Eine Reihe zufälliger Ereignisse: Die Menschen, der Krieg & die Sehnsucht nach Frieden.
Warum geht ein Mensch in die Ukraine? – „Also, ich wohne jetzt seit knapp neun Jahren in Kyjiw und normalerweise war es nie mein Plan in Kyjiw zu leben. Das hatte ich nicht geplant.
Da ist so ein Zufall in mein Leben gestolpert und das war die Ukraine selbst und ihre Leute.“
Die Worte von Markus Peuser stehen im Kontrast zu dem, was wir seit Jahren beobachten: Während viele Menschen die Ukraine verlassen, um in der EU zu arbeiten, fliehen oder dauerhaft auswandern, gehen einige Menschen einen ganz eigenen Weg. Sie ziehen in die Ukraine, bauen ein neues Leben auf und entscheiden sich, auch in gefährlichen Zeiten dort zu bleiben.
Durch eine zufällige Begegnung lernte ich eine dieser Personen kennen: Markus Peuser, besser bekannt als der Deutschlehrer aus Fehmarn. In einem ausführlichen Gespräch mit SpeakUP erzählt er uns seine Geschichte – wie er in die Ukraine kam, wie eine Begegnung sein ganzes Leben veränderte und wie er die ersten Tage nach dem Einmarsch der russischen Armee erlebte.
Die persönliche Entscheidung
Markus hatte nie geplant in die Ukraine zu ziehen. Erst der Besuch des Geburtsortes seiner Großmutter in Polen und eine Portion Neugier haben ihn dazu bewogen, erst Lwiw in der Westukraine und anschließend Kyjiw als Tourist zu besuchen.
Markus hatte nie geplant, in die Ukraine zu ziehen. Erst der Besuch des Geburtsortes seiner Großmutter in Polen und eine Portion Neugier bewogen ihn dazu, zunächst Lwiw in der Westukraine und anschließend Kyjiw als Tourist zu besuchen.
„Ich war einen Tag da, habe mir das Dorf angesehen und hatte noch acht oder neun Tage Zeit, was ziemlich langweilig war. Dann bin ich weiter nach Lwiw gefahren und habe mir die Stadt angeschaut. Damals war die Situation so: Man kannte den Maidan ein bisschen, das hatte man im Kopf, aber mehr wusste man über die Ukraine nicht. Für uns Deutsche ist Osteuropa nicht so interessant, wir sind eher nach Westen gewandt, wie Spanien, Portugal oder Italien.
Aber ich habe mir gedacht, wenn du schon hier bist, dann kannst du dir die Ukraine kurz ansehen.“
Doch die Begegnung mit einem Universitätsdirektor sollte der Anfang seines neuen Lebens werden: „Durch einen Zufall habe ich einen Direktor einer Fakultät in Kyjiw kennengelernt, an der Deutsch unterrichtet wird. Er hat mich am Telefon sprechen hören und mir dann gesagt, dass ich ganz gut Deutsch spreche. Ich sagte ihm, dass ich aus Deutschland komme. Anschließend hat er mich eingeladen, seine Universität zu besuchen, um mit seinen Studenten über das Leben in Deutschland zu sprechen.“
Schließlich hat sich Markus auf ein Angebot des Direktors eingelassen den Deutschunterricht zu leiten. Zunächst nur als einmalige Angelegenheit. Den Studierenden habe die Stunde jedoch so gut gefallen, dass Markus selbst staunte. „Die Studenten haben sich so überschwänglich bedankt, dass ich dachte: Wow, wo bin ich denn hier gelandet?“
Eigentlich war Markus kein Pädagoge und hatte auch keine Erfahrung im Unterrichten. Daraufhin bot ihm die Universität einen regulären Job an, den er nach einiger Bedenkzeit annahm. Als feststand, dass er das hauptberuflich machen möchte, bildete er sich weiter.
„Ich sollte Deutsch unterrichten, und das habe ich dann auch gemacht. Zwischendurch habe ich noch ganz viele Kurse beim Goethe-Institut belegt, wie man Deutsch unterrichtet und was dabei wichtig ist. Ich konnte drei Monate Urlaub nehmen, weil ich in Deutschland selbstständig war, und deswegen bin ich gleich die ersten drei Monate dortgeblieben und habe unterrichtet. Das war dann der Anstoß, mein Leben ein bisschen zu verändern, und ich habe mich entschieden, eine Deutschschule in Kyjiw zu gründen. Das ist der Grund, warum ich jetzt immer noch hier bin.“
Deutsch ist eine schwierige Sprache. Viele Menschen in der Ukraine lernen aber neben Englisch auch eine zweite Fremdsprache – oft ist das Deutsch. Ich fragte ihn, wie groß das Interesse an der deutschen Sprache sei.
