Nur mal so ein Gedanke – Teil I: Neues Jahr, neues Glück oder so

Erster Zug im neuen Jahr (Foto: B. Ole Müller)

Oskar ist ein von Weltschmerz geplagter Pessimist. Er könnte sich über alles und jede_n aufregen, aber ganz besonders über sich selbst. Seine Kritik schießt er wahllos in jede Richtung, doch ohne sich dabei selbst für voll zu nehmen. Diese Kurzgeschichte begleitet ihn durch seinen ganz speziellen Start in das neue Jahr. Von B. Ole Müller.

Tag 1

Nachdem man nun gestern die letzten 365 Tage in den Orbit geballert, also die Lichter unter der Wolkendecke an und unter der Schädeldecke ausgesprengt hat, bleibt nichts, als der echte Start ins neue Jahr. Keine Wunderkerze brennt, keine Musik läuft, nur ich, die Galle auf meiner Zunge, ein paar offene Fragen, zum Beispiel, ob ich mir freiwillig das rechte Bein epiliert habe und der Idiot, der meint, in meinem Kopf Kettenkarussel fahren zu müssen. Meine Augen haben Mühe, auf eine angemessene Größe zu schrumpfen, ich trinke Wasser als sei es…ja…Wasser – hoffe, gedanklich fährt da heute noch irgendetwas hoch.

2020 – wie super das doch ist, die nächsten Wochen darf ich Analogien über die Goldenen Zwanziger hören, was für mich das verbale Gegenstück zu den Alpenpanoramen ist, die morgens auf den Dritten oder so laufen, das wird supi. Besser nur die Instaposts, die ein Ding daraus machen, wie nervig es doch sein wird, das Datum falsch zu schreiben oder die Raketenstiele und Reibkopfscheiße der Nachbar_innen aus der Hecke zu pulen. Sie seien ja sonst für Umweltschutz und das ganze Zeug, aber man müsse das verstehen, die Kinder…Jo, die Kinder, die sind bekannt dafür, laute Geräusche und unverhoffte Explosionen zu lieben…mein Kater übrigens auch. Mir kommt ein Jogger entgegen, frohes neues Jahr!

Tag 2

Jede_r will nun direkt anfangen, sein_ihr neues Ich auszuprobieren. Was man wie ein Referat – im Nebel der letzten Getränke – zehn Minuten vor 0:00 gedanklich zusammengeklöppelt hat, soll, wie diese Mini-Surfbretter im seichten Wasser, in die Realität geschmissen werden. Der 2. Januar also, man springt auf das Brett, in das Jahr – noch ist‘s nicht angebrochen, noch alles möglich, die ersten Tage sind ja nun doch auch immer ein bisschen golden. Wie viel Spaß das doch macht, weniger zu rauchen und nach zwei Wochen exzessivem Essen und Trinken auch endlich mal wieder so richtig Bahnen zu ziehen – Kilometerschrubben – toll. Ist ja inzwischen auch warm genug, um im Januar in kurzer Hose zu joggen, gibt jetzt auch da keine Ausreden mehr.

Mein überambitioniertes Ziel dieses Jahr? Ich werde Optimist. Jetzt nicht so einer, der auch mal sagt, der allgemeine Rundfunkbeitrag habe ja irgendwie seine Daseinsberechtigung – diese ,Ted und Robin haben eine Zukunft‘-artige Endstufe des Welteuphemismus – aber wenigstens über dem Durchschnitt. Am Ende des Jahres will ich ohne Bargeld und mit unbekanntem Kontostand auf dem Uniausweis in die Mensa gehen können, mir einen Salat und Cappuccino zum 2,60€-Essen holen und denken, das wird schon passen!

Tag 3

Tür auf. Meine Wohnung drischt mir in die Nebenhöhlen, dass die Luft zwei Wochen stand – fühlt sich wahrscheinlich vernachlässigt. In der Spüle steht ein Teller, der sich auch vernachlässigt fühlt, die Essensreste, die ich ja definitiv noch weggemacht hätte, wenn nicht…ja wieso hab ich das nicht? Sie bilden jedenfalls ein schon fast schönes Relief über dem zerkratzten DDR-Blumendekor. Alles ist ruhig, mir fällt wieder ein, dass ich ja Single bin. Ist wohl auch besser so, einen Neujahres…kuss hätte ich eh nicht bewerkstelligt bekommen und überhaupt macht eine Beziehung auf Dauer ja womöglich noch glücklich und das kann ja auch keine Lösung sein.

So kann ich mich wenigstens ganz in Ruhe selbst bemitleiden, wie die Generationen vor mir das Gefühl haben, dass man bei dieser Welt ja nur depressiv werden kann und wie meine Vorgänger_innen sicher sein, dass es für meine Zeit ganz besonders wahr ist! Ach…ja ach…der Weltschmerz, vollkommen unterschätztes Wohlstandsbeiwerk, Luxusartikel von mir, dem privilegierten Industrienationsweltversteher, der seinen eigenen Pathos zum Kotzen findet. Na, weil ich mich ja selbst neu erfinden darf, fange ich jetzt an, in der Wohnung zu rauchen, ich werde schon sehen, was ich davon hab. Auf meinem Schreibtisch liegen die Uniunterlagen, die sich fühlen wie Wohnung und Teller, darauf ein Liter Weißwein – er ist gerade so am vernichtenden Urteil Tetrapack vorbeigeschliddert. Beide lächeln sie mich an. Neues Jahr, neues Glück…oder so.

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