Kraft aus dem Nichts manifestiert. Alles hat seine Ursprünge, alles durchläuft Entwicklungen, alles hat „lange Linien“. Alles hat Vergangenheit. Da sind wir wieder beim großen Netzwerk, was unser Leben darstellt und mit dem wir alle auf die eine oder andere Weise verbunden sind. Die Identität von Völkern und des Einzelnen fußt auf der gemeinsamen Geschichte. Wir als Individuen sind die Summe unserer Vorfahren, Teile eines größeren Ganzen, das wir Gemeinschaft, Volk, Kultur und Zivilisation nennen.

 

Geschichte ist Abstraktion, Konstruktion und Realität

Natürlich bedeutet Geschichte auch immer eine Form von Konstruktion und Abstraktion. Die Vergangenheit selbst existiert (auf dem ersten Blick) nur in Form von Quellen (seien es nun Traditions- oder Überrestquellen). Und die Betrachtung dieser Quellen braucht viel Zeit und Mühe. Sie müssen bearbeitet und interpretiert werden. Das Gefundene muss zusammengefasst und in einen verständlichen Text gepresst werden. Da sollte man sich auch gleich von dem Gedanken verabschieden, dass der menschliche Blick auf die Geschichte, die Quellen oder die Vergangenheit in irgendeiner Form objektiv und neutral sei. Wie bereits gesagt, wir sind vorgeprägte Wesen, die Teil eines großen Ganzen sind. Jeder filtert und wertet Informationen anders aus, jeder interpretiert Quellen unterschiedlich. Das klappt mal gut, mal weniger gut, mal unglaublich schlecht. Wohlgemerkt, es geht mir nicht darum, jeden einzelnen Geschichtswissenschaftler zu unterstellen, dass er selektiv forscht und argumentiert, sondern das Geschichtswissenschaft nicht neutral ist, weil der Mensch nicht neutral ist. Denn er ist geprägt von der Kultur, in der er lebt, von der Sozialisierung, vom Familiestand, von der Kindheit, der Ausbildung, der Religion, der Ideologie, dem Zeitgeist etc. Zwei Menschen können dieselbe Quelle völlig unterschiedlich interpretieren und bewerten und mit den zeitlichen Abstand wird der Unterschied nur weiter. Aber so entstehen andere Sichtweisen auf die Geschichte, eine endgültige Wahrheit gibt es nicht. Wir werden nie zu Hundertprozent wissen, wie die Vergangenheit wirklich aussah. Wir werden nie verstehen, was ein Bauer im Jahre 964 nach Christus an einem Sonntag in der Kirche gedacht hat. Wir können die Vergangenheit nur rekonstruieren. Und oft ändern sich auch die Sichtweisen und Deutungen auf die Vergangenheit, das kann mitunter zu nicht unerheblichen Konflikten führen. Unterschiedliche Deutungen sorgen für unterschiedliche Herangehensweisen – reiße ich Denkmäler ab oder errichte ich neue? Gedenke ich diese oder jene Opfer? Erzähle ich vorrangig Helden- oder Opfergeschichten? Feiere ich dieses Fest oder tue ich es nicht? Verbrenne ich Bücher und Gemälde? Benenne ich Straßen um? Wem nehme ich im großen Kanon der Nation auf? Gibt es das Volk oder nicht? Welches Narrativ dominiert am Ende den Zeitgeist? Da prallt vieles aufeinander und vieles widerspricht sich auch und am Ende ergibt sich ein riesiges, paradoxes Gemälde, was keiner vollständig überblicken kann, und doch sind alle gleichzeitig ein Teil davon. Geschichte und Vergangenheit sind Konstrukte, doch sie existieren auch in der Wirklichkeit und haben Einfluss darauf.
Unabhängig von diesen Überlegungen und Fragen – der Mensch macht nicht nur Geschichte (um Marx zu referenzieren), die Geschichte macht auch den Menschen.
Wenn ich an meinen Körper herunterschaue, dann sehe ich Wurzeln, die tief in den dunklen Erdboden ragen, tiefer und weiter als ein Sterblicher zu sehen vermag, verbunden mit einem Mythos, den keiner in seiner Gänze überblicken kann, verbunden mit Menschen, die mir ähnlich sind. Die Geschichte hilft mir, mich mit diesen Wurzeln zu identifizieren und sie besser zu verstehen. Und vielleicht sind wir alle ein wenig geschichtsbesessen.

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