„Das Thema hat sich mit dem Krieg komplett geändert. Am Anfang war es natürlich so: Deutsch ist eine interessante Sprache in Europa, und viele Ukrainer haben sie gelernt. Viele Studenten wollten vor dem Krieg nach Deutschland gehen, um zu studieren, und mussten dafür Deutsch lernen. Ich erinnere mich auch noch, als ich die Schule eröffnete, dass es viele Damen gab, die sagten: ‚Ich muss A1 lernen und suche mir einen deutschen Mann.‘ Das war so, und das waren nicht wenige. Das Interesse war also da, obwohl man sagen muss, dass es immer weniger wurde, was vor allem an den postsowjetischen Lehrkräften lag.“
Mit seiner eigenen Deutschschule wollte er den Spaß am Lernen zurückbringen.
Diese Situation änderte sich mit dem Beginn der vollumfänglichen Invasion schlagartig. Deutsch wurde von einer Nischensprache zu einer Notwendigkeit. Für unzählige Ukrainer, die fliehen mussten, war es plötzlich nach Polnisch die wichtigste Fremdsprache – ein Muss, um in einem neuen Leben anzukommen.
Mit seiner eigenen Deutschschule wollte er den Spaß am Lernen zurückbringen.
Diese Situation änderte sich mit dem Beginn der vollumfänglichen Invasion schlagartig. Deutsch wurde von einer Nischensprache zu einer Notwendigkeit. Für unzählige Ukrainer, die fliehen mussten, war es plötzlich nach Polnisch die wichtigste Fremdsprache – ein Muss, um in einem neuen Leben anzukommen.
Ich hakte nach, ob ein paar freundliche Gesichter und ein Jobangebot wirklich ausreichen, um sein Leben in einem fremden Land komplett neu aufzubauen.
„Nein, das reicht nicht. Das war eine Entscheidung, die gewachsen ist und für mich ungefähr sechs Monate gedauert hat. Ich habe nicht in der ersten Woche überlegt, ob ich mein Leben in Deutschland hinter mir lassen soll. Das kam wirklich erst nach und nach. Dadurch, dass ich viel Erfahrung gesammelt habe, wurde diese Entscheidung mit der Zeit leichter. Doch eigentlich waren es die Menschen in der Ukraine. Es geht nicht so sehr um die Städte, aber mir hat dieses Gesamtpaket gefallen. Die Leute waren superfreundlich und immer zuvorkommend. Natürlich habe ich verstanden, dass Ukrainer untereinander auch mal etwas strenger sein können, aber das war mir relativ egal. Und dann habe ich überlegt, ob ich diesen Schritt gehen möchte. Für mich ist es jetzt so: Die Ukraine ist nicht so weit von Deutschland entfernt.“
Die politische Beobachtung
Obwohl sich die Ukraine bereits seit 2014 im Kriegszustand befand, fühlte sich der Konflikt im Alltagsleben von Kyjiw 2017 noch unendlich weit weg an. Markus beschreibt eine Atmosphäre, in der der Krieg im Donbass zwar bekannt war, aber kaum eine Rolle spielte. Er zieht einen treffenden Vergleich zur heutigen Situation in Deutschland: „Viele Menschen waren des Themas überdrüssig und kümmerten sich nicht aktiv darum.“
Erst ein kurzer militärischer Zwischenfall im Schwarzen Meer 2018 brachte den Konflikt für ihn persönlich kurzzeitig näher. Aufgewachsen im Frieden, so gibt er zu, konnte er sich das Ausmaß eines möglichen vollumfänglichen Krieges ohnehin nie wirklich vorstellen.
