Eine Jurastudentin beleidigt in einer Klausur ihren Professor, dieser erstattet daraufhin Anzeige. Der Fall ging Anfang März durch die Presse und regt seitdem Diskussionen an, wie Existenzängste das Studium gefährden und was dagegen unternommen werden muss. Ein Kommentar von Vinzenz Lange.
Am 4. März 2014 tauchte die Universität Potsdam mit einem Skandal in der Märkischen Allgemeinen auf: Eine Jurastudentin hatte in einer Schuldrechtsklausur Professor Detlev Belling, der unter anderem die Klausur erstellt hatte, schriftlich mit wüsten Beschimpfungen überzogen, die so weit gingen, dass der Professor kurzerhand Klage wegen Beleidigung einreichte, da er sich sexueller Belästigung ausgesetzt fühlte. Laut MAZ sei das Motiv der Studentin, die sich zum Zeitpunkt der Klausur im vierten Semester befand, das Klausurthema, das in der Vorlesung nur kurz angesprochen wurde und nach Aussage der Studentin nicht relevant für die Klausur gewesen sei. So hätten es die Dozierenden zumindest angekündigt. Hier habe sie keine Chance gehabt, die Klausur zu bestehen und somit hätten ihr die entsprechenden Leistungen gefehlt, um die Fortsetzung der BAföG-Auszahlung beantragen zu können. Aus Sicht der Kommilitonin hätte ihr nur noch ein Weg des Gelderwerbs offen gestanden: der der Prostitution in einem Bordell.
Seitdem ist der Fall in aller Munde: Von bundesweiten Auseinandersetzungen in Internetforen und sozialen Netzwerken, über einen Artikel bei Spiegel Online, bis hin zu Äußerungen der Brandenburgischen Studierendenvertretun (Brandstuve) und der Referentin für Geschlechterpolitik des Asta, Claudia Sprengel. In der Tat ist dieser Fall exemplarisch für viele Problemfälle, die an einer Universität anfallen können.
Mittlerweile hat sich die Studentin persönlich bei Professor Belling entschuldigt und dieser hat die Klage zurückgezogen. Trotzdem scheinen hier tiefer liegende Probleme an den Tag zu treten, die uns alle betreffen können. Was sind die Gründe dafür, dass es zu einem solchen Ausrutscher kommt?
Zum einen spricht aus den Beschimpfungen – so arg sie auch gewesen sein mögen – tiefe Verzweiflung. Wir alle kennen den Leistungsdruck, den Klausuren ausüben können. Gerade in einem so arbeitsaufwändigen Fach wie Jura ist die Leistungsgrenze mehr als einmal erreicht und muss doch immer wieder überschritten werden. Sorgenvolle Gespräche der Kommilitonen machen es nicht besser. Auch in den zwei Semestern, in denen ich mich an Jura versucht habe, hörte ich immer wieder, dass nur mit überdurchschnittlichen Leistungen in der juristischen Welt später Geld zu verdienen wäre. Aber was, wenn nach mindestens neun Semestern die Ergebnisse der zwei Staatsexamennur durchschnittlich sind? War dann das ganze Studium vergebens? All die Mühe und Lebenszeit, die darin steckt? Wenn ein Professor zudem noch mit Äußerungen wie „Ihr Sitznachbar wird nächstes Semester weg sein“ die Sachlage des Studienabbruchs oder Wechsels zwar realistisch, für Studierende aber beängstigend einschätzt, geht der Mut gänzlich verloren. Genau dann wird wieder deutlich, was auch schon in den Studierendenprotesten kritisiert wurde: die Universität, die nicht mehr Institution von Wissen, Denken und Forschung ist, sondern nur noch ein Trainingslager für den späteren Überlebenskampf in der Industrie, Wirtschaft und den Arbeitsmarkt. Natürlich ist das Leben nicht immer fair, wie viele jetzt behaupten werden und stellt harte Prüfungen an uns – nicht nur in Klausurform, die allesamt durchgestanden werden müssen. Doch der Ausbruch der Studentin zeugt auch von einer akuten Existenzangst, die die Beleidigungen zwar nicht rechtfertigt, aber sehr gut erklärt. Schließlich sollten wir uns alle im Klaren darüber sein, dass Verzweiflung und Angst uns alle Dinge tun lassen können, die womöglich sogar unseren eigenen Idealen oder Überzeugungen zuwiderlaufen (und auch diese Fälle kennt unser Gesetz sehr gut). Hier spricht keine Boshaftigkeit oder mangelnde Intelligenz, sondern eine Sorge, die die meisten von uns nur zu gut kennen: das Geld. Das, was ein studentisches Leben kostet, ist zugleich auch der Wert unserer Rationalität.
