Es ist ein früher Abend im Sommersemester 2024 am Campus Griebnitzsee. In einem der größten Hörsäle drängen sich Studierende. Prof. Dr. Schladebach, LL.M. und die Liberale Hochschulgruppe (LHG) veranstalten den 19. juristischen Salon an der Juristischen sowie Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät. Als „Schwergewichte“ in Sachen Meinungsfreiheit und parlamentarischer Debattenkultur zum „Streitgespräch“ geladen: Dr. Gregor Gysi (Die Linke) und Wolfgang Kubicki (Freie Demokratische Partei (FDP)). Von Emily Scholz.
Bevor es jedoch dazu kam, verwiesen einleitende Worte des Kanzlers der Universität Potsdam, Hendrik Woithe, und von Matthias Weingärtner, Mitglied des Studierendenparlaments (StuPa) für die Liberale Hochschulgruppe (LHG), auf den historischen Hintergrund des Campus auf der „Nahtstelle“ zwischen Potsdam und dem westlichen Berlin. Auch die Rotkäppchen-Skulpturen an den Eingängen mit den Spuren des „lauernden“ Wolfes deuten darauf hin.
Die Einleitenden führten an, dass der Diskurs generell zu fördern sei. Gerade Hochschulen leisteten wichtige Beiträge, gesellschaftliche Krisen anzugehen. So hatte die Ankündigung zur Veranstaltung gelautet, es würde zu Meinungsfreiheit, Initiativen der Demokratiewahrung und bezüglich der Debatte um Migration diskutiert werden.
Die Meinungsfreiheit ist „konstituierend“ für die Demokratie
Prof. Dr. Schladebach leitete moderierend ein zur Rechtsdogmatik über die Meinungsfreiheit. Meinungen sind im juristischen Jargon „Werturteile, die durch ein Dafürhalten im Rahmen einer geistigen Auseinandersetzung geprägt sind“ (BVerfGE 61, 1, (8 f.)). Deren freien Ausdruck zu schützen, ist ein zentrales Recht der Demokratie und wurde vom Bundesverfassungsgericht (BVerfG) als „schlechthin konstituierend für eine freiheitlich-demokratische Staatsordnung“ charakterisiert.
Abzugrenzen sind von der Ausübung des Rechts auf freie Meinungsäußerung Fälle ohne Bezug zur Sache, welche als „Schmähkritik“ in Abgrenzung zu beispielsweise „Formalbeleidigungen“ juristisch mit Fingerspitzengefühl zu behandeln sind. Dies erörterten die beiden Juristen Gysi und Kubicki geübt und am Einzelfall. „Es kommt auch darauf an, was man sich bieten lässt“, stellte Gysi fest. Gegen falsche Tatsachenbehauptungen habe er lernen müssen, sich zu wehren.
Laut dem Vizepräsidenten des Deutschen Bundestages, Kubicki, zeichne sich Diskurs durch freie Rede aus. So bemerkte er, abgelesene Reden seien schließlich langweilig.
Kritisch merkte Gysi die Verrohung von Debatten und Hasskommentare im Raum sozialer Medien an. Er verwies diesbezüglich auf die Entscheidung des BVerfG im Fall Renate Künasts.
Darin, dass eine demokratische Auseinandersetzung verlangt, einander zuzuhören und sich mit Respekt zu begegnen (Kubicki), auch wenn Meinungen im demokratischen Spektrum weit auseinanderliegen, blieben sich die Diskutanten einig.
Auch wenn Meinungen von Kontrahenten gänzlich andere sind, sind sie auf die Straße getragen, schützenswert, so Gysi.
Instrumente einer wehrhaften Demokratie: Parteiverbotsverfahren und Unabhängigkeit des Bundesverfassungsgerichts
Einen weiteren Schwerpunkt des Gesprächs bildeten die Veränderungen, die die Parlamentarier seit dem Einzug der AfD in den Bundestag erlebt haben. Insgesamt sei man vorsichtiger geworden, mit wem man spreche.
Unabhängig von der Frage nach der Durchführung eines Parteiverbotsverfahrens verwies Kubicki auf den Umstand, dass Dinge, die politisch nicht gut gelaufen seien, angegangen werden müssten. Er schlussfolgerte, „die beste Demokratieförderung ist gute Politik“.
Dies bekräftigte Gysi, indem er erläuterte, dass die politische Sprache oft erst „übersetzt“, also für Nicht-Politiker:innen verständlich kommuniziert werden sollte. Es komme auf das Vertrauen in der Bevölkerung an. Dieses wachse, wenn Politik wieder berechenbarer werde.
Der Moderator des Abends, Prof. Dr. Schladebach, thematisierte weiterhin die Frage nach dem Schutz der Unabhängigkeit des Bundesverfassungsgerichts als dem
okratiesichernde Maßnahme. Ohne unabhängige Justiz schließlich keine Rechtsstaatlichkeit. Abhilfe könne hier eine verfassungsrechtliche statt der bislang einfachgesetzlichen Norm zur Zusammensetzung des höchsten Gerichts der Bundesrepublik schaffen.
75 Jahre Grundgesetz – Ein Blick in die Verfassungsgeschichte
Zum 75. Geburtstag des Grundgesetzes wurde in die deutsch-deutsche Verfassungsgeschichte geblickt. Dass gemachte Lebenserfahrungen aus der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) als verfassungsrechtliche Elemente nach dem Mauerfall 1989 nicht Eingang in das Grundgesetz (GG) gefunden haben, kann als verpasste Chance gesehen werden, so Gysi. Vormalige Ostdeutsche haben so nie erleben können, eigene, für die Gesamtbevölkerung gewinnbringende erlebte Lebensrealitäten aus der DDR-Zeit verfassungsrechtlich widergespiegelt zu sehen.