Wir sprachen auch über die politische Situation in der Ukraine von 2019 bis 2022, als Wolodymyr Selenskyj das Präsidentenamt übernahm. Seine anfängliche Zustimmung von über 70 % war mit der Zeit rapide gesunken. „Ich war aber guter Dinge, dass er einen guten Job machen kann, aber die Menschen hatten keine Geduld. Ich glaube, er hat wirklich versucht, etwas Gutes zu tun, aber er konnte natürlich auch nicht alles durchs Parlament bringen. Wenn es zum Beispiel um Korruptionsbekämpfung geht, waren ihm da, glaube ich, auch ein bisschen die Hände gebunden. Die Leute haben verstanden, dass diese Versprechungen, die einem leicht über die Lippen gehen, dann doch nicht so einfach umgesetzt werden können.“
Nichtsdestotrotz weigert sich Markus, in Schwarz-Weiß zu denken. Er argumentiert, dass die alltägliche Korruption in der Ukraine oft aus der Not heraus geboren wird – eine Folge von Hungerlöhnen im öffentlichen Dienst. Provokant zieht er den Vergleich nach Deutschland: Auch hier kaufe man sich mit Geld Vorteile, wie schnellere Arzttermine, nur eben offiziell per Rechnung. Für ihn liegt die Wurzel des ukrainischen Problems daher nicht in der Moral der Menschen, sondern in einem Staat, der seine Angestellten nicht ausreichend bezahlt.
Der dramatische Wendepunkt
Neben der Korruption hat die Ukraine zusätzlich mit einem feindseligen Nachbarn zu kämpfen. Als Russland am 24. Februar 2022 die Ukraine überfiel, war Markus selbst in der Stadt. Obwohl dort fast niemand an einen Angriff glaubte – auch Markus nicht –, wurde er in der Nacht vom Klackern der Koffer geweckt. Zunächst wunderte er sich, wer zu dieser Zeit in den Urlaub fliegen würde. Wie sich herausstellte, waren die ersten Menschen bereits informiert und versuchten, die Stadt noch in der Nacht zu verlassen.
Markus weiß genau, was an dem Tag passiert ist: „Solche Tage bleiben immer in Erinnerung, das sind diese besonderen Tage. Ich erinnere mich noch, am 23. Februar war ich bei Spiegel TV eingeladen, um 23 Uhr deutscher Zeit, also fünf Stunden vor Beginn der Invasion, und ich habe da noch gesagt, es passiert nichts.“
Doch es kam völlig anders. Die nächsten Stunden folgten einem klaren, schrecklichen Muster: Anrufe tätigen, Koffer packen, sich in Sicherheit bringen.
„Wir haben uns dann mit sechs Personen in einer Wohnung im Süden von Kyjiw getroffen, worüber ich sehr froh war. Ich habe relativ schnell meine Wohnung verlassen, nur einen Koffer gepackt und noch eine Kollegin abgeholt, die in meiner Straße wohnt. Dann sind wir vier Stunden lang quer durch Kyjiw gefahren, bis wir an dieser Wohnung waren. Das war eigentlich der Tag. Aber der Tag war, ich will nicht sagen, ruhig. Man stellt sich vor, wenn man über Krieg nachdenkt, dass viele Flugzeuge Bomben abwerfen. Sowas gab es nicht, zumindest nicht im Zentrum.“
Auch wenn der erste Tag relativ ruhig verlief, stand die russische Armee im Norden bereits vor den Toren von Kyjiw.
„Die erste Nacht, die wir dann zusammen zu sechst im Süden Kyjiws verbracht haben, war schrecklich. Wir hatten von der zehnten Etage aus einen guten Blick auf die andere Uferseite und haben all das gesehen, was in dieser Nacht geschah. Es wurde ein Hubschrauber abgeschossen, und natürlich haben wir nicht geschlafen. Zudem hatte ich noch viel zu tun, weil ich viele Interviews mit der ARD hatte. Aber die Nacht war so schlimm, dass wir entschieden haben, Kyjiw zu verlassen.“
„Am Morgen des 25. Februars haben wir dann unsere Sachen gepackt und sind mit drei Autos losgefahren, ohne zu wissen, wohin. Wir sind dann Richtung Chmelnyzkyj gefahren, weil eine weitere Kollegin uns das Elternhaus angeboten hatte. Nach zehn Tagen haben wir gesagt, das kann so nicht weitergehen. Wir müssen irgendwas tun, wir können jetzt hier nicht einfach warten, bis es zu Ende ist, weil wir kein Ende sahen. Dann haben wir uns aufgeteilt. Ich bin erstmal zu meiner Schwester nach Deutschland gefahren.“
Die Rückkehr nach Kyjiw
Anfang April 2022 zog sich die russische Armee aus der Region Kyjiw zurück, und die Situation beruhigte sich zumindest vorerst. Doch war es auch sicher genug, um zurückzukehren? „Ich hatte zu der Zeit sehr viele Kontakte zu Journalisten, und Steffen Schwarzkopf rief mich an und teilte mit, dass es gerade relativ ruhig sei.“
Natürlich hatte er die Sorge, dass mittlerweile Russen seine Wohnung besetzt hätten, doch diese Befürchtung trat nicht ein. „Sie waren 70 Kilometer entfernt, und da habe ich gesagt: Okay, ich fahre jetzt zurück nach Kyjiw und hole meine Sachen. Das war mein Plan.“
Ein erneuter dauerhafter Aufenthalt war ursprünglich nicht geplant, aber für eine gewisse Zeit gab es keine Drohnen, keine Raketen, keine Angriffe. Die Stadt war menschenleer, wie Markus erzählt. Erst im Oktober 2022 flogen die ersten Raketen erneut auf die Stadt. Gleichzeitig bemerkt er, dass die Situation heute viel schlimmer ist.
