Es gibt viele Nebenjobs, denen Studierende nachgehen können: Ob ganz klassisch als Kellner_in, kleine Aushilfe in Geschäften oder als Nachhilfelehrer_in. Laut einer Studie entscheiden sich knapp vier Prozent der Studierenden (in Berlin) für einen Job in der Erotikbranche. Welche Beweggründe und welche Menschen stehen hinter dieser Entscheidung? Über ein Tabu, das keines mehr ist. Von Souher Nassabieh.
Nadine studiert Geisteswissenschaften im vierten Fachsemester. Heute trägt sie einen etwas weiteren Pulli mit einer engen Jeans. Das rote Haar umgarnt ihr blasses Gesicht. Die tiefblauen Augen scheinen gut zur restlichen Gestalt zu passen. Nadine wohnt in einer kleinen Zweizimmerwohnung im Herzen Berlins. Sie finanziert sich diese wie auch alles andere aus eigener Kasse. Am Tag studiert Nadine, nach der Uni unterscheidet sie sich aber von vielen ihrer Kommilitonen. Nadine arbeitet als Prostituierte.
Was hier Fiktion ist, trifft auf 3,7 Prozent der Studierenden in Berlin zu.
Mit der Einführung des „Prostitutionsgesetz“ im Jahr 2002 unter der damaligen rot-grünen Regierung avancierte sich Deutschland zu einem der liberalsten Länder weltweit in der Regelung der Prostitution. Das Herauslösen der Prostitution aus der sogenannten „Sittenwidrigkeit“ und die Legalisierung der Tätigkeit führte zu einem Boom des Sextourismus in Deutschland. Die Aufnahme Rumäniens und Bulgariens in die europäische Staatengemeinschaft und der damit einhergehende Zustrom junger Frauen führte zu einem Preisverfall. Flatrate-Bordelle etablierten sich, Sex in Berlin gibt es bereits für wenige Euros und für 100 Euro so oft und so lange man(n) will oder kann.
Gute zehn Jahre nach der Legalisierung der Prostitution werden zunehmend Stimmen lauter, die der hiesigen Entwicklung skeptisch entgegensehen. Politiker, Frauenorganisationen und Prostituierte selbst sehen das gutgemeinte Gesetz eher Zuhältern unter die Arme greifend. Streetworkerin Andrea Weppert sagte in einem Spiegel-Interview, dass die Arbeitsbedingungen für Prostituierte sich „in den letzten Jahren verschlechtert“ hätten, es werde „für weniger Geld wesentlich mehr Leistung unter riskanteren Bedingungen erbracht als noch vor zehn Jahren“.
Die am 10. Juni ausgestrahlte ARD-Dokumentation „Sex – Made in Germany“ beschäftigt sich mit den Veränderungen des Geschäfts nach der Aufwertung der Prostitution. Diese Aufwertung scheint sich dabei nicht nur gesetzlich vollzogen zu haben, sondern auch in den Köpfen vieler Studierender. Wie die letzte Erhebung zu diesem Thema „Nebenjob- Prostitution“ aus dem Jahr 2010 zeigt, können sich immer mehr Studierende vorstellen, im Rotlichtmilieu tätig zu werden. Rund vier Prozent arbeiten der Studio zufolge in der Branche. Dabei ist nicht nur Prostitution im engeren Sinn gemeint, sondern u.a. auch Begleitservice mit oder ohne sexuelle Interaktion, Striptease und Webcam-Dienste. Indes bieten über die Hälfte der studentischen Sexarbeiter_innen Prostitution im engeren Sinn an.
Geld als Hauptmotiv
Mit einem jährlichen Umsatz von 14,5 Milliarden im deutschen Erotikgewerbe liegt es nahe, dass das Geld als Hauptmotivation einer solchen Nebentätigkeit gilt.
Tatsächlich hat die Studie „Nebenjob: Prostitution“, bei der u.a. 3253 Studierende aus Berlin befragt wurden, genau dies ergeben. Für viele rentiere es sich nicht, für einen Stundenlohn von neun Euro oder weniger zu arbeiten, wenn es innerhalb weniger Stunden der Vielfache Verdienst sein kann. So bringt eine Vollzeitbeschäftigung in einem Bordell zum Teil bis zu 5.000 Euro die Woche ein. In den meisten Fällen liegt der Verdienst weit darunter.
