Die Jugend von gestern?

Mit seinem Werk „Jugend ohne Gott“ (1937) spiegelt Ödön von Horváth den gesellschaftlichen Werteverfall seiner Zeit wider. Am 30. November 2012 fand die Premiere des gleichnamigen Stücks in der Reithalle des Hans Otto Theaters (HOT) statt. Und die Frage stellt sich, inwiefern das Thema einer verwahrlosten und gewaltgeilen Jugend uns immer noch betrifft?

Ein namenloser Lehrer gespielt von René Schwittay steht vor seiner Tafel. Etwas stimmt nicht, irgendwo in dem Wort „GESCHTE“ hat sich ein Fehler eingeschlichen. Er sieht ihn bloß nicht. Vielleicht fehlt es an Distanz? Hinter seinem Rücken rollen vier uniformierte Schüler, der Z, der N, der B und der T,  eine weiße Plane aus, der Boden auf dem sie unter vollem Körpereinsatz kämpfen, Boden, um den es später zu kämpfen gilt. Wissen sie, was sie da tun? Der Lehrer wird aufmerksam von ihrem Geschrei. Er wendet sich ihnen zu und versucht sie zur Räson bringen. Sein heller Anzug wirkt zu verletzlich neben dem Schwarz der Uniformen und der strammen Haltung ihrer Träger. Die Ermahnungen erreichen die Schüler nicht, zwischen ihrem Gebrüll zuckt er nur zusammen.

Verloren zwischen Erziehungsideal und den gesellschaftlichen Ansprüchen der Zeit richtet sich die rote Tinte des Lehrers nicht nach der Moral, sondern nach dem, was im Radio zu hören ist. Doch einem Satz kann er nicht weiter unkommentiert lassen. Schüler N schrieb: „Alle Neger sind hinterlistig, dumm und faul.“ Der Lehrer streicht den Satz durch. Daraufhin beschwert sich der Vater des Schülers beim Lehrer und die Schüler lehnen sich gezielt gegen ihn auf. Der Direktor teilt zwar die Meinung des Lehrers, hilft ihm aber nicht. Er möchte schließlich noch seine volle Pension beziehen.

Was in der Bibel steht, so der Vater des Ns, sei metaphorisch zu nehmen. Alle glauben an Gott, zumindest ihren Worten nach. Opportunismus macht sich breit. Der Lehrer, wenn auch ein Antiheld, scheint der Einzige zu sein, den das irritiert, der zwar zögernd handelt, aber immerhin handelt. Doch seine Unentschlossenheit verlangt Opfer. Als der N erschlagen aufgefunden wird, beginnt die Suche nach dem Mörder. War es der Z? Immerhin hatten sich beide seit längerem in den Haaren. Oder der T? Der schon immer mal einen Menschen sterben sehen wollte, einfach nur so, um zu wissen, wie das ist. Oder war es Eva? Das Räubermädchen, das vor nichts zurückzuschrecken scheint.

Die große Frage, wer der Mörder war, wird gelöst. Doch eine viel größere schwebt im Raum: „Wer hat hier Fischaugen?“ Denn wir leben im Zeitalter der Fische. „Da wird die Seele des Menschen unbeweglich wie das Antlitz eines Fisches.“ konstatiert der ehemalige Lehrerkollege Julius Caesar (Axel Sichrovsky), fesch mit Glitzerlorbeerkranz auf dem Kopf. Wer also ist bloßer Beobachter, sieht hin ohne zu handeln, hört hin, ohne zu widersprechen? Die, die um ihre Pensionsberechtigung fürchten? Die Wissbegierigen, im Paradies der Dummheit lebend? Profitorientierte Konzernleiter und  Kirchenväter? Rabenmütter?  Die Bestechlichkeit in uns?

Bereits Michael Knof schwärmte von der „dramatischen, sprachlichen und gedanklichen Struktur“ der  horvátschen Prosa, deren Potential vom Ensemble des Hans Otto Theaters vollkommen ausgeschöpft wurde. Die Gedanken des Lehrers und denen seiner Umgebung werden über an der Decke hängenden Mikrofonen in den Raum gesprochen. Mehrere Stimmen, die sich ihm aufdrängen, von allen Seiten. Bestechend wird diese Inszenierung mit der stimmlichen Präsenz der Schauspieler, insbesondere der von Meike Finck, die zudem mit ihrer Gesangseinlage in alte Zeiten zurückversetzt. Die akrobatische Tollkühnheit von den Schauspielern Florian Schmidtke, Eddie Irle, Friedemann Eckert, Juliane Götz und Arne Gottschling vermittelt eindringlich den aufbrausend jugendlichen Tatendrang und ihre Liebeslust. Eine geschlossene, kleine Truppe diese Schüler, die mal kindlich unbeholfen daherkommen und drollig anmuten. Im nächsten Zug aber unheilvoll den Marschschritt ansetzen, alles niederwalzen wollen, was sich ihnen in den Weg stellt. Wie umgehen mit einer Jugend, die sich abnabelt und zugleich noch zu naiv ist für die Welt?

„Man müsste eine Waffe erfinden, mit der man jede Waffe um ihren Effekt bringen könnte, gewissermaßen also: das Gegenteil einer Waffe.“, sinniert der Lehrer. Und was anderes als Humor könnte eben diese Waffe sein? Das Ensemble hat es sich nicht nehmen lassen, der Thematik ihre komischen Momente zu entlocken und den Menschen in all seiner Hilflosigkeit und Schwäche in einer gewissen Lächerlichkeit darzustellen. Der Regisseur Alexander Nerlich gibt dem Werk Horváth  nicht unbedingt eine zeitgenössische Transformation, vielmehr schwebt das Thema einer sich selbst überlassenen Jugend und sich selbst überlassenden Erwachsenen zwischen der Zeit der Nazidiktatur und einer verzogenen Jugend á la Supernanny. Wenn die Problematik, die in Horváths Stück steckt, angesprochen wird, dann eher in ihrer Groteske. Die Frage inwiefern, wir es heute immer noch mit einer verlassenen und verratenen Jugend zu tun haben , wo Parallelen zu ziehen sind, wird nicht beantwortet, vielmehr stellt sie sich hier in ihrer Zeitlosigkeit und richtet sich an den Zuschauer selbst.

Im Allgemeinen muss die Wandlungsfähigkeit des gesamten Stücks gelobt werden. Die insgesamt 17 Rollen werden von den 9 Schauspieler_innen authentisch dargestellt. Schlicht, aber dennoch aussagekräftig überzeugen die Kostüme von Wolfgang Menardi, der selbst 2001-2004 Schauspieler am HOT war und auch die Gestaltung des Bühnenbilds übernahm. Dabei griff er auf einfachste Mittel zurück, die intelligent und interessant eingesetzt wurden. Die multifunktionale Bühne wurde somit  Klassenzimmer, Zeltlager, Gerichtssaal, Wohnraum in einem und darüber hinaus zum Kinobildschirm, an dem das ganze Geschehen aus der Vogelperspektive zu betrachten war. Aus Gottes Sicht, könnte man meinen. Was passiert, wenn man Distanz gewinnt, und man sich der eigenen Distanznahme im Spiel bewusst wird? Wissen wir, was wir tun?

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