Auch zu diesem Thema sind die Diskussionen bekannt: Soll das BAföG einfacher zu bekommen sein? Wie hoch darf der Semesterbeitrag sein? Wie viel darf Bildung kosten, wenn sie überhaupt etwas kosten darf? Wir sehen an diesem Fall, dass die Diskussion um dieses Thema noch lange nicht beendet sind, im Gegenteil: Viele offene Fragen sind noch lange nicht beantwortet sind. Zudem ist Prostitution für das Studium ein Phänomen, das erschreckend oft vorkommt. Immerhin müssen knapp 4 Prozent der Studierenden aus Berlin ihren Körper und ihre Würde verkaufen, um genug Geld für das Studium zu haben. Aber auch alle anderen möglichen Gründe sind uns zu gut bekannt: Das Gefühl, mit den eigenen Sorgen allein zu sein, Orientierungslosigkeit in den uniinternen Abläufen und überhaupt im eigenen Leben werden uns alle mindestens einmal in unserem Studienleben heimsuchen. Darum ist es wichtig, dass wir alle auf unsere Mitstudierenden eingehen und uns so gut es geht gegenseitig durch den Unialltag helfen. Schon allein aus dem Grunde, damit aus einer Beleidigung nicht mehr wird. Immerhin sitzen wir im selben Boot und sind dafür selbst verantwortlich, dass es nicht kentert. Von den Dozierenden und der Universitätsleitung ist allerdings ebenfalls zu verlangen, dabei tatkräftig mitzuhelfen, dass das Studium nicht zu einem Schrecken ohne Ende wird. Entsprechende Programme müssen weiterhin unterstützt und ausgebaut werden.
Nach meiner Ansicht richten Menschen „bösen“, unmoralischen oder verletzenden Schaden niemals ohne Grund an. Das gilt nicht nur für die Studentin, sondern auch überall für unser gesellschaftliches Leben. Das schützt natürlich nicht vor einer angemessenen Strafe, doch dürfen wir uns niemals dazu versteigen, Menschen aufgrund des begangen Vergehens oder Verbrechens im menschlichen Dasein oder Charakter herabzustufen oder zu verdammen. Wir sollten uns auch stets die Ursachen einer Regelverletzung klarmachen – und dies umso mehr, desto schwerer die Verletzung war. Auch eine Lektion, die ich im Jurastudium gelernt habe.
Den Druck macht man sich selbst, nicht die Universität. Es wird niemand gezwungen in der Regelstudienzeit abzuschließen. Jeder hat die Möglichkeit neben dem Studium einer Beschäftigung nachzugehen, die einem den Lebensunterhalt sichert. Das man dafür länger im Studium braucht ist in vielen Fällen sogar positiv, wenn man schon Berufserfahrung im betreffenden Fach sammelt. Diese Existenzangst könnte ich beim zweiten Fehlversuch im Staatsexamen nachvollziehen, so aber nicht. Was hier bleibt ist eine verbitterte Studentin, die mal mit ihrem Leben klar kommen und begreifen muss, dass einem im Leben nichts geschenkt wird – was sie wohl beim Bafög gedacht hat.