„Alles geht vorüber, nichts ist je vorbei“ – „Gehen oder Der zweite April“ feiert im Hans Otto Theater seine Uraufführung

Eine ganz normale Familie (Foto: Thomas M. Jauk)

Es sind melancholische Klänge, die an diesem Freitagabend, dem 18.01.2019, in der Schiffbauergasse angestimmt werden: „Gehen oder Der zweite April“ von Jean-Michel Räber feierte im voll besetzten Großen Haus des Hans Otto Theaters Premiere. Von Clara Olberding.

Das Stück von Jean-Michel Räber ist sicherlich keine leichte Kost: Das Ehepaar Lore und Arno steht im Fokus des Geschehens. Sie haben sich entschlossen, gemeinsam aus dem Leben zu treten. Diesen Plan lange überdacht und ausgefeilt, wollen beide die Neuigkeit an ihre drei schon erwachsenen Kinder weitertragen, damit diese bereit und informiert sind, wenn es soweit ist. Also laden sie Anna, Jan und Jule ein.

Eine solide Familie?

Dass alles nicht ganz so reibungslos funktioniert, deutet sich schon an, als Anna (eine resolute und doch empfindsame Katja Zinsmeister) ihre kleine Tochter Emma mitnimmt und Jule (wunderbar aufbrausend und rebellisch von Laura Maria Hänsel) einen Hund und ihren altersschwachen Kater im Gepäck hat. Nicht die beste Ausgangssituation, um ein Gespräch unter Erwachsenen zu führen. Lore (eine großartige Rita Feldmeier) ist außer sich. Ihr an Alzheimer erkrankte Mann Arno (sensibel, feinfühlig und doch energisch von Joachim Berger) beruhigt sie: Sie seien doch eine solide Familie, da könne doch nichts passieren. Wenn er sich da mal nicht täuschen sollte.

Die Familie, eingesperrt im Haus, weil es draußen stürmt, wird geleitet von nie ganz verschwundenen Rivalitäten unter den Geschwistern und alten Kamellen, die man doch eigentlich längst vergessen haben wollte. Als die Bombe platzt, sind die Kinder sprachlos, aber Arno und Lore lassen sich nicht beirren. Vor allem Jan (ein cholerischer und sarkastischer Arne Lenk) hat kein Verständnis und brüllt seinen Vater an, warum er so feige ist, seine gesunde Frau mit in den Tod zu reißen. „Ich habe beschlossen, Musiklehrerin zu werden, ich habe beschlossen, Kinder zu bekommen, warum darf ich nicht beschließen, wann ich wie sterben möchte?“, sagt Lore. Für sie ist klar, dass ein Leben nach Arno nicht mehr möglich ist.

Der Ton macht die Musik

Musik spielt in der Familie und im Stück von Anfang an eine tragende Rolle. Francesco Wilking begleitet das Geschehen auf der Bühne mit Gitarre oder anderen Instrumenten, lässt sanfte Klänge da ertönen, wo Sprache keinen Platz mehr hat. Lore und Arno tanzen zu der Musik, nehmen sich die stillen Momente ganz für sich und genießen die Liebe und das Vertrauen, was sie teilen. Als sie schließlich gehen, sind sie ausgelassen, hören Schumann (oder war es doch Schubert?) und haben für sich das richtige Ende gefunden: Glücklich, mit Würde und – gemeinsam?

Die Enkeltochter in trauter Zweisamkeit mit ihrem Großvater. (Foto: Thomas M. Jauk)

Die kleine Emma, die durch Lauschen an der Tür von den Plänen ihrer Großeltern erfährt, geleitet das Publikum durch den Abend. Jahre später erinnert sich die Jüngste an den Abend, wo für ihre Mutter, ihre Tante und ihren Onkel eine Welt zusammenbrach und fungiert nun als Erzählerin. Sie tritt oft wie ein Fremdkörper in den Familienszenen auf und schaut passiv und doch traurig auf das Familiengeschehen.

Die Welt durch Kinderaugen

Nicht zuletzt durch die zwei Puppenfiguren, die Arnos und Lores Alter Egos präsentieren, wird ihr eine besondere Rolle zuteil, wenn sie gemeinsam mit ihrem Großvater die Puppen zum Leben erweckt. Zu diesem hat sie eine besondere Verbindung und führt ihn, wenn er mal wieder desorientiert durch die Wohnung streift, liebevoll zum richtigen Ort. Vielleicht zeigt sich vor allem an dieser Stelle wieder, wie viel besser die Jüngsten mit schweren Situationen umgehen können und wie gut es ist, dass gerade ein Kind den Abend dirigiert.

Die Geschwister beisammen. (Foto: Thomas M. Jauk)

Dieses emotionale Thema braucht aber auch einen feinen, liebevollen Komponisten wie Räber und einen Dirigenten wie Frank Abt, um es in zarten Weisen auf die Bühne zu bringen. Die Drehbühne (Michael Köpke), auf der eine Küchenecke und ein Klavier sich langsam im Uhrzeigersinn drehen, ist genau richtig schmucklos und lenkt daher nicht ab vom Geschehen. Zum Schluss dreht sie sich nicht mehr und auch die vielen Lampen auf der Bühne, die kurz vorher noch aufgestellt worden sind, werden andächtig ausgemacht: Das Stück ist vorbei.

Bleibende Erinnerungen

Der große und lange Schlussapplaus ist keine Überraschung: Dem Hans Otto Theater ist mit dieser Uraufführung ein fulminanter Abend gelungen, der in den richtigen Momenten leise Töne und in den anderen sehr laute anklingen lässt. Die Frage, ob der_die Sterbende egoistischer ist, oder die Hinterbliebenen, die nicht wollen, dass der geliebte Mensch geht, wird nicht gänzlich beantwortet. Muss sie aber auch nicht, denn im Grunde zählt nicht der Egoismus, sondern die Verbundenheit untereinander, die trotz Schwierigkeiten immer präsent ist. Die schönste Szene ist daher vermutlich, wenn die Kinder ihre Eltern nach den liebsten Erinnerungen oder Lieblingskomponisten fragen, während wieder Musik erklingt und Blätter auf die Bühne fallen. Und das ist wahrscheinlich auch das, was bleibt: Die Musik und die schönen Erinnerungen – auch die von diesem grandiosen