Samsa – Part II

S a m s a M e t a m o r p h o s i s (Bild: Roland R. Maxwell).

Die Situation gerät langsam außer Kontrolle. Gregor ist mit den Nerven am Ende und es wird nur noch schlimmer. Part II der Kurzgeschichte „Samsa“. Von Roland R. Maxwell.

Gregor machte sich große Sorgen, er überlegte, ob er den Notarzt rufen sollte, doch wie könnte man diese absurde Situation irgendeinem vernünftigen Menschen erklären. Mein Freund hat sich in einen Rosenkäfer verwandelt, gibt es da gegen vielleicht eine Salbe? Niemand würde ihm diese Geschichte abkaufen, man würde ihn als verrückt oder geisteskrank abstempeln. Nein, Gregor musste sich an jemanden wenden, dem er von ganzem Herzen vertrauen konnte. Er griff zum Haustelefon und wählte die Nummer von Professor Doktor Stefan Entmann, Dozent an der Universität Potsdam, wo er der Fachmann für Entomologie war. Gregor arbeitete für ihn als Wissenschaftlicher Mitarbeiter, was bedeutete, dass er für ihn Klausuren austeilen, Blätter ausdrucken und Seminare abhalten konnte. Das klang jetzt ziemlich negativ und nach Sklavenarbeit, aber Gregor mochte es. Er mochte auch Professor Entmann und hegte zu ihm ein lockeres, freundschaftliches Verhältnis. Er konnte ihm vertrauen, außerdem… als Wissenschaftler würde ihn dieser Fall sicherlich brennend interessieren.

Gregor lauschte, das Freizeichen war zu hören. Einige Sekunden vergingen und dann hörte der junge Student die Stimme seines Professors: »Hier ist Stefan Entmann. Leider bin ich im Moment nicht zu erreichen. Wenn Sie eine Nachricht hinterlassen wollen, sprechen Sie bitte nach dem Piepton.«

Verdammt, nur die Mailbox. Aus Erfahrung wusste er, dass Entmann sich nie die hinterlassenen Nachrichten anhörte, weil er immer vergaß, dass er eine Mailbox überhaupt besaß. Gregor legte enttäuscht wieder auf.

Plötzlich hörte er ein lautes Stöhnen aus dem Wohnzimmer kommen. Johanna!, dachte Gregor und rannte so schnell wie möglich in das Zimmer. Ihr schmerzerfülltes Stöhnen hatte sich zu einem qualvollen Schreien gesteigert. Sie lag auf dem Boden und krümmte ihren Rücken. Ihre Adern pulsierten, ihre Finger hatten sich zu Krallen verkrampft. Sie sah Gregor flehend an, aus ihren geweiteten Augen flossen die Tränen.

»Hilf mir … Hilf mir … Hilf mir doch …«, stöhnte sie und streckte ihren Arm nach Gregor, doch der stand nur da und schaute hilflos zu. Sie schrie, er beobachtete mit Entsetzen, wie ihre Haut begann aufzuplatzen, ihre Kleidung zerriss … und sich grüne Chitinplatten durch die offenen Wunden schoben. Doch da hörte die schreckliche Metamorphose nicht auf. Johannas Kiefer verrenkte und weitete sich, wodurch sie wie die gequälte Seele aus Edvard Munch‘s Der Schrei aussah. Ihr Gekreische mutierte zu einem erstickten Röcheln. Ihre Haut löste sich in großen Stücken von ihrem Körper, dahinter war nichts als kaltes, grünes Chitin. Nicht einmal ihre schönen blauen Augen wurden von der Verwandlung verschont, sie teilten sich. Einmal, zweimal, dreimal, dutzendmal, hundertmal. Mit jeder Teilung ähnelten sie mehr und mehr den Facettenaugen eines Käfers. Das kühle, meergleiche Blau verschwand, ersetzt durch ein ausdrucksloses Grün-Grau. Ihre Finger, bei denen sie sich doch immer so viel Mühe bei der Pflege gab, faulten einfach ab, grüne, scharfe Krallen nahmen ihren Platz ein. Und während all das passierte, gab Johanna nur dieses schreckliche, schmerzerfüllte Röcheln von sich, es drangen aus ihrem aufgerissenen Mund keine menschlichen Worte mehr. Sie starrte ihren Mitbewohner mit deformierten Käferaugen an. Tränen flossen schon lange nicht mehr, es war einfach nicht möglich, schließlich waren Insekten zum Weinen nicht in der Lage.

