Am Abend des 8. Juni 2023 einigen sich die Innenminister:innen der EU bei ihrem Treffen in Luxemburg auf eine gemeinsame Position zur Änderung des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS). Das, was politisch als Reform bezeichnet wird, ist de facto jedoch der Beginn einer humanitären Katastrophe, sollte die Entscheidung vom EU-Parlament angenommen werden. Ein Kommentar von Julia Brüggemann.
Freitag früh, der 9. Juni 2023, im Radio laufen die Nachrichten. Es ist ein heißer und sonniger Tag, das Wochenende zum Greifen nah. Dann schlägt sie ein, diese Nachricht, dessen Erschütterungen erst im Laufe des Tages richtig zu mir durchdringen werden. Politischer Erdrutsch, menschenrechtlicher Tabubruch auf allen Ebenen, historischer Fehler oder Ausverkauf der Menschenrechte: Kritiker:innen versuchen einen Namen zu finden für das, was die Innenminister:innen der EU bei ihrem Treffen in Luxemburg beschlossen haben.
Eine Reform, die ihren Namen nicht verdient
Das Gemeinsame Europäische Asylsystem (GEAS) soll reformiert werden. Beschlossen wurde jedoch keine Reform, sondern der Startpunkt einer humanitären Katastrophe. Konkret sieht die Einigung der EU vor, dass Geflüchtete aus als „sicher“ geltenden Herkunftsländern nach Grenzübertritt in Lagern ausharren müssen, während ihre Chancen auf Asyl geprüft werden. Dadurch, dass die Menschen die Einrichtungen in dieser Zeit nicht verlassen dürfen, handelt es sich damit im Grunde um Haftanstalten. Bei einem negativen Entscheid folgt ein Abschiebungsgrenzverfahren, das bis zu 19 Monate dauern kann. ProAsyl weist darauf hin, dass anschließend auch eine Abschiebungshaft angeordnet werden kann. Es ist davon auszugehen, dass Menschen – sollte der Beschluss auch im EU-Parlament so durchgehen – damit bis zu 2 Jahren an Europas Grenzen in Haft verbringen werden. Insgesamt sollen mindestens 30.000 solcher Lagerplätze entstehen. Im Jahr bedeutet dies eine Inhaftierung von bis zu 120.000 (!) flüchtenden Menschen an den EU-Außengrenzen. What the hell. Und als wäre das nicht schon genug: Auch Familien mit Kindern sind von dieser Regelung nicht ausgenommen, da Deutschland daran scheiterte, diese „rote Linie“ vor den anderen EU-Staaten zu verteidigen. Was von einigen EU-Mitgliedstaaten aber durchaus erfolgreich verteidigt werden konnte, ist die Möglichkeit, sich weiterhin weigern zu können Geflüchtete aufzunehmen. Europäische Solidarität ist und bleibt halt ein flexibles Konzept – von dem es sich problemlos freikaufen lässt, wenn es mal ungemütlich wird.
Politisches Framing at its best
Es ist einfach nur noch zynisch, wie dieser Entschluss politisch verkauft wird: Nancy Faeser bezeichnet die Einigung auf Twitter als „historischen Erfolg“ und spricht vom „Schutz von Menschenrechten“. Zudem erzählt sie jedem Mikro, das es hören will, dass Geflüchtete aus Syrien und Afghanistan von dieser Regelung nicht betroffen seien. Was – Stand jetzt – de facto einfach falsch ist: Denn wenn afghanische oder syrische Geflüchtete beispielsweise in Griechenland ankommen, können sie in die Türkei abgeschoben werden, da diese von Griechenland als „sicherer Drittstaat“ anerkannt wird. Außerdem bleibt die Frage, worum es bei dieser Beteuerung eigentlich geht. Geht es darum, in zwei unterschiedliche Klassen Geflüchteter zu unterteilen? Ist der Punkt, dass es „richtige“ Flüchtlinge gibt, die einen regulären Asylantrag in der EU stellen dürfen? Und beim Rest ist es ok, dass sie sich unter Haftbedingungen einer Vorprüfung unterziehen müssen, bei der rechtliche Unterstützung gar nicht oder nur eingeschränkt möglich ist? Fragen über Fragen.
Auch die restliche Regierungsspitze duckt sich weg. Annalena Baerbock spricht zwar von einem „der schwersten politischen Tage“, aber ganz ehrlich: Davon kann sich auch keiner was kaufen, am allerwenigsten die Menschen, die von dieser Entscheidung betroffen sein werden. Und Bundeskanzler Olaf Scholz? Der toppt sogar noch die Geschmacklosigkeit von Nancy Faesers Twitterpost. Auf dem Kirchentag witzelt er über Deutschlands großen Strand am Mittelmeer (kein Scherz), denn anders kann sich der Kanzler die hohe Zahl an ankommenden Geflüchteten in Deutschland wohl nicht erklären. Deutschland, Malle, Ertrunken im Mittelmeer. So oder so ähnlich scheint die Assoziationskette unseres Kanzlers auszusehen, dem anscheinend gerade mehr als nur das Klima entgleist.
Die endgültige Entscheidung steht noch aus
Die Mitgliedstaaten müssen jetzt mit dem EU-Parlament über die Reform verhandeln. Damit ist es nicht zu spät zu hoffen, dass der Beschluss noch gekippt oder zumindest abgeändert werden wird. Hoffnung macht, dass es intern bei den Grünen gerade richtig rasselt. Und auch NGOs und Zivilgesellschaft äußern lautstark Kritik. Was trotzdem bleibt, ist die Fassungslosigkeit. Mich besorgt zutiefst, wie die Asylpolitik Deutschlands und Europas sich immer weiter in Richtung einer kompletten Abschottungspolitik bewegt. Ich frage mich: Wo ist die Haltung und das Rückgrat deutscher Politiker:innen? Wo ist das Bewusstsein über die historische Verantwortung Deutschlands? Die Bilder aus Moria, der Brand, das Leid: Es scheint, als hätten die politischen Entscheidungsträger:innen all das erfolgreich verdrängt. Darum lasst uns gemeinsam dafür aufstehen, dass Menschlichkeit nicht an Parteigrenzen und auch nicht an Paragraphen oder Außengrenzen endet.
We are here. And we will fight. Freedom of Movement is everybody’s right.
Falls ihr mehr über diesen krummen Deal wissen möchtet, dann schaut mal hier: proasyl.de/news/grenzen-schliessen-und-abschieben-die-vorschlaege-von-friedrich-merz-im-pro-asyl-faktencheck/