In diesem Herbst wurde im Erlebnisquartier der Schiffsbauergasse in Potsdam vom 30. Oktober bis zum 03. November in Form von vierzehn innovativen Inszenierungen und 100 Künstler_innen aus Frankreich, Deutschland, Russland, Israel, den Niederlanden, der Schweiz, Tschechien, Litauen, Italien, Österreich und Belgien das 25-jährige Bestehen des internationalen Theaterfestivals Unidram gefeiert. Vom „losfahren“ im Kunstraum, Live-Musik und choreografischem Tanz während der Theaterinszenierungen, bis hin zu Künstler_innen aus Russland, die regelrecht in Öl-Fässern tauchen, war die speakUP dabei. Von Stella Vassillière.
„Losfahren“ und sich erinnern im Kunstraum
Die Künstler Henry Klix und Göran Gnaudschun haben für die Ausstellung „25 Jahre Unidram“ im Kunstraum des T-Werks seit 1998 einzelne flüchtige Augenblicke aus über 500 Inszenierungen fotografisch festgehalten. „Fotografien sammeln heißt“, so Susan Sontag, „die Welt sammeln“. Die Inszenierungen sollen bei den Theaterbesucher_innen in Erinnerung bleiben. Doch es bleibt nicht nur bei Fotografien, die in den Räumen an den Wänden hängen.
Betritt man den Eingangsbereich des Kunstraums, blickt man auf ein schwarzes, feststehendes Fahrrad, das mit „losfahren“ gekennzeichnet ist. Auf dem Fahrradkorb befindet sich ein Beamer, der Videoinstallationen von verschiedenen Straßen zeigt, wenn die Besucher_innen mutig auf das Fahrrad aufsteigen und in die Pedale treten. Es könnte einem das Gefühl geben, tatsächlich diese Straßen entlang zu fahren.
Die Wendeltreppe hinauf gelangt man in einen Raum, wo zahlreiche alte Koffer zum „ausprobieren“ stehen. Wenn man einen Koffer aufmacht und einen Knopf drückt, geht das Licht an, Musik ertönt und hinter einem kleinen Vorhang spielt ein Puppentheater im Miniaturformat. Ein Besuch im Kunstraum lohnt sich und eignet sich wunderbar als erster Eindruck des Unidram-Festivals, bevor man sich die Theaterinszenierungen anschaut.
Der Körper als Protagonist
Bereits in den letzten Jahren Unidram spielte das Thema „Körperbilder“ eine große Rolle. Dieses Jahr wurde dem Körper als Protagonisten besondere Aufmerksamkeit geschenkt. In der bereits ausverkauften russischen Theaterinszenierung „Demokratie“ von AHKE, welche zu den berühmtesten Künstler_innenkollektiven Russlands zählt, handelt es von dem Prinzip der Verschwendung sowie der „Ingeneursarbeit“ der Künstler_innen auf der Bühne.
Die Situation in Russland erinnert an die Epoche des Mittelalters. Vieles ist verboten und christliche Krieger_innen versuchen Kultur zu verhindern. Wenn dies kritisiert wird, kann man ins Gefängnis kommen. Aus dieser Situation muss sich befreit werden. Der Theatersaal ist neblig und die Stimmung unter den vielen Theaterbesucher_innen nervös. Es gibt keine Sitzplätze, daher sitzen viele Personen auf dem Boden. Es riecht nach Öl. Auf der Bühne stehen drei große blaue Fässer und dahinter hängen weiße Leinwände nebeneinander, die mit Fäden befestigt sind.
Nacheinander gehen drei in weiße Schutzkleidung uniformierte Männer die Bühne hinauf und stellen sich jeweils vor ein Fass. Im Hintergrund ertönt Drum-Musik, die die Stimmung noch spannender macht. Im Publikum ist es still und die Besucher_innen sind erwartungsvoll. Die Männer fangen an, mit Messern Brote zu zerschneiden, um sie dann später als Schwämme benutzen zu können. Sie bewegen sich langsam und dynamisch. Jede Bewegung scheint auf die andere abgestimmt zu sein.
Sie stopfen sich Brotkrümel in die Nase und in die Ohren. Ein englischer Monolog ertönt aus den Lautsprechern und es ist die Rede von „Demokratie“. Die Sprache wird immer lauter und aggressiver. Die Männer setzen sich Schutzbrillen auf und sägen gleichzeitig die Fässer auf. Helle Funken sprühen über die Bühne. Als alle Fässer geöffnet sind, tunken die Männer die zerschnittenen Brote in das schwarze Öl in den Fässern. Der Geruch von Öl verstärkt sich im Theatersaal. Erst tunken die Männer ihre Hände in das Öl des Fasses, dann steigen sie plötzlich mit den Füßen hinein und schließlich tauchen sie mit ihrem ganzen Körper in das Öl. Von Kopf bis Fuß sind sie schwarz gefärbt ohne eine Schutzbrille zu tragen.