„Heute habe ich mit nächtlichen Drohnenangriffen und mit Raketen zu tun. Das war im Sommer 2022 nicht der Fall. Das Einzige, was zu dem Zeitpunkt zu sehen war, waren ausgebrannte Panzer und unzählige Checkpoints um die Stadt. Ich habe ausprobiert, wie das Leben in Kyjiw ist. Wenn die Russen weit weg sind, komme ich damit klar. Wenn sie zu nahe kommen, fahre ich weg. Das war meine Entscheidung.“
Das „neue“ Leben und seine Widersprüche
Immer wieder sieht man ukrainische Männer im wehrfähigen Alter auf den Straßen Europas, trotz offiziellen Ausreiseverbots und Kriegsrechts. Da stellt sich die Frage, ob eine solche Ausreise ein Widerspruch zum Patriotismus ist.
„Ich bin der Meinung, das Leben steht über allem. Die Männer leiden hier wirklich. Sie verstecken sich vor der TZK (Einberufungsbehörde), was ich verstehen kann. Mit einem dreimonatigen Training kannst du nicht lange an der Front überleben. Anders wäre es, wenn du super ausgebildet wirst, die beste Ausstattung bekommst und wenn das Land alles, wirklich alles in seiner Macht Stehende tut, um seine Soldaten zu schützen. Die Ukraine macht es besser als die russische Seite, aber nicht so, dass man sagen kann: ‚Mir wird nichts passieren. Ich werde heil von der Front zurückkehren.‘“
Auf meine Frage, ob es Heuchelei sei, wenn man als Patriot flieht, antwortet er: „Nein, ich glaube, man kann Patriot sein und muss nicht im Krieg kämpfen. Ich weiß, das beißt sich ein bisschen, aber ich kann auch stolz auf mein Land sein, auf Deutschland zum Beispiel, und nicht dort wohnen. Es gibt ukrainische Männer oder auch Frauen, die in Europa leben und sehr viel für die Ukraine tun. Das ist auch eine Wahrheit, und ich würde nicht sagen, dass es Heuchelei ist. Obwohl ich manchmal denke, es kommt auch auf das Benehmen dieser Leute an. Wenn sie jetzt in Deutschland sind und mir sagen wollen, was ich in der Ukraine machen soll, dann würde ich sagen: ‚Weißt du was? Du kannst gerne zurückkommen und mir zeigen, wie man das macht.‘ Das hat für mich dann etwas mit Heuchelei zu tun. Aber wenn man dankbar ist und alles tut, was in seiner Macht steht, um das Heimatland zu unterstützen, bin ich vollkommen damit einverstanden, dass man das Land verlässt, weil eben Krieg herrscht.“
Gleichzeitig kursieren im Internet immer wieder Videos von tanzenden und feiernden Menschen. Auch in Deutschland wurden diese Videos oft diskutiert und erwecken manchmal den Eindruck, der Krieg sei doch nicht „so schlimm“. Auch dieses sensible Thema haben wir besprochen.