Zwar seien Sparsamkeit und Gleichstellung der Geschlechter im Beruf vor allem ökonomisch und nicht ökologisch oder geschlechterpolitisch begründet gewesen. Jedoch hätte eine gemeinsame Lösung neben dem Beitritt gem. Art. 23 GG (i.d. Fassung v. 1949) womöglich später entstandene Entfremdungen zwischen „Ost“ und „West“ abmildern können. Gysi verwies diesbezüglich auf Verhandlungsergebnisse des „runden Tisches“. An diesem hatten Repräsentanten der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) mit Vertretenden der Opposition ab Dezember 1989 eine Verfassung erarbeitet.
Kubicki unterstrich derweil insbesondere den einzigartigen Charakter des Grundgesetzes (GG), welches mit der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 S. 1 GG) beginnend, die Grundlage für das demokratische Zusammenleben sehr gut bilde und als Lehre aus dem dritten Reich alle Menschen in ihrer Verschiedenartigkeit gleich adressiere.
Hier betonte Gysi die sozialstaatliche Implikation, welche Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG insofern ausdrückt, dass die Verteidigung der Menschenwürde vor allem Aufgabe des Staates ist. So müsse die Räumung in die Obdachlosigkeit unzulässig sein, denn jeder Mensch habe einen Anspruch auf Wohnung (vgl. Art. 11 Abs. 1 UN-Sozialpakt).
Versammlungsfreiheit nach wie vor gewährleistet
Für Universitäten als Orte der wissenschaftlich fundierten Meinungsbildung, aber auch „Versachlichung“ polarisierter Diskurse ist die Meinungs- wie die Versammlungsfreiheit von nicht zu vernachlässigender Bedeutung.
Neben der Meinungsfreiheit ist auch die Versammlungsfreiheit als verfassungsrechtlich verankertes Grundrecht mit Meinungsäußerungsbezug ein solch fundamentales der vielfältigen Demokratie. Stattfindende Proteste an Universitäten dürfen ihrem Bedeutungsgehalt hinsichtlich dieser Freiheiten also nicht vernachlässigt werden.
So verwies der Die Linke-Politiker auf das nach wie vor geltende Recht zur Versammlungsfreiheit, als aus dem Publikum die Frage gestellt wurde, ob die Diskutanten durch polizeiliches Eingreifen bei solidarisch-palästinensischen Protesten, das Recht auf die Meinungsfreiheit in Gefahr sähen.
Mangelt es an Repräsentanz junger Wähler:innen?
Die Erwartung vieler Studierender, es würde sich um ein juristisches Streitgespräch handeln, wurde zwar nicht hinsichtlich aller angekündigten Thematiken erfüllt. Ferner wurden Fragen aus dem Publikum nicht immer in der „Sache“ beantwortet:
Auf die Frage, wie der Vereinnahmung von Reichweite im digitalen Raum durch rechte Inhalte zu begegnen sei, wusste Bundestagsvizepräsident Kubicki keine weiterführende Antwort, als dass Fragen zum digitalen Raum eher an jüngere Ansprechpartner:innen zu stellen seien.
Das im Wahljahr junge Menschen beschäftigende Thema, ob aus dem demografischen Verhältnis der alternden Bevölkerung ein demokratisches Problem erwachsen könne, traf auf Gysis Zustimmung. Er verwies indes auf die Problematik, dass die ältere Wahlbevölkerung allein über die Fünfprozenthürde verhelfen könne, im Vergleich zu jüngeren Wählenden, so dass ältere Bevölkerungsanteile mit höheren Stimmanteilen aus parteipolitischer Sicht maßgeblicher seien.
An die Veranstaltenden richtet sich indes die Frage, warum zu einem solch fakultäts-prominenten Salon kein diverseres Podium geladen wird. Aus Gründen der ungleich verteilten Möglichkeiten an Partizipation sollte dies gerade in Zeiten multipler gesellschaftlicher Krisen eine Selbstverständlichkeit sein.
Was sagt uns das als emanzipierte Studierende?
Dennoch verließ die Studierendenschaft nicht hoffnungslos den Raum. Das Gehörte kann umso mehr dazu ermutigen, sich selbst gesellschaftspolitisch zu engagieren. Und sei es der Gang zur Wahl des StuPa.
Denn als Ort der Debatte und wissenschaftlichen Meinungsbildung können Universitäten und ihre Gremien einen wichtigen Teil dazu beitragen, dem gestiegenen Anteil rechter bis rechtsextremistischer Einstellungen in der jüngeren Bevölkerung entgegenzuwirken.
Denn neben guter Politik als demokratieförderndes Mittel entsteht gleichberechtigte Teilhabe nicht durch Vereinzelung im Netz, sondern durch echten Diskurs und Meinungsaustausch im öffentlichen sozialen Raum.
Am hiesigen Campus der Gesellschaftswissenschaften wirken die vom künstlerischen Kollektiv „Inges Idee“ im Jahr 2011 aufgestellten Rotkäppchen als Mahnmal an den Nationalsozialismus sowie die spätere SED-Diktatur als Hinweis mit Symbolgehalt auf „ein durch totalitäre Kräfte bedrohtes Individuum“.
Dies hat in Anbetracht des derzeitigen Ringens um funktionierenden demokratischen Dialog im Superwahljahr 2024 nichts an Aktualität verloren. Abzusehen bleibt, ob es die vielfältige Debatte auf Augenhöhe ist, die eine plurale Demokratie am Leben zu erhalten vermag.