Geht Probieren wirklich über Studieren?

Schule. Studium. Schöne Welt. Studieren liegt voll im Trend. Während einerseits, wie bei Philosophie-Professor Nida-Rümelin bereits vom „Akademisierungswahn“ die Rede ist, ist das Studium andererseits der Schritt in die gesicherte Existenz, im Idealfall zur Selbstverwirklichung. Fast jede_r kann studieren und fast unendlich viele Möglichkeiten tun sich auf – aber muss es immer ein Studium sein? Und wenn ja: Was gibt es mehr als das rein Fachliche? Von Hendrik Hilbers.

Wenn nach zwölf Schuljahren endlich die Ziellinie überquert ist, kommt der große Moment: Wissen und entscheiden, was die nächsten dreißig Jahre im eigenen Leben passieren soll. Für jene, die nicht schon seit ihrer Kindheit Pilot_in, Müllmann/-frau oder Kinderarzt/-ärztin werden wollten, ist trotz der eigenen Unsicherheit zumindest meist eines klar: Die Entscheidung über die Ausbildung nach der Schule wird so einiges ändern, ist mehr als nur Urlaub vom Gewohnten. Es ist oft auch eine Reise ins Unbekannte, das kleine Wagnis, sich selbst auszuprobieren und zu entdecken. Aber es ist auch eine Gelegenheit. Da stehen wir also zunächst, sehen vielleicht etwas fragend in die Augen der Eltern und Verwandten, deren scheinbare Güte und gute Ratschläge vor allem eines zum Ausdruck bringen: Was wird denn mal aus dir?

Die Wahl des Studiengangs: abseits der „Klassiker“

Für viele junge Menschen führt der Weg nach der Schule zur Uni, doch nicht mehr das Abitur allein ist der Schlüssel zum Hörsaal. Zudem entscheidet bereits seit längerer Zeit der Elternwille darüber, welches Gymnasium – ähm – welche Schule das Kind später besuchen soll. Ein abgeschlossenes Studium gilt immer noch als äußerst erstrebenswertes Bildungsziel: Allein innerhalb der vergangenen zwanzig Jahre ist die Zahl der Studierenden in Deutschland um ein Drittel gestiegen. Zugleich muss alles schnell, „effizient“, in wohlgeordneten Bahnen verlaufen. Eltern wollen oft, dass man etwas „Ordentliches“, „Zukunftsträchtiges“, „Nützliches“, bloß keine „brotlose Kunst“ studiert.

Beim allzu oft zitierten angeblichen Paradebeispiel, der Philosophie, bleibt meist völlig außer Acht, dass Philosoph_innen allein wohl am besten über den Wert der Philosophie zu urteilen wissen müssten. Was aber, wenn es denn unbedingt Philosophie sein soll? Oder wenn die Philologie, trotz elterlicher Missionierungsarbeit, dem angehenden Studierenden Zufriedenheit und Erfüllung verspricht? Wohl kaum sollten Geisteswissenschaften sich vorwerfen lassen müssen, etwa der Medizin unterlegen zu sein, nur weil sie nicht auf die gleiche Art lebensrettend sind.

Auch der Lehrerberuf gilt neben den klassischen und bereits sehr gerichteten Berufen meist als geachteter Beruf und hat ein konkretes Ziel: Wer Lehrer_in wird, der unterrichtet. Gerade in den geisteswissenschaftlichen Fächern ist oft eine gewisse Unsicherheit zu spüren, immer verbunden mit der Frage: „Und was macht man damit?“ Oder, vor allem bei Sprachen: „Studierst du auf Lehramt?“ Wer später in die Schule geht, hat es da erst einmal leicht, sollte er oder sie eine Philologie studieren. Wer aber nicht in der Schule landet, was den meisten etwa bei Sprachen oder manchen Naturwissenschaften schon als selbstverständlich scheint, hat es meist etwas schwerer, eine direkte Antwort zu finden. „Taxifahrer_in“ lautet da schon mal eine selbstironische Antwort auf das andauernde Löchern der Fragenden. Aber ist das denn wichtig?

