Mord ist keine Erlösung

Viele angezündete Kerzen
Potsdam trauert um vier Menschen. Quelle: pexels

In Potsdam wurden vier Menschen in einer Einrichtung für Menschen mit Behinderung ermordet. Der mediale Aufschrei war kurz, der theologische Vorstand der Einrichtung meinte, es wäre nicht an der Zeit, grundsätzlich über Gewalt in Pflegeheimen zu sprechen. Was bleibt, ist die Frage: Wenn nicht jetzt, wann dann? Von Carla Magnanimo.

 

 

Lucille H.

Andreas K.

Martina W.

Christian S.

Vier Namen. Vier Menschen mit Geschichten, mit Familien und Freund:innen, mit guten und schlechten Tagen und unterschiedlichsten Erinnerungen. Vier Menschen, die nun nicht mehr leben. Denn sie sind gestorben. Nein, nicht bloß gestorben: Sie wurden ermordet. Sie sind nicht friedlich von uns gegangen, sondern wurden mit Gewalt aus dieser Welt gerissen und hinterlassen eine Lücke, insbesondere bei ihren Familien und im Freundeskreis, eine Lücke bei den Menschen, die sie kannten und liebten. 

Das habt ihr nicht mitbekommen?

Das ist vermutlich gar nicht so überraschend. Zwar wurde beim rbb und auch in lokalen Medien in Berlin und Brandenburg darüber berichtet, jedoch nur unmittelbar nach der Tat und in der darauf folgenden ersten Woche, als vor allem Politiker:innen und Influencer:innen ihre Anteilnahme und ihr Schockiertsein mit der Öffentlichkeit teilten. Ein knappes halbes Jahr später sind die Tat und die kurzzeitig aufgekommene öffentliche Diskussion über die Situation von Menschen mit Behinderung in Pflegeeinrichtung wieder aus vielen Köpfen verdrängt worden. 

Aber was genau ist geschehen?

Ende April wurden im Thusnelda-von-Saldern-Haus, einem Teil des Oberlinhauses und Potsdamer Einrichtung für Menschen mit Behinderung, vier Bewohner:innen tot aufgefunden. Offenbar wurden sie tödlich mit einem Messer verletzt, Ermittler:innen berichteten von Schnittwunden an den Kehlen der Opfer. Eine weitere Person wurde schwer verletzt. 

Als dringend tatverdächtig gilt eine Pflegerin des Oberlinhauses, in dem die vier Ermordeten untergebracht waren. Die Verdächtige wurde von einer Haftrichterin in eine psychiatrische Anstalt eingewiesen. In einem Spiegel-Artikel heißt es: “[…] Die Richterin habe dringende Gründe für eine eingeschränkte oder vollständige Schuldunfähigkeit der Beschuldigten erkannt.” Im September erhob die Staatsanwaltschaft in Potsdam Anklage wegen Mordes in vier Fällen, sowie versuchtem Mordes in drei Fällen und gefährlicher Körperverletzung in einem Fall. Aufgrund der Einweisung in die Psychiatrie wurde viel über die psychische Verfassung der Verdächtigen diskutiert, auch wenn „nach Angaben der diakonischen Einrichtung […] die Frau bisher nicht psychisch“ aufgefallen ist. Ein tatsächliches Motiv ist bisher nicht bekannt. 

Ein paar schlechte Gründe

Das Oberlinhaus in Potsdam Babelsberg
Das Oberlinhaus in Potsdam-Babelsberg. Quelle: Creative Commons Attribution-Share Alike 3.0

In einem rbb-Beitrag (der leider nicht mehr auffindbar ist…) nannte der Polizeipsychologe Dr. Gerd Reimann verschiedene Szenarien oder Erklärungen, wie es zu einer solchen Tat hatte kommen können. Zum Beispiel durch “eine dramatische Überforderung des Täters”.  Überforderung, die zu Mord führt. Durch solch eine gedankliche Verbindung von Tat und Motiv, wird die Pflege von Menschen mit Behinderungen als so unerträglich und anstrengend gezeichnet, dass es als Erklärung für einen Mord herhalten kann. 

Der Begriff “Überforderung” wird häufig im Zusammenhang mit der Pflege von Menschen genannt, sowohl von Menschen mit Behinderung als auch anderen pflegebedürftigen Personen. Dieser Beruf ist mit Sicherheit nicht zu unterschätzen. Dies zeigte sich auch noch einmal deutlich während der letzten zwei Jahre in der Coronavirus-Pandemie. Das Pflegepersonal aller Arten von Einrichtungen verrichtet eine bedeutsame Arbeit, die leider jedoch nicht entsprechend bezahlt oder gewürdigt wird. Aber diese Missachtung des Pflegeberufs und die damit einhergehende mögliche Überforderung durch zu viel Arbeit, zu viel Verantwortung und zu wenig Bezahlung, als Rechtfertigung für die Tat von Potsdam zu nutzen, ist zu vereinfacht. 

Jeder hat mal einen schlechten Tag – oder?

