Schluss mit falschen Träumen

Im Potsdamer Hans-Otto-Theater geht’s zur Sache: Die herrliche Lage am Wasser, das harmonisch geschwungene rote Dach und die Ruhe um das Gebäude herum verlieren kein Wort darüber, dass im Innern des Neuen Theaters die Fetzen fliegen, Illusionen aufgedeckt werden und ein Menschheitsproblem nach dem anderen abgehandelt wird. Perfektes Beispiel: Das als stereotypes Sippschaftstreffen getarnte Bühnenwerk „Eine Familie“ von Tracy Letts, welches in Wirklichkeit ein handfestes Gesellschaftsdrama ist. Wir haben uns das für euch angeguckt und waren mal wieder begeistert. Von Denis Newiak

Einst war Oklahoma, im Herzen der USA gelegen, ein Bundesstaat mit fruchtbarer Prärie. In den 1930er Jahren, nach Übernutzung und Austrocknung, blieb nur eine staubige Wüste, vor der die Bauern flüchteten. Heiß kann es werden in Oklahoma, bis zu 49 Grad. Dass Tracy Letts Drama „August: Osage County“, welches erst den Pulitzerpreis gewann und dann schnell den Weg auf Europas Bretter fand, ausgerechnet in dieser trostlosen Gegend der Vereinigten Staaten spielt, ist kein Zufall. Warum, erklärt sich schnell.

Beverly Weston hat das Leben satt: Seine Frau Violet (Tina Engel) ist tablettensüchtig und krebskrank, flucht und schimpft ohne Pause, seine drei Töchter haben schon seit längerer Zeit das Zuhause verlassen und Beverly selbst kann vor Trunkenheit keinen ernstgemeinten Schritt mehr unternehmen, von der einstigen lyrischen Hochleistung, die ihn fast zu einem Klassiker der amerikanischen Literatur gemacht hätte, ist nichts mehr zu sehen außer die wackligen Buchtürme mit Werken wie von T. S. Eliot. Der hat einst geschrieben: „Das Leben ist sehr lang“ – Beverly zitiert den Satz am Anfang des Stückes. Doch das Leben muss nicht lang sein: Bevor sich der lebensmüde Alkoholiker und Ex-Lyriker aufmacht zum Selbstmord, stellt er eine Haushälterin ein, die „Indianerin“ Johnna (Elzemarieke de Vos), die aus Tradition ein Stück ihrer Nabelschnur an einer Kette trägt. Als sich Beverly einige Tage nicht blicken lässt, ruft die Ehefrau (die sich selbst als menschlichen Kaktus bezeichnet – langlebig, aber fast bedürfnislos) ihre Töchter zur Hilfe. Das Familientreffen samt töchterlichen Lebensgefährten beginnt, mit all seinen Tiefen. Als die Polizei mitteilt, der Familienvater habe sich wohl ersäuft hat, treten die fatalen Schwachstellen der Familienmitglieder zu Tage, so wie sich die Schweißperlen durch die Haut der Protagonist_innen quetschen, während die Fensterscheiben abgeklebt sind, die Klimaanlage ausgeschaltet ist und selbst Papageien vor Hitze den Geist aufgeben.

Beim Leichenschmaus bricht die an brennendem Mundhöhlenkrebs erkrankte Violet mit den Fassaden ihrer Töchter: Barbara (Melanie Straub) spielt die glückliche Ehefrau, während ihre Mann, der Geisteswissenschaftler Bill, sie mit seinen Studentinnen betrügt; Ivy hat sich zum zweiten Mal in ihrem Leben verliebt, aber leider ausgerechnet in ihren Schwager ersten Grades, der in Wirklichkeit – und das weißt sie noch nicht – ihr leiblicher Bruder ist; und Karen, die sich selbst vorlügt, endlich „glücklich“ zu sein, schläft mit einem Mann, der bei der erst besten Gelegenheit eine 15-Jährige vergewaltigt. Ganz offensichtlich stimmt bei den Töchtern was nicht, und Violet, die vom Leben nicht mehr viel zu erwarten hat, lässt es sich nicht nehmen, die Wunden aufzureißen und Salz hineinzuschütten. Die drei hilflosen Küken schmieden Pläne, ihrer verwitweten Mutter zu helfen, sind dann aber doch zu sehr mit sich selbst beschäftigt und mit ihrem Leben, welches in Wahrheit keines ist. Am Ende bleibt Violet nur die fleißige gute Haushälterin Johnna, die kocht, obwohl die Familie nichts isst, lieber einen Rettungswagen ruft, wenn jemand einen Herzinfarkt zu bekommen scheint, statt dumm herumzuschreien – und ihre zornige Herrin, von welcher sie einst nur Undankbarkeit und Beleidigungen empfangen hat, auf den Schoß nimmt und umarmt. Wenn Johnna ihr von Eliot vorsingt, „this is the way the world ends“, meint sie damit nicht nur das Leben der allein gebliebenen Violet, sondern das Ende einer großen verkorksten Gesellschaft, die eingestaubt, verschwitzt und kurz vorm Eingehen ist.

So reiht sich „Eine Familie“ (Übersetzung von Anna Opel) nahtlos in eine gesellschaftskritische Saison am kommunalen Hans-Otto-Theater ein: In „Volpone“ gibt sich ein geldgieriger Venezianer als todkrank aus, um Geschenke der um die Erbschaft buhlenden Geizkragen abzufassen, im Jahrzehnt der „Krise“ aktueller als es uns lieb sein dürfte; „Iwanow“ im gleichnamigen Stück von Tschechow geht schon nach dreißig Lebensjahren die Luft aus – ein Bilderbuch-Burnout als Diagnose einer mit sich selbst überforderten Generation; oder „Hexenjagd“, wo natürlich keine Hexen, sondern die vermeintlichen Feinde des mittelalterlichen kirchlichen Unterdrückungssystems gejagt werden – Parallelen zur willkürlichen Kommunistenverfolgung in den USA lassen sich leicht ziehen. Und „Eine Familie“ erzählt uns – verschleiert in einer Familiengeschichte, bei welcher Menschen überall auf der Welt bitter mitlachen können – von der Sinnentleertheit der ideologischen Floskel des „Strebens nach Glück“, welche sich in einer hyperkapitalisierten Welt voller Armut, Arbeitslosigkeit und Tristesse als größte Lüge unserer Zeit entpuppt.

Wer einige Aufführungen in der Schiffbauergasse gesehen hat, dem wächst das Schauspieler_innen-Ensemble, welches selbst einer großen vertrauten Familie mit klar zugewiesenen Rollen gleicht, zunehmend ans Herz. Alle haben ihren Platz: Jon-Kaare Koppe als der Gutbürgerliche, Andrea Thelemann als Frau fürs Grobe, und Franziska Melzer als die Schöne (in „Die Familie“ mit enormem Schwitzfleck endlich einmal erfrischend unsexy). Den Darsteller_innen wird im „HOT“ viel abverlangt: Sie müssen schreien, kämpfen, sich auf dem Boden wälzen oder nackig machen – und dabei geben sie ihr Bestes. Manchem Stück würden wohl ein bisschen weniger Gekreische und dafür einige ruhige Momente mehr gut tun, aber vielleicht lässt sich das Entsetzen über unsere Gegenwart nicht anders artikulieren. So wie derzeit überall in Film, Literatur und Musik wird auch im Hans-Otto-Theater nicht besonders zimperlich gehandelt, wenn es um einen vernichtenden Schlag gegen die verklärten Lebensmodelle unserer Welt geht. Erbarmungslos. So sollte es auch in der kommenden Saison sein.

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