Während Opa sich früher noch von seinem Status als einfacher Angestellter über die Jahre nach oben hochdiente und der arbeitende Vater für den Sohn seinerzeit noch das berufliche Vorbild verkörperte, könnte man heute schon ein Jahr nur damit verbringen, das individuell „richtige“ Studienfach oder eine geeignete Ausbildungsstätte zu finden, frei nach dem Motto: „Probieren geht über Studieren.“ So manche_r nimmt sich daher erst einmal eine Auszeit von der Schule und macht einen Freiwilligendienst, ob im In- oder im Ausland. Tatsächlich ist es aber die Minderheit künftiger Auszubildender, die sich diese Zeit nimmt – nehmen kann.

Im Netz der Erwartungen

Nicht nur das Abitur ist auf zwölf Jahre gestaucht worden. Auch die Regelstudienzeit von drei Jahren – von vielen Studierenden für unerfüllbar gehalten – baut bei einigen Druck auf. Druck, sich schnell und dann auch noch möglichst wirtschaftlich zu entscheiden, besonders wenn die finanziellen Möglichkeiten knapp und der Wille zur Unabhängigkeit groß sind. Und wenn da nicht die Erwartungshaltung von Eltern und Verwandten ist, alles „richtig“ zu machen, sich durch keinen falschen Schritt die bevorstehende Karriereleiter zu verbauen, dann sind da noch die Erwartungen, die man an sich selbst richtet. Wenn jemand nur deshalb Lehrer_in wird, um eine genaue Berufsperspektive zu haben, wenn jemand BWL studiert, weil Germanistik angeblich kein Geld bringt, dann geht Studieren über Probieren. Aber: Wie erfolgreich kann man wirklich sein, wenn das Studium bestenfalls langweilig ist? Warum sich ein Seminar zur Sprachgeschichte antun, wenn das Notebook in der Vorlesung nur zum Posten der eigenen Langeweile auf Facebook dient oder Pokémon gespielt wird, wenn man immer eine halbe Stunde später zur Vorlesung kommt und 20 Minuten vor Schluss geht?

Ein Studium ist kein Zwang, und nicht Studierende allein sind gebildet. Es ist mehr als nur Broterwerb, wie Schiller es schon bei seiner Beschreibung des philosophischen Kopfes und des „Brodgelehrten“ anklingen lässt. Es ist aber auch kein Selbstfindungstrip, sondern eine Ausbildung, die – wie jede andere Ausbildung – auch der persönlichen Entwicklung und Entfaltung dienen und nicht dazu beitragen sollte, dass sich Studierende, die ihr Fach interessiert, sich wie Streber_innen vorkommen. Gerade in einer Zeit, in der die Hochschulen ohnehin schon knapp bei Kasse sind und wie in Potsdam Stellen, in Leipzig sogar ganze Institute, gestrichen werden. Gerade dann ist es doch für den Fortbestand einer Universität wichtig, voll hinter der eigenen Ausbildung zu stehen. Nicht zuletzt, um die eigenen Bedürfnisse nicht aus den Augen zu verlieren. Nichts als selbstverständlich gegeben hinzunehmen, sondern sich Bildung als Freiraum zu erhalten.

Studieren heißt selbst bestimmen

Niemand sagt, ein Studium sei ein Spaziergang. Sicher geht zielloses Umher-Studieren an den Bedürfnissen einer Gesellschaft, vor allem aber an den eigenen vorbei. Aber wozu den Stress eines Studiums auf sich nehmen, wenn es nur bedrückt, wenn die Seele dabei nicht frei atmen, man sich nicht von Erwartungen und Zwängen befreien und die eigene Zukunft wahrhaftig gestalten kann? Das Studium ist vielleicht weniger Selbstfindung, als Selbst-Entwicklung, Erweiterung des Horizontes, Vervollkommnung der eigenen Fähigkeiten.

Es bleibt vielmehr dabei: Probieren geht über Studieren. Niemand (schon gar nicht der Arbeitsmarkt) kann sagen, welcher Weg für uns der richtige ist. Oder ob es grundsätzlich ein Studium sein muss. Das muss es nicht. Und Fachwissen ist nicht alles. Man muss in sich gehen, durch Ausprobieren den richtigen, manchmal auch weniger begangenen Pfad finden, denn auch Gibran sagte schon: „Die Einsicht verleiht ihre Flügel keinem anderen“.

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