Dann hängen sie sich jeweils an die von der Decke hängenden Seile und befestigen sich daran so, dass sie sich hoch und runter ziehen können. Es wird körperliche Arbeit symbolisiert. So tauchen sie immer wieder in das Öl und schließlich beginnen sie auszusteigen und auf der Bühne rutschend mit den „Brot-Schwämmen“ und dem Öl auf den weißen Leinwänden auf Russisch das Wort „Demokratie“ zu zeichnen. „Wer möchte die Bilder kaufen?“ fragen die Männer auf Englisch in das Publikum. Tatsächlich melden sich Personen und scheinen einem Kauf nicht abgeneigt zu sein. Eine Dame kauft sogar den „Brot-Schwamm“ aus Öl. Die Stimmung im Publikum lockert sich langsam wieder auf und es ertönt ein lauter Applaus.
Befreiungsversuche
Der Theatersaal der Fabrik ist bis auf den letzten Platz besucht. Bereits bevor es losgeht, stehen die Künstler_innen eingehüllt in schwarz-weißen riesigen Kostümen auf der Bühne. „Game Changer“ heißt die Theaterinszenierung des AURA Dance Theatre aus Litauen, welches von berühmten Choreograph_innen geleitet wird und professionelle internationale Tänzer_innen ausbildet. Während eine der zehn Tänzer_innen beginnt, mit einem überdimensionalen Würfel als Leine kontrollierend um die anderen Tänzer_innen herumzugehen, singt ein Sänger neben der Bühne. Neben ihm sitzt ein DJ und sorgt für die Musik.
Die Kostüme scheinen die Tänzer_innen einzuengen und sie einheitlich sowie anonym aussehen zu lassen. Sie versuchen sich davon zu befreien. Es wirkt alles sehr statisch und kontrolliert. Doch das Spiel erfährt eine Wendung. Sie beginnen ihre opulenten Kostüme auszuziehen und aus den Zwängen auszubrechen. Es gelingt ihnen. Eine Tänzerin tanzt noch auf einem Schuh und nach kurzer Zeit zieht sie auch diesen und ihr Kostüm aus.
Alle Tänzer_innen tragen jetzt bunte knappe Sportkleidung und die Stimmung im Saal wird aufgeheizt. Sie tanzen einzeln oder in der Gruppe. Doch insgesamt ist eine starke Gruppendynamik zu spüren. Die Zuschauer_innen wissen gar nicht mehr, wo sie zuerst hinschauen sollen – laute Musik und großartige tänzerische Leistung. Eine Tänzerin nimmt sich sogar das Mikrofon des Sängers und sagt auf Französisch: „Es gibt keine Dunkelheit“. Den Tänzer_innen ist es hervorragend gelungen die Freiheit, den Wandel und Dynamik zum Ausdruck zu bringen.
Das Leben durchspielen
Mit dem Tod assoziiert man normalerweise einen Zeitpunkt des endgültigen Abschieds, der vom Menschen nicht zu beeinflussen ist. In der französischen Theaterinszenierung „Tria Fata“ (Drei Schicksalsgöttinnen) des Figurentheaters La Pendue wird jedoch genau das von einer alten Dame versucht.
Ein Mann sitzt auf der Bühne, spielt Akkordeon und erzählt die Geschichte einer alten Dame. Auf einmal betritt eine Frau namens „Madame Tod“ mit einer Totenmaske und einer Totenkopf-Puppe die Bühne. Diese soll den Tod verkörpern. Sie schaut das Publikum direkt an und bezieht es in die Szene ein. Sofort bemerkt dieses, dass es hier zwar um den Tod geht, dies aber sehr tänzerisch und ironisch inszeniert wird.
Es fährt ein kleiner Miniatur-Rollstuhl mit einer alten Frau im roten Kleid auf die Bühne. Die Frau tanzt um diesen Rollstuhl herum. Die alte Frau führt einen Monolog auf Französisch, in dem es darum geht, dass sie noch nicht sterben will, dass die Zeit noch nicht gekommen sei. Sie erzählt die Geschichte, wie sie zur Welt kam und das dies aber nicht die einzige Geburt im Leben sei. Denn das Leben bestehe aus zahlreichen Metamorphosen, wie das Verlassen des Elternhauses oder die erste Liebe. In einem einfachen Schattentheater ist ein König mit einem Pferd zu sehen, von dem sich das damals junge Mädchen hat bezirzen lassen und dann ihr Kind zur Welt brachte. Die Darstellungen sind sehr humoristisch inszeniert und das Publikum lacht. Die Stimmung ist gut, doch neben den lustigen gibt es auch ernste Momente, die die Zuschauer_innen zum Nachdenken anregen.
Es werden Fotos gezeigt, auf denen die mittlerweile erwachsene Frau an unterschiedlichen Orten zu sehen ist, das letzte Foto zeigt einen leeren Rollstuhl an einem verlassenen Strand. Parallel spielt der Akkordeon-Spieler und alles geht harmonisch ineinander über. „Madame Tod“ reißt der alten Frau nacheinander einzelne Körperteile heraus und somit wird ihr Tod herausgezögert. Als die alte Frau ihr Leben zu Ende erzählt und sich alles nochmal vor Augen geführt hat, ist sie bereit zu sterben und „Madame Tod“ lässt sie gehen. In dieser Inszenierung wird ein Leben dargestellt, von dem die Zuschauer_innen nicht wissen, ob es dieses wirklich gegeben hat. Es ist ein ausgezeichnetes Theaterstück, das den Abend wunderbar ausklingen lässt.