Das Hans Otto Theater (HOT) hat sich am Samstag, dem 22. September, in neuem Glanz unter der Intendantin Bettina Jahnke präsentiert. Doch was ist Hans Otto jetzt? „Hans Otto ist viele Personen“, „mal ganz Drama Queen“, er „befreit“, „hinterfragt“, „zweifelt“ und ist „weltbewegend“. „Hans Otto ist Theaterspiel!“ So klingt es vielversprechend aus den Mündern der Mitarbeiter_innen, die die neugierigen Gäste auf den Terrassen des Großen Hauses willkommen hießen. Von Eileen Schüler.
„Theater lebt erst als Gemeinschaftserlebnis“, sagte Bettina Jahnke in ihrer Eröffnungsrede. Sie ist zwar die zukünftige Kapitänin des Theaterschiffs, doch sind ihr die einzelnen Mitarbeiter_innen wichtig – die, die hinter der Bühne stehen. Besonders offen möchte sie auch auf das Publikum zugehen – im Dialog mit dem Publikum handeln. Danach dürfen die Zuschauer_innen über die Terrassen ins Große Haus nach oben schreiten und werden vom Förderkreis des Theaters mit Sekt empfangen.
Der Theatersaal war bis auf den letzten Platz besetzt. Schon seit Wochen war die erste Premiere zu „In Zeiten des abnehmenden Lichts“ ausverkauft. Im Zuschauerraum spürte man ein freudiges Prickeln, ein aufgeregtes Knistern. Wie wird wohl die erste Inszenierung von Bettina Jahnke sein?
Im Gegensatz zu den großen Erwartungen sieht das Bühnenbild jedoch sehr trostlos aus. Ein Gerüst aus Stahl ist aufgebaut, an dem große Buchstaben befestigt sind. Man könnte meinen, dass sie ein Wort ergeben wie „SEI“. Jedoch haben sie keine semantische Bedeutung, sondern sind nur ein ästhetisches Gestaltungsmerkmal. Eine graue Sitzreihe steht rechts. Dazu sind die Wände links und rechts Grau in Grau.
Hineingeworfen in die Vergangenheit
Zuerst hören die Zuschauer_innen eine Collage aus O-Tönen, die von der Gründung der DDR bis zum 11. September 2001 reicht. Man wird in die Vergangenheit und somit in die Familiengeschichte der vier Generationen hineingeworfen. Im Halbdunkel auf dem Gerüst taucht Alexander (Henning Strübbe) auf, der in einem Brief seiner Freundin Marion von seiner tödlichen Krankheit berichtet, die bei ihm vor vier Wochen im Jahr 2001 in Mexiko diagonistiziert wurde. Doch bevor er sterben kann, muss er sich den Fragen der Vergangenheit stellen, um mit dem Leben abschließen zu können. Seine Fragen stellt er seinen Familienmitgliedern, die in verschiedenen Szenen vorgestellt werden.
Da ist sein existenziell gescheiterter Vater Kurt (René Schwittay), der seine russische Frau Irina (Nadine Nollau) verloren hat, weil sie ihren Kummer im Alkohol ertränkt hat. Alexander fragt seinen Vater laut und im aggressiven Ton: „Hast du je einen Menschen geliebt?“ Als dieser nicht antwortet, sondern nur vor sich hinkrepelt und nach etwas Essbaren sucht, fragt Alexander ihn weiter: „Hast du alle Worte der Arbeiterbewegung gegeben?“ Im Verlauf des Stückes wird der Vater-Sohn-Konflikt immer deutlicher und zieht sich über die vier Generationen hinweg. Das liegt vor allem auch an den jeweiligen politischen Einstellungen.
Aufarbeitung der DDR-Geschichte
Eugen Ruges (bei der Premiere anwesend) Roman erzählt anhand der Familiengeschichte auch die Geschichte der DDR. Der Großvater Wilhelm (Joachim Berger) ist ein überzeugter Kommunist, der Verwaltungsdirektor geworden ist und später zum 90. Geburtstag gratuliert ihm sogar der Staatssekretär der SED. Die Großmutter Charlotte (Bettina Riebesel) schreibt Artikel in „Neues Deutschland“, träumt und redet unentwegt von Mexiko. Aufgrund der Erzählungen seine Großmutter begibt sich Alexander nach Mexiko. Anstatt die Erlebnisse auf der Bühne darzustellen, lässt Bettina Jahnke Strübbe in Monologen erzählen. Durch seine kraftvolle vibrierende Stimme weckt er die Vorstellungskraft der Zuschauer_innen. Ein gutes Element, um für einen Moment in den Verstrickungen innezuhalten und die Fantasie der Zuschauer_innen spielen zu lassen.
Kurt und Irina glauben an den Stalinismus, weswegen es zwischen Kurt und Wilhelm oft Spannungen gibt. Wilhelm hält Kurt für einen Schwächling, weil er aus der Partei hinausgeworfen wurde. Bei der Szene des Rauswurfs aus der Partei tauchen die Zuschauer_innen in die Gedankenwelt von Kurt ein. Hinter René Schwittay erscheinen flüsternde rote Münder als Installation, die nach „Stellungnahme“ fordern und ihm immmer weiter Schuldgefühle einreden. Schwittay zeigt durch seine schweißtreibende und angsterfüllte Darstellung, wie der Staat einen Einzelnen in die Enge getrieben hat.
„Wenn wir den Fernseher in Moskau gekauft hätten“
Trotz der thematischen Ernsthaftigkeit, die manchmal für die jüngere Generation nicht so leicht zu verstehen ist, wird im Publikum viel gelacht. Nadine Nollau ist unschlagbar mit ihrem trockenen Humor. Als ihre Mutter Nadjéshda Iwánowna (Rita Feldmeier) etwas vermutlich Schlimmes auf russisch sagt, entkräftigt sie die Situation und übersetzt etwas Banales wie „Wenn wir den Fernseher in Moskau gekauft hätten, dann hätte er russisch gesprochen.“ Auch lässt Irina sich köstlich über die Freundinnen von Alexander aus, die in ihren Augen zu koservativ wirken. „Erst die Kaffeetüte, dann dieses Gestell, Catrin ohne h“, kommentiert Nollau mit russischem Akzent.
Rita Feldmeier spielt sich in die Herzen des Publikums. Die russische Großmutter, die nicht viel von Politik versteht und verstehen will, sitzt mit gekreuzten Beinen auf einem Hocker und schwelgt in Erinnerungen. Heimlich schaut sie gerne Westfernsehen, erzählt vom Herbst und russischen Traditionen in Soswa und zum 90. Geburtstag von Wilhelm schenkt sie ein Glas Gurken. Feldmeier spielt die Rolle mit starkem russischen Akzent herrlich komisch, süß und naiv, sodass man diese Großmutter nur knuddeln möchte.
Haltung bewiesen
Bettina Jahnke hält, was sie verspricht. Sie hat in ihrer ersten Inszenierung Haltung bewiesen. Stück für Stück rollt sie Ruges Familiengeschichte auf und zeichnet ein Familienporträt. Am Anfang erweist sich das Stück als etwas träge, da alle Figuren ausgeleuchtet werden, gewinnt jedoch im zweiten Teil an Schnelligkeit. Das Finale endet als ein malerisches Bild: Die Lebenden feiern den „Día de los Muertos“ in Mexiko. Und damit stellt sich auch am Ende die Frage: Leben wir wirklich, wenn wir unser Leben uns nur von anderen diktieren lassen?
Mensch/Maschinen vs. Natur
Die zweite Premiere des Abends „paradies spielen (abendland. ein abgesang)“ inszeniert von Moritz Peters ist aus einem anderen Stoff gewebt. Auf der Bühne in der Reithalle beginnt das Stück des Autors Thomas Köck (bei der Premiere anwesend) mit einem fast verbrannten Körper auf der Intensivstation – ein Sinnbild für unsere zerstörte Welt. Aber was machen wir mit unserem Körper? Wir überstrapazieren ihn und erhalten ihn nur noch durch Maschinen am Leben.
„Wohin soll denn die Natur, wenn überall Polyesterreste kleben?“ Für dieses pulsierende und thematisch hochbrisante Theaterstück erhielt Köck in diesem Jahr den Mülheimer Dramatikerpreis. Im Gegensatz zu Ruge, der einzelne Biografien darstellt, betrachtet Köck das große Ganze. Um diese Wirkung zu verstärken, spricht das Ensemble im Chor – sprachgewaltig.
„Der Mensch hängt der Zeit immer hinterher“
Der singende Kondukteur (Arne Lenk) begrüßt im ICE seine Fahrgäste und weist sie auf eine Verspätung hin (wie man es nicht anders von der Deutschen Bahn kennt). Kritisch bemerkt er, in ganz Europa warte kein Mensch mehr auf den anderen, alle würden nur der Zeit hinterher hängen. „Hören wir uns noch zu?“ In der Bahn befinden sich Reisende, die mit goldenen Requisiten an die Musen aus der griechischen Mythologie erinnern. Telefongespräche, Satzanfänge, eine Drängelei, Unruhe – das alles kann man im Inneren der Bahn beobachten. Als der Fahrer beschleunigt und durchdreht, bricht ein Chaos aus. Er fragt verständnislos: „Wohin sind wir ausgezogen? Wohin wollten wir denn ein mal hin?“
Ein weiterer Handlungsstrang ist die Geschichte zweier chinesischer Arbeiter, die ihre Heimat Henan Zhengzhou verlassen, um nach dem Europäischen Traum zu greifen. Letztendlich landen sie in Italien in einer ähnlichen Fabrik unter ebenfalls schlechten Arbeitsbedingungen – „made Italy, made Europe“. Interessant ist bei diesem Dialog, dass Sie (Laura Maria Hänsel) und der Schneider (Jon-Kaare Koppe) in der dritten Person erzählen.
Der vorgehaltene Spiegel
Die Inszenierung von Peters ist rasant, schnelllebig, pulsierend und sehr aktuell. Die Zuschauer_innen bekommen stark zu spüren, dass sie einen Spiegel vorgehalten bekommen. Die Wahrheit ist oft unbequem. Besonders wenn sie in so einer geballten Vielfalt auf der Bühne explodiert.
Das ist es, was Theater zeigen soll. Es soll die Probleme in der Gesellschaft abbilden und reflektieren. Zum Einen müssen wir die Vergangenheit reflektieren, um aus unseren Fehlern zu lernen. Zum Anderen müssen wir beobachten, was in der Gegenwart passiert, um mögliche Katastrophen zu verhindern und die Zukunft zu verbessern. Gerne weiter so!
„In Zeiten des abnehmenden Lichts“, am 30.9., 7.,13. und 14.10. jeweils um 19.30 Uhr im Großen Haus des Hans Otto Theaters
„Paradies spielen“, am 7., 20. und 31.10. jeweils um 19.30 Uhr in der Reithalle des Hans Otto Theaters
Eine Antwort auf „Den Spiegel vorgehalten bekommen“