Diese Argumentation des unsteten Gemütszustandes als Tatmotiv erinnert (mich) an den rassistischen Mord im amerikanischen Georgia an acht Personen, sechs von ihnen asiatischer Abstammung, in diesem Jahr. Nachdem acht Menschen gewaltvoll aus dem Leben gerissen wurden, erklärte ein Polizist, der Täter habe “einen schlechten Tag” gehabt. Acht Menschen mussten betrauert werden, weil jemand einen schlechten Tag hatte. Wenn ich einen schlechten Tag habe, verkrieche ich mich mit einer Packung Florida-Eis im Bett und starre die Decke an. Wenn ich überfordert bin, kann ich nachts nicht gut schlafen. Ich habe aber nicht das Bedürfnis, meinen Mitbewohner zu ermorden. Diese Erläuterung scheint offensichtlich gerne genutzt zu werden, um den Mord an marginalisierten Gruppen herunterzuspielen. Indem Täter:innen ein besonders menschlicher Grund für ihre Taten gegeben wird, wird das Ausmaß der Grausamkeit verharmlost und unsichtbar gemacht. 

Die Getöteten bleiben tot, die Täter:innen erhalten ein Motiv, das sie nicht zu Mörder:innen macht, sondern zu Personen, denen einfach nur alles zu viel wurde. Und damit kann sich jeder schnell identifizieren. 

Der Aktivist für Inklusion und Barrierefreiheit, Raúl Krauthausen, sieht darin ein großes Problem: „Damit entsteht eine Täter-Opfer-Umkehr: weil die Bewohner*innen des Heimes wohl zu anstrengend seien, käme es zur Überlastung und damit zu der Tat. Dass diese Argumentationen bemüht werden, ist meine größte Sorge. Denn dies ist gefährlicher, und in diesem Fall tödlicher Ableismus […].“

Erlösung… aber von was?

Für Reimann ist eine mögliche Erklärung für die Morde auch “eine Motivation, die Leute zu erlösen, von Leiden, die vielleicht sogar unheilbar sind”. Das ist ein gefährliches Narrativ, findet auch die Aktivistin Tanja Kollodzieyski. Die immer wiederkehrende Betonung, dass Menschen in Pflegeberufen “Außergewöhnliches” leisten, steht für sie zu sehr im Fokus.* Häufig ignoriert werde jedoch die Diskriminierung und “Gewalt auf verschiedenen Ebenen”. Die Kolumnistin Margarete Stokowski weist darauf hin, dass der Begriff „Erlösung“ in der Zeit des Nationalsozialismus als “straffreie Erlösungstat” gesehen wurde.

Der Begriff der Erlösung stammt ursprünglich aus einem religiösen Kontext und zielt darauf ab, die Menschen von allem Negativen zu befreien. Also ist die Erlösung, oder das was darauf folgt, im Umkehrschluss ein positiver Moment. Menschen gegen ihren Willen und auf brutale Art das Leben zu nehmen, erscheint mir jedoch in keinster Weise als positiv. 

Die Ermordung von Menschen mit Behinderung als Erlösung anzusehen, ist nicht nur höchst diskriminierend, sondern auch gefährlich. Weil es das Bild vermittelt, dass Menschen mit Behinderungen keine eigenen Entscheidungen treffen können. Sie werden ihrer Identität, ihrer Kraft und ihrer Individualität beraubt. Es infantilisiert eine ganze Gruppe von Menschen. Und allein das ist schon eine Form von Gewalt. 

Das UN Hauptgebäude in New York
Erst ein Beschluss der UNO in 2006 gewährt Menschen mit Behinderungen dasselbe Recht wie allen anderen. Quelle: Wikimedia commons.

2006 wurde von der UNO das „Übereinkommen der Rechte von Menschen mit Behinderungen“ verabschiedet, welches in Deutschland 2009 in Kraft trat. Demzufolge sind Menschen mit Behinderung erst seit 12 Jahren gleichberechtigte Menschen, haben dasselbe Recht auf Bildung, Mobilität, Selbstbestimmtheit und vor allem das Recht darauf, nicht diskriminiert zu werden. 12 Jahre sind nicht sehr lang. Und erst seit so kurzer Zeit dürfen Menschen mit Behinderung offiziell nicht mehr diskriminiert werden. Wie kann das sein?!

Wenn nicht jetzt, wann dann?

Der theologische Vorstand des Oberlinhauses, Matthias Fichtmüller, sagte nach der Tat, dass es grundsätzlich zwar richtig sei, das Thema Gewalt in Heimen zu behandeln, aber „darüber könne man vielleicht in einem Jahr mal sprechen.“ In einem Jahr? Der Fall wurde doch bereits nach einigen Wochen schon nicht mehr so breit diskutiert, wie manch andere Vorfälle.
Eine Angestellte in einer Pflegeeinrichtung hat vier Menschen ermordet. Wann, wenn nicht jetzt, sollte man über Gewalt in Heimen sprechen? 

Es ist klar, dass die Vorstände versuchen, den Fokus von der Tatsache wegzurücken, dass eine ihrer Angestellten wegen Mord schuldig gesprochen werden könnte. Denn das wirft nicht nur ein schlechtes Licht auf die Pflegerin, sondern auch auf die Einrichtung an sich. Aber  “Trauerbewältigung und Aufklärung” als Vorwand zu nehmen, sich nicht mit der Gewalt, die geschehen ist, auseinanderzusetzen, zeigt, wie schnell man versucht, den Kopf aus der Schlinge zu ziehen. Natürlich sind diese Dinge wichtig. Aber wenn es soweit kommt, dass Menschen in solchen Einrichtungen möglicherweise um ihr Leben fürchten müssen, ist es vielleicht mehr als höchste Zeit, endlich ernsthaft über Gewalt im Pflegesystem zu sprechen. Und zwar häufiger, lauter und lösungsorientierter. 

Denn noch immer sind vier Menschen tot.

Lucille H.

Andreas K.

Martina W.

Christian S.

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