„In der Ukraine gibt es eine Ausgangssperre. Das finde ich gut, obwohl sie mir natürlich nicht gefällt und jeder dadurch eingeschränkt wird. Aber es gibt zwei gute Gründe dafür. Einmal sind das militärische Operationen. Man will nicht, dass die eigene Bevölkerung weiß, wo etwas steht, damit man es nicht filmen kann. Der andere Grund ist, dass man sich nicht sinnlosen Partys hingibt und die ganze Nacht feiert. Um zwölf Uhr muss man zu Hause sein. Die Menschen werden daran erinnert, dass in diesem Land das Kriegsrecht herrscht und an einer 1300 km langen Frontlinie Krieg geführt wird. Natürlich sind diese Partybilder aus Odessa für den Westen und für die Leute, die sagen, man solle die Ukraine nicht unterstützen, ein gefundenes Fressen. Es ist einfach blöd, dass diese Bilder entstehen, wo Schaumpartys gefeiert werden. Das passt nicht gut in das Bild des Landes.“
„Aber auf der anderen Seite muss man auch verstehen: Warum haben Menschen aus anderen Ländern das Recht, ins Restaurant zu gehen und Partys zu feiern, aber die Ukrainer, nur weil sie angegriffen wurden, haben dieses Recht verwirkt? Alle Menschen in der Ukraine haben das Recht, ein normales Leben zu führen. Die Gefahr, durch eine Drohne oder Rakete getötet zu werden, ist groß, und natürlich müssen die Menschen auch abschalten können. Du kannst nicht die ganze Zeit im Schutzkeller sitzen und hoffen, dass nichts passiert. Das funktioniert nicht. Das müsste man diesen Leuten eigentlich erklären.“
„Ich bin vollkommen damit einverstanden, dass die Restaurants weiterarbeiten, dass man essen geht, und ich glaube auch, dass die Soldaten an der Front damit einverstanden sind, dass die Bevölkerung ihr Leben weiterlebt. Wir haben in Odessa ungefähr zehnmal am Tag Alarm und jede zweite Nacht Explosionen. Trotzdem gehen die Menschen raus, sie frühstücken ganz normal. Was sollen sie denn tun? Die Bevölkerung kann das nur, weil die Ukraine verteidigt wird. Wäre das nicht möglich, würde die Ukraine nicht mehr existieren.“
„Über die Deutschen, die sagen, man solle aufhören, die Ukraine zu unterstützen, ärgere ich mich sehr, weil sie mit ihren Kommentaren zu Hause irgendwo in Deutschland auf ihrer Couch sitzen und russische Propaganda lesen. Diese Leute sagen dann, dass es in der Ukraine nicht so schlimm sei, weil sogar am Strand in Odessa gefeiert wird. Aber ja, es ist einfach auch ein bisschen dämlich, dass solche Videos entstehen.“
„Problematisch ist nur, dass die Soldaten nicht genug geehrt werden. Wenn wir über das Gehalt sprechen: Es ist zu wenig. Die ukrainische Regierung müsste da viel mehr machen. Teilweise müssen die Militärangehörigen ihre Ausrüstung selbst bezahlen. Eine Katastrophe.“
Die Brücke der Kulturen – Was wir lernen können
„Irgendwie kommt man schon durch.“ Mit diesem Satz lässt sich die ukrainische Mentalität gut widerspiegeln. Die Ukrainer sind bekannt für ihre Flexibilität und ihren Pragmatismus. Auf der anderen Seite sind Deutsche oft regelbasiert und bürokratisch. „Also ich glaube, wenn man die Ukraine und Deutschland mischt, hat man eine perfekte Situation.“
Für Selbstständige wie Markus ist die gesetzliche Situation in Deutschland eine Herausforderung. Um eine Selbstständigkeit anzumelden, sei man nebenbei noch Buchhalter. „In der Ukraine geht das etwas einfacher, und man kann sich mehr ausprobieren.“ Daneben bemängelt er die starre Bürokratie in Deutschland.
„Auch wenn viele Leute sagen, dass wir ein ganz toller Rechtsstaat sind, glaube ich, wir haben zu viel Bürokratie. In der Ukraine ist das ein bisschen angenehmer, ein Mittelweg wäre gut. Viele Deutsche sind ängstlich, was die Zukunft betrifft. Ihre Mentalität lässt sich so zusammenfassen: ‚Ich muss diesen Weg gehen, ansonsten habe ich kein Leben.‘“
„Ich glaube, hier ist man ein bisschen freier in seinen Entscheidungen und auch flexibler als in Deutschland. Man macht sich nicht so viele Sorgen über die Zukunft. Auf der einen Seite ist das gut, auf der anderen Seite kann das auch schlecht sein. Sprechen wir zudem über Digitalisierung: Die Ukraine ist da Deutschland in Kleinigkeiten mindestens zwei Schritte voraus. Das gefällt mir besser. Aber viele Deutsche meinen, die Ukrainer würden noch in der Steinzeit leben. Sie haben vergessen, dass die Ukrainer nicht geflohen sind, weil sie Wirtschaftsflüchtlinge sind, sondern weil es einen Krieg gibt.“
Im Gegenzug, so Markus, würde die Ukraine von den starren, wenn auch sinnvollen deutschen Strukturen profitieren, wie beispielsweise bei Verkehrsregeln, die für mehr Sicherheit auf den Straßen sorgen könnten. Vor allem aber bewundert er die ukrainische Resilienz und Flexibilität.