Die Gedanken wirbelten nur so in Gregors Kopf, er war mit der Situation völlig überfordert. Es war eine Sache, seinen besten Freund als einen gigantischen Käfer zu sehen, es war eine völlig andere Sache, die schreckliche Verwandlung live mitansehen zu müssen. Gregor konnte es nicht ertragen, Johanna so zu sehen. Auch sie kannte er seit dem Abitur, sie war eine enge Freundin Finns, wahrscheinlich hegten sie sogar Gefühle füreinander. Johanna war immer nett zu ihm, er hatte nicht viele Freundinnen, doch sie konnte er definitiv so nennen. Sie jetzt so zu sehen, brach Gregor einfach das Herz. Sein Gehirn machte da einfach nicht mehr mit, es folgte eine Kurzschlussreaktion. Er packte die immer noch röchelnde Johanna am Arm, woraufhin sich Fleisch und Haut löste, dahinter war nichts als Chitin. Gregor konnte nicht mehr, sein Magen rebellierte und er übergab sich, sein Frühstück verteilte sich als grün-braune Suppe über den Linoleumboden.

Er wischte sich den Mund ab und zog Johanna vorwärts, sie gab weiterhin nur gurgelnde Schreie von sich und verwandelte sich noch immer. Hautfetzen und Fleischbrocken lösten sich von ihr, ihre Haare fielen aus. Er öffnete die Tür zu Finns Zimmer und versuchte Johanna hineinzuziehen, doch sie begann sich zu widersetzen, sie strampelte mit den Beinen, berührte ihn mit ihren widerlichen Krallenhänden. Sie röchelte und spuckte eine braune Flüssigkeit aus. Wie eine Schlange wandte sie sich in seinen Armen.

»Bitte … Hör auf … Mach es nicht schwerer als es ist …«, flehte er sie an. Gregor wusste nicht, was er tun sollte. Er wollte Johanna nicht wehtun, doch er hatte auch Angst, dass sie ihn verletzen könnte und dass er dann genauso wie sie und Finn endete. Er atmete tief ein und nahm all seinen Mut zusammen. Er ballte seine Hand zur Faust und schlug Johanna mit voller Wucht auf den Hinterkopf. Sofort sackte sie zusammen, zumindest für einen Moment bewegte sie sich nicht. So schaffte er es endlich, sie in das Zimmer zu zerren, er verschwendete keine Sekunde und schloss sofort die Tür zu.

»Tut mir leid … Tut mir so leid«, Tränen flossen über sein Gesicht.

Einige Momente später hörte er ein Poltern an der Tür, erschrocken fuhr er zusammen. Johanna schien wieder bei Bewusstsein zu sein. Sie klopfte und kratzte an der Tür.

»Gregor … Gregor … Mach die Tür auf … Gregor … Gregor«, stöhnte sie, ihre Stimme wirkte verzerrt.

Voller Angst entfernte er sich von der Tür, die Augen weit aufgerissen.

»Gregor … Mach die Tür bitte auf … Lass mich nicht allein … Bitte lass mich nicht allein … Gregor … Gregor …«

Er schlug sich die Hände gegen die Ohren und kniff die Augen zusammen.

»Das ist nicht real, das stimmt alles nicht, nichts davon ist wahr, das ist alles nur ein Alptraum, ich liege in meinen Bett, ich wache wieder auf, dann ist alles in Ordnung, nichts, was gerade passiert, passiert wirklich, das ist alles nur in meinen Kopf, nur in meinen Kopf, ich träume, ich halluziniere, ich hab mir den Kopf angeschlagen, ich bin über meiner Arbeit eingeschlafen, deshalb träume ich jetzt von Käfern, Käfer, große Käfer, menschengroße Käfer, grüne Käfer, ich träume, ich träume«, stammelte er immer und immer wieder.

Wie in Trance torkelte er in das Wohnzimmer und ließ sich auf das Sofa fallen. Mit leerem Blick griff er nach der Fernbedienung und schaltete den Fernseher ein, im Hintergrund war immer noch Johanna zu hören, doch er versuchte es auszublenden. Das Fernsehgerät ging an und Gregor wurde von einer Sondersendung der Tagesschau begrüßt. Der Moderator im blauen Studio sah aus, als hätte er vier Tage lang nicht geschlafen. Die Haare waren zerzaust, die Tränensäcke waren deutlich zu sehen und die Haut war fast so weiß wie Schnee. Das blaue Hemd war unordentlich und die Krawatte hing locker. Seine Hände zitterten, seine Lippen bebten, er schien Schwierigkeiten zu haben, die richtigen Worte zu finden.

