„Studieren war für mich eine Befreiung“

Als DDR-Abiturient überraschte Michael „Bodenski“ Boden die Wende. Nachdem es mit dem Studium in Berlin erst nicht klappt, werden nach der Wiedervereinigung die Karten neu gemischt. Das führt ihn an die eben erst neugegründete Universität Potsdam, an der er ein Magisterstudium der Germanistik und Soziologie beginnt. Nun traf sich die speakUP mit Bodenski, heute freischaffender Künstler und einer der Gründer der Potsdamer Musikgruppe „Subway to Sally“, und gewährte Einblicke in fast zwei Jahrzehnte zurückliegende Uni-Tage.

speakUP: Herr Boden, existierte zu ihrer Studienzeit eigentlich schon das gängige Klischée, dass sich in den Geisteswissenschaften nur zukünftige Taxifahrer_innen oder Imbissbuden-Mitarbeiter_innen sammeln?

Bodenski: Natürlich. Aber es hat mich nicht weiter beeinflusst. Bei mir war die Motivation, zu studieren, eine ganz andere. Nach meiner Abiturzeit in der DDR, die 1984 endete, bekam ich keinen Studienplatz. Ich bewarb mich an verschiedenen Hochschulen, an denen es nicht klappte, weil meine Bewerbung nicht gut genug war. Daher probierte ich mich erst einmal im Berufsleben aus, war Aufnahmeleiter bei der DEFA (Deutschen Film AG, Anmerk. d. Red.), arbeitete bei den Kulturhäusern Potsdam. Ich wusste nicht, wohin die Reise geht. Dann kam plötzlich die Wende – und bot mir neue Möglichkeiten. Darum versuchte ich es ein weiteres Mal, trotzdem ich 1992 zum Studienstart bereits 27 Jahre alt war, mit einem geisteswissenschaftlichen Studium.

speakUP: Sie sind schon seit über zwei Jahrzehnten mit „Subway to Sally“ aktiv. Die Gründung geht etwa auf den Zeitraum zurück, als Sie ihr Magisterstudium in ihrer Heimatstadt Potsdam begannen. Was führte Sie damals, trotz des Musikprojekts, an die neu gegründete Universität Potsdam?

Bodenski: Als ich nach der Wiedervereinigung in Berlin mein DDR-Abiturzeugnis neu bewerten ließ, bewarb ich mich zunächst erneut an Berliner Hochschulen wie TU und FU – ohne Erfolg. Denn kurz nach der Wende wollte jede_r DDR-Abiturient_in dorthin. Und ich eben auch.

speakUP: Da kam ihnen die neu gegründete Universität Potsdam also wie gelegen?

Bodenski: Genau. Eine Bekannte machte mich darauf aufmerksam, dass sich in Potsdam, quasi vor meiner Haustür, eine neue Universität gründete und entwickelte. Anschließend fuhr ich zum Neuen Palais und fragte an, wie es mit einem Germanistikstudium aussieht und es gab schnell seitens der Uni grünes Licht. Ich reichte meine Unterlagen ein und bin sofort angenommen worden. Mit dem nächsten beginnenden Semester startete dann auch 1992 mein Studium an der Uni Potsdam.

speakUP: Wie ließen sich Musik und Studium vereinbaren?

Bodenski: Da die Musik am Anfang noch nicht so dominant war, ließ sich das wunderbar vereinbaren. Dieses Konstrukt, ein Student zu sein und nebenbei erste Schritte im Musikbusiness zu machen, war für mich ideal. Denn als Student genoss ich damals viele Freiheiten und konnte mir meinen Stundenplan großzügig zusammenbauen. Da ließen sich 1992 auch ohne Weiteres vielleicht 20 Auftritte im Jahr und eine Albumproduktion mit „Subway to Sally“ vereinbaren.

speakUP: Fühlten Sie sich beim Studienstart als „alter Hase“ unter vielen jüngeren Student_innen? Oder war das Plus an Lebenserfahrung sogar ein Vorteil?

 

Bodenski: Ich glaube, dass das ein kleiner Vorteil war. Denn mit wenigen Ausnahmen waren die anderen Studis fünf bis sieben Jahre jünger. Gerade die Mädchen kamen meist direkt mit dem Abi in der Tasche an die Uni, während bei den Jungs noch der Wehrdienst dazwischen war. Da trug mein Alter irgendwie dazu bei, dass ich mit einem anderen Selbstverständnis und einer anderen Lebenserfahrung ins Studium startete. Damit besaß ich auch einen anderen Draht zu Dozent_innen, die teilweise nur wenige Jahre älter waren als ich selbst.

speakUP: An welchem Campus waren Sie „zu Hause“?

Bodenski: Ich war oft draußen in Golm, da sich dort überwiegend die Germanistik abspielte, während die Sozialwissenschaften in Babelsberg waren. Da musste ich beim Stundenplanbau aufpassen, weil pendeln angesagt war.

speakUP: Was war mit dem Neuen Palais, wo sich heute die Geisteswissenschaften wiederfinden?
Bodenski: Das Neue Palais war damals noch eine Baustelle, auf der zwar schon vereinzelt Vorlesungsäle existierten, viel mehr aber noch nicht. Dort saß allerdings schon die Uni-Verwaltung. Auch die Geschichtswissenschaften, in denen ich mich in meiner Anfangszeit versuchte, waren ebenfalls schon am Neuen Palais. Dennoch: So schön, wie es dort heute ist, war es damals noch nicht annähernd.

speakUP: Für die heutigen Studierenden sind digitale Medien im Studienalltag nicht mehr wegzudenken. Die Kurs- und Prüfungsanmeldung läuft zum Beispiel überwiegend online ab. Wie digital und elektronisch war ihre Studienzeit?

Bodenski: Daran war noch nicht zu denken. Es ging gerade langsam mit Computern los. Bis zum Ende meines Studiums 1996 spielte das Internet an der Uni Potsdam für mich überhaupt keine Rolle. Computer irgendwann allerdings schon, sodass ich auch meine Seminararbeiten schon mit einem PC anfertigte und ausdruckte. Aber das Vorlesungsverzeichnis herunterladen, sich online für Kurse anmelden etc. – undenkbar.  Auch der gesamte administrative Bereich war vollkommen analog.

speakUP: Wie lief die Anmeldung für Lehrveranstaltungen ab? Gab es Anmeldelisten, auf denen immer das große Gedränge um die jeweiligen Lieblingskurse begann?

Bodenski: Bevor das Semester startete, gab es ein in A5-Heften angelegtes Vorlesungsverzeichnis, aus dem man sich seine Lehrveranstaltungen auswählte. Dann ging man zum Aushang an der Uni, schrieb sich ein – und die Sache war durch. Ich kann mich nicht erinnern, dass ich mal keine Zulassung für einen Kurs erhielt.

speakUP: Wie voll oder leer waren Seminare, Vorlesungen etc. überhaupt? Heute zwängen sich teilweise über 100 Studis in einen Seminarraum.

Bodenski: Zu meiner Studienzeit war die Studierendenzahl an der Uni Potsdam sehr entspannt. In den Kursen saßen maximal 15 bis 20 Leute, was sie lehrreich und intensiv machte. So konnte man in einen durchaus ideenreichen Austausch mit den Dozent_innen kommen. Klar: Es gab auch langweilige Kurse oder solche, in denen man nur den Leistungsschein haben wollte. In den Lehrveranstaltungen, die ich mir allerdings aus Interesse heraussuchte und in denen ich mit dem Herzen dabei war, konnte man wirklich gut arbeiten. Wir sind dann auch gemeinsam im Kurs Kaffeetrinken gegangen, sodass sich ein konstruktives Verhältnis entwickelte. Wenn in einem Seminar von zehn Leuten drei Student_innen fehlten, gingen wir einfach in die Cafeteria und machten in entspannter Atmosphäre unser Seminar. Schließlich lebt die Literaturwissenschaft vom Gedankenaustausch im Gespräch – was natürlich auch dort ohne Probleme möglich war.

speakUP: Das heutige Studium ist geprägt vom Druck der Regelstudienzeit: drei Jahre Bachelor, zwei Jahre Master. Gab es bei Ihrem Studium damals auch solche strengen Zeitvorgaben?

Bodenski: Es gab, trotz der entspannten Studiensituation, schon einen gewissen Zeitdruck. So sollte man in vier Semestern sein Grundstudium und anschließend in weiteren vier Semestern sein Hauptstudium absolvieren, um das Studium dann mit der Magisterarbeit zu beenden. In viereinhalb Jahren sollte das damals theoretisch zu schaffen sein, was aber kaum der Fall war.

speakUP: Und als die Zahl der Konzerte pro Jahr anstieg und ihre Karriere als Musiker ins Rollen kam, blieb keine Zeit mehr, um das Magisterstudium zu beenden.

Bodenski: So war es. Die letzten beiden Semester war ich schon eher nicht mehr anwesend. Dafür blieb dann neben der Musik keine Zeit mehr. Wie auch? Mit 110 Konzerten im Jahr war ich vollkommen ausgelastet. Darum ließ ich mich exmatrikulieren, auch weil mein Lebensplan zu diesem Zeitpunkt ein anderer als zu Beginn meines Studiums war. Denn Musiker_in werden und davon zu leben, lässt sich damals wie heute ganz schwer planen.

speakUP: Sie befanden sich 1996 kurz vor der Zielgeraden ihres Studiums, als Sie sich exmatrikulierten. Heutzutage müsste man sich für fünf Jahre des Studiums mit anschließendem Abbruch vor manchen rechtfertigten, gar entschuldigen, weil man nach Jahren trotzdem ohne Abschluss dasteht. Beeinflusste der Studienabbruch ihre Karriere in irgendeiner Form negativ?

Bodenski: Nein. Die Entscheidung für das Studium entstand für mich aus absoluter Freiheit heraus. Für mich war das Studium damals die Befreiung. Ich versuchte mich über Jahre im Berufsleben, wo mir Leute vorschrieben, was ich zu tun und zu lassen habe. Im Gegensatz dazu war das Studium die Befreiung. Der Übergang in mein freischaffendes Musikerdasein vollzog sich dann parallel zu meiner Studienzeit, sodass ich die Exmatrikulation letztlich ganz allein mit mir selbst vereinbaren und mit meiner Entscheidung leben musste. Ansonsten bescherte mir das keinerlei Probleme.

speakUP: Würden sie heute noch einmal, wenn es die Musik nicht gäbe, ein geisteswissenschaftliches Hochschulstudium beginnen?

Bodenski: Ja, absolut. Ich glaube, das geisteswissenschaftliche Studium macht heutzutage richtig viel Spaß, allein weil man ganz andere Recherchemöglichkeiten besitzt, einen viel schnelleren Zugriff auf Dinge erhält. Dadurch neigt man aber eventuell auch dazu, sich zu verzetteln – und mit dem Einhalten der Regelstudienzeit Probleme zu bekommen.

speakUP: Woran erinnern Sie sich aus den fünf Jahren Studium noch heute gerne?

Bodenski: Irgendwann kam ein Sprachwissenschaftsdozent namens Peter Eisenberg an die Uni, als ich mich schon auf Literaturwissenschaften spezialisierte. Ich besuchte seine Vorlesungen – und war hin und weg, wie er auftrat, sein Wissen vermittelte. Wäre er eher dort gewesen, hätte ich wohlmöglich ganz andere Schwerpunkte in meinem Studium gesetzt. Einmalig waren außerdem auch meine Hölderlin-Seminare auf der Wiese. Die waren eigentlich Inseln der Glückseligkeit, wenn man sich durch ein solch luxuriöses Thema mühsam durcharbeitete, was im Alltag fast niemanden weiter interessiert.

speakUP: Das klingt nach einer idyllischen Studienzeit.

Bodenski: Man erinnert sich eben besonders an die schönen Dinge. Gemessen an den heutigen Verhältnissen kann man aber wohl schon sagen, dass es um einiges ruhiger, entspannter, vielleicht sogar idyllischer war. Trotzdem gab es natürlich auch langweilige Sachen. Besonders schlimm waren meist die Vorlesungen, die nach dem Mittagessen stattfanden, wo es immer sehr schwer war, wach zu bleiben.

speakUP: Wenn Sie den heutigen Studierenden einen Tipp mit auf den Weg geben könnten, der nicht schon in jedem Studienratgeber steht: Welcher wäre es?

Bodenski: Ich möchte ungern jemandem einen Tipp geben. Zumal meine Biografie für Studierende absolut nicht typisch ist. Wie gesagt: Das Studium war für mich persönlich ein Stück Befreiung und die Chance nach der Wende, mich erst einmal in dieser neuen Zeit zu sammeln und anzukommen. Trotzdem sollte man – früher wie heute – unbedingt darauf achten, dass man mit dem Herzen studiert, seinen Interessen folgt. Denn nur daraus kannst du später etwas für dich ziehen. Nur das ist das, worauf du im späteren Leben zurückgreifen kannst. Pflichtmodule hin oder her: Wenn du nicht vollkommen hinter deinem Studium stehst, kein wirkliches Interesse daran hat, dann bringt es dich auch persönlich nicht weiter.

speakUP: Welche kreativen Werke von „Bodenski“ können die Potsdamer Student_innen hören, sehen oder lesen?

Bodenski: Neben „Subway to Sally“ startete ich ab 2005 einige Soloprojekte, da man in einer Band thematisch nicht alles umsetzen kann, was einen sonst noch interessiert. Darum erschien zum Beispiel mein Gedichtband „inniglich“. Zudem veröffentlichte ich 2012 das Soloalbum „Auto!“. Darauf aufbauend würde ich gerne ein Nachfolgealbum produzieren und das vielleicht auf die Bühne bringen. Genaueres dazu muss ich mir allerdings noch überlegen.

speakUP: Vielen Dank für das Interview.

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