Der Blick nach vorn – Wünsche und Dankbarkeit
Die Beziehung zu Deutschlands Hilfe in der Ukraine ist hoch komplex. Während auf der einen Seite die Zögerlichkeit der Deutschen bemängelt wurde und auch zum Teil auf Unverständnis zu bestimmten Debatten getroffen wurde, sind sich viele Ukrainer sicher. Ohne die deutsche, amerikanische und auch europäische Hilfe, wäre die Ukraine bereits gefallen. Deshalb besteht unter der Bevölkerung große Dankbarkeit für die ausländische Hilfe, auch wenn sie manchmal nicht genau wissen, woher die Hilfe stammt. „Also zumindest die, die ich kenne und mit denen ich spreche, verstehen schon, dass das auch eine Belastung für Deutschland ist, wenn sie Geld und Militärausrüstung schicken.
Der größte Wunsch für die Ukraine
Die Haltung zur deutschen Hilfe in der Ukraine ist komplex. Während einerseits die Zögerlichkeit Deutschlands bemängelt wurde und manche Debatten auf Unverständnis stießen, sind sich viele Ukrainer sicher: Ohne die deutsche, amerikanische und europäische Hilfe wäre die Ukraine bereits gefallen. Deshalb besteht in der Bevölkerung große Dankbarkeit, auch wenn die Menschen manchmal nicht genau wissen, woher die Hilfe konkret stammt. „Zumindest die, die ich kenne, verstehen schon, dass das auch eine Belastung für Deutschland ist, wenn sie Geld und Militärausrüstung schicken.“
Der größte Wunsch für die Ukraine ist klar: „Jeder Ukrainer wünscht sich, dass dieser Krieg endet, aber nicht zu den Bedingungen Russlands. Das ist immer ganz wichtig zu sagen. Die Ukraine muss diesen Angriff abwehren. Russland muss die Lust verlieren, weiterzumachen. Meiner Meinung nach hat die Ukraine, selbst wenn sie Gebiete verliert, den Krieg bereits gewonnen. Russlands Kriegsziel ist es, die Ukraine zu zerschlagen. Wenn der Krieg an der aktuellen Frontlinie endet, dann hat die Ukraine trotz der Toten, die wir zu beklagen haben, die Auseinandersetzung gewonnen. Auch wenn sie Donezk, andere Teile und die Krim verloren hat. Aber die Ukraine wird existieren.“
Gleichzeitig zieht er eine ernüchternde Bilanz, wie dieser Krieg tatsächlich enden könnte: „Im Moment habe ich keine Fantasie, mir ein Ende vorzustellen, weil ich sehe, was auf der politischen Bühne abgeht. Ich sehe, dass Putin weiter und weiter eskaliert und dass er nicht in seine Schranken gewiesen wird.“
Die Zukunft in der Ukraine, oder wo anderes?
n den letzten Minuten unseres Gesprächs sprechen wir über seine ganz persönliche Zukunft. Möchte er in der Ukraine bleiben?
„Erstmal möchte ich in Kyjiw bleiben, weil ich es liebe, hier zu wohnen. Ich habe hier meine Freunde, meine Kollegen, meine Existenz. Deswegen möchte ich gerne erstmal in Kyjiw bleiben. Mein Plan B ist eine Datsche im Westen der Ukraine, in den Karpaten. Dorthin würde ich fliehen, wenn etwas in Kyjiw passiert.“
Werden die Menschen in die Ukraine zurückkehren? Diese Frage stellen sich wohl viele. Mit einem positiven Blick in die Zukunft hofft Markus, dass die Menschen zurückkommen, beim Wiederaufbau helfen und das Land endlich sein volles Potenzial ausschöpfen kann.
„Vorher hatte ich immer das Gefühl, dass viele Ukrainer das Land verlassen wollten, weil sie dachten, das Gras sei woanders viel grüner – in Deutschland, in Frankreich, in Polen. Aber viele haben jetzt verstanden, dass die Ukraine doch gar nicht so schlecht war und ist. Sie haben verstanden, dass das Gras in der Ukraine auch ziemlich grün ist.“
Die Antwort auf die Frage vom Anfang scheint am Ende klar: Man geht nicht nur in die Ukraine. Manchmal findet man dort eine Heimat.