Die meisten der Studierenden erhalten dabei keine finanzielle Unterstützung, weder vom BAföG-Amt noch von den Eltern. Zwar gilt laut Studie das Geld als der primäre Beweggrund, aber Studierende gaben als untergeordnete Motivationen auch die Suche nach Erfahrungen, das Ausleben sexueller Neigungen, Neugier sowie das Suchen nach Anerkennung an. Interessant ist, dass laut Studie männliche und weibliche Studierende ähnlich stark in dem Rotlicht-Gewerbe vertreten sind.
Welche Persönlichkeiten verbergen sich dahinter?
Hinsichtlich der Charakterausprägung ergaben sich interessante Unterschiede zwischen studentischen Sexarbeiter_innen und ihren Kommiliton_innen. So erweisen sich Studierende, die im Erotikgewerbe arbeiten, der Studie zufolge als emotional stabiler, ruhiger und entspannter, aber auch als egozentrischer und antagonistischer gegenüber anderen Menschen. Weiterhin seien knapp über die Hälfte der studentischen Sexarbeiter bi- oder homosexuell. Bei den restlichen Kommiliton_innen soll die Zahl bei etwa 14 Prozent liegen.
Laut Umfrage kann sich jeder dritte Befragte eine Nebentätigkeit im Bereich der Sexarbeit vorstellen kann – überwiegend dann, wenn die Bezahlung stimmt. Diese monetäre Haltung könnte ihrerseits mit den veränderten Bedingungen im Rahmen des Bologna-Prozesses zusammenhängen, der von Studierenden mehr Leistung in kürzerer Zeit beansprucht und wiederum weniger Zeit für finanzielle Erfordernisse offen lässt.
Prostitution als gesellschaftliches Problem?
Auch wenn die Umfrage erkennen lässt, dass Tätigkeiten in der Erotikbranche – zumindest bei den Berliner Studierenden – insgesamt weniger als verrucht und den Umständen entsprechend gar als eigene Nebentätigkeit vorstellbar sind, so kann dies von der Gesellschaft im Allgemeinen nicht behauptet werden.
Prostitution mitsamt der Erotikbranche wird als eine Art „Schattenwelt“ wahrgenommen – viel genutzt, aber wenig diskutiert. Dabei floriert die Sex- Branche regelrecht: Allein in Deutschland kaufen sich 1,2 Millionen Männer täglich Sex. Online-Dienste ermöglichen Erotik gemütlich vom Sofa aus. Durch das Internet und die damit ermöglichte Anonymität sinken Hemmschwellen zunehmend.
Wo liegen da die Grenzen? Sollte es denn Grenzen geben? Erleben wir derzeit einen Moralschwund, bei dem Geld das einzig ausschlaggebende Kriterium und die Rechtfertigung allen Handels zu sein scheint oder zeichnet sich vielmehr eine positive freiheitliche Entwicklung ab? Die einen sprechen über das Selbstbestimmungsrecht des Körpers und die Freiheit in der Ausübung der Berufswahl, wie Frau Dr. Fuhrich-Grubert, die Frauenbeauftragte der Humboldt-Universität. Die anderen über „bezahlte Vergewaltigung“ und Verdinglichung des Menschen, wo Prostituierte als reine Objekte wahrgenommen werden würden, wie Deutschlands bekannteste Feministin Alice Schwarzer meint.
Liegt da noch Freiheit vor, wenn die „19-jährige Jura-Studentin aus Hannover“ derzeit ihre Jungfräulichkeit auf gesext. de versteigert oder haben wir es hier viel mehr mit einer unfreiwilligen Freiwilligkeit zu tun? Wenn die Arbeitsbelastung unter den Studierenden weiter steigt und die Löhne in anderen Branchen weiter stagnieren, dann wird Prostitution immer mehr zum subtilen Zwang als zu einer freiwilligen und bewussten Entscheidung von Frauen und Männern, wie es sich Gesetzgeber_innen, Kund_innen und Gesellschaft gerne vorstellen.
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