»Verehrte Zuschauer und Zuschauerinnen … uns ereilen immer mehr Meldungen … von Polizei, Feuerwehr, Angehörigen der Bundeswehr und besorgten Bürgern, dass … dass sich momentan eine mysteriöse Seuche in Deutschland ausbreitet, die … ich weiß nicht, wie ich das erklären soll … es klingt so absurd, wenn ich ich es ausspreche … eine Seuche, die Menschen in riesige Käfer verwandelt, die der Art Cetonia aurata oder auch Goldglänzender Rosenkäfer ähneln … hier einige Aufnahmen von Zeugen des seltsamen Phänomens«, es wurden amateurhafte Handy-Aufnahmen eingeblendet, die zeigten, wie massenweise Käfer aus Wohnungen, Krankenhäusern, Supermärkten, Schulen, Fabriken, Sporthallen und Freizeitorten herauskrabbelten. Eine schier endlose Armee aus grünem Chitin, begleitet vom Summen der Flügel und Klicken der Mandibeln. Im Hintergrund konnte man Rufe und Schreie von Menschen hören. Bei einer der Aufnahmen sagte der Besitzer des Handys: »Gott steh uns bei. Wenn ich nicht dabei wäre, würde ich es nicht glauben. Zur Hölle, ich stehe hier und ich kann es nicht glauben! Margarete! Schau dir das doch mal an! Ich fasse es nicht. Margarete, hast du schon die Polizei gerufen? Margarete? … Scheiße!«, irgendetwas schien den Filmenden anzugreifen, man hörte nur aggressives Summen und Fluchen, das Handy fiel zu Boden und die Aufnahme endete.

Wieder zurück zum Moderator, nervös fummelte er an seinen Blättern.

»Das Robert-Koch-Institut empfiehlt … allen Bürgern und Bürgerinnen in ihren Häusern zu bleiben … jeglicher Kontakt zu den Käfern muss vermieden werden … nach bisherigen Informationen überträgt sich … Ach, scheiße … überträgt sich die Krankheit über Hautkontakt … oder Verletzungen … Sollte einer Ihrer Angehörigen oder Freunde infiziert sein, halten Sie bitte Abstand von ihnen … Lassen Sie sich nicht kratzen oder beißen! Die Regierung … «, der Moderator musste schlucken, »Die Regierung wird in wenigen Stunden den Ausnahmezustand verhängen. Die Bundeswehr soll dabei im Kampf gegen die Horden von Käfern eingesetzt werden, um … die Krankheit einzudämmen. Eine entsprechende Verordnung liegt bereits vor … die Möglichkeit einer Umkehr der Infektion wird nach bisherigem Kenntnisstand … ausgeschlossen. Die Kanzlerin sagte in einer Pressekonferenz, dass schwere Zeiten auf uns zu kommen und dass wir nur aus dieser Krise kommen, wenn wir uns an die Regeln halten … und gemeinsam … und gemeinsam …«, der Moderator schmiss wütend die Blätter weg.

»Scheiße! Ach, scheiß doch darauf! Ich kann das nicht mehr, ich kann einfach nicht mehr. Die Regierung erzählt Bullshit, nichts als Bullshit! Schaut doch aus dem Fenster! Das ist nicht normal, das ist doch keine x-beliebige Katastrophe, das ist keine Überschwemmung oder ein Scheißtornado oder eine beschissene Flugzeugentführung oder die verdammte Vogelgrippe! Das sind Käfer, riesige Käfer, die da durch die Straßen marschieren. Das sind Menschen, die sich in Käfer verwandelt haben! Hat das noch keiner geschnallt? Es wird so getan, als würde das jeden Tag passieren! Das ist die fucking Apokalypse da draußen!«, seine Rede schlug in Hysterie um.

Er kreischte die Zuschauer an: »Scheiß auf das Robert-Koch-Institut und die Regierung und die Kanzlerin. Von Minute zu Minute werden das immer mehr Käfer! Und schon bald haben sie ganz Deutschland überrollt. Alle werden zu Käfern! Sie, Ihre Frau und Ihr Mann, Ihre Kinder, Ihre Freunde, Ihre Kollegen, alle die Ihnen am Herzen liegen, werden zu Käfern. Zu riesigen, gigantischen Käfern. Zu Monstern. Wie in diesen Zombie-Filmen. Nur mit dem Unterschied, dass die Leute nicht tot sind, sondern etwas viel Schlimmeres mit ihnen passiert. Ich kann nicht mehr … Beten Sie zu Gott oder Allah oder Jehova oder Buddha, oder was weiß ich denn, dass Sie diesen Tag noch überleben werden … Was?«, irgendjemand schien im Hintergrund mit ihm zu sprechen.

»Das ist nicht dein Ernst, oder? Du scherzt, oder? Sag mir, dass du scherzt! Sag es! Sie können nicht schon hier sein, das dürfen sie nicht! Ich will nicht einer von denen werden! Ich will nicht!«, der Moderator rannte schreiend aus dem Studio, dabei riss er eine Kamera zu Boden. Verschiedene Schreie waren zu hören … und das Klicken von Mandibeln. Und dann … Störbild.

Gregor saß mit offenem Mund vor dem Fernseher, er versuchte zu verstehen, was er da gerade gesehen hatte. Mit zitternder Hand nahm er die Fernbedienung und schaltete das Gerät aus. Der schwarze Bildschirm zeigte einen jungen Mann, der mit den Nerven am Ende war.

Plötzlich hört er Kratzen an der Wohnungstür, erschrocken sprang er auf. Er rannte zur Tür und schaute durch den Spion. Zu seinem Entsetzen musste er feststellen, dass sich dort ein Käfer befand. Ohne nachzudenken schnappte Gregor sich den Schlüssel und schloss ab, sicherheitshalber stellte er noch einen schweren Schrank vor die Tür. Doch seinen Moment der Sicherheit konnte er nur kurz auskosten, denn als er sich umdrehte, bemerkte er, dass bereits mehrere von den Käfern am Fenster klebten und versuchten, hineinzukommen. Er hörte das Klicken der Mandibeln und das Kratzen ihrer Krallen und es machte ihn wahnsinnig. Er fühlte sich wie der Protagonist in einer Horrorgeschichte, doch in solch einer wüsste der Held, was er zu tun hätte. Doch Gregor wusste es nicht, sein Kopf war völlig leer.

Die Käfer kratzten am Fenster und sie sprachen zu Gregor, zumindest glaubte er, dass sie es taten, vielleicht bildete sich sein armer Verstand das auch nur ein, vielleicht war er jetzt völlig am Ende. Die Käfer sprachen in uniformen Ton: »Komm, häute dich. Lass dein Fleisch fallen und begrüße das Chitin.«

Gregor konnte nicht mehr, er wollte schreien, doch das ging nicht, es drang nur ein winselnder Ton aus seinem Mund. Ihm fiel nichts anderes ein, als in das Bad zu rennen und sich dort zu verbarrikadieren. Das Bad hatte wenigstens kein Fenster, dort sollte er zumindest für einen Moment sicher sein. Er drehte den Hahn auf und spritze sich kaltes Wasser ins Gesicht. Seine Hände zitterten, sein ganzer Körper schlotterte wie Espenlaub. Seine Augen waren blutunterlaufen. Er hörte das Klirren von Glas und das Brechen von Holz. Er hörte das Kratzen von Krallen auf dem Fußboden. Sie kamen. Und es waren nicht wenige, wahrscheinlich würden sich Johanna und Finn zu ihnen gesellen.

»Gregor …«, wahrscheinlich drehte er jetzt völlig durch oder flüsterten die Käfer etwa wirklich seinen Namen?

Sollte die Menschheit wirklich daran zugrunde gehen? An einer Krankheit – wenn es denn eine Krankheit war – die aus dem Nichts kam und an Absurdität nicht zu überbieten war? Das Zeitalter der Menschen war vorbei, das Zeitalter der Käfer war gekommen. Bald schon würden sie diese blaue Kugel beherrschen, bis alles Cetonia aurata war, ein Meer aus grünem Chitin. Wir würden nie erfahren, woher diese Seuche stammte oder warum sie überhaupt existierte, aber das war auch nicht mehr wichtig.

Gregor hörte Kratzen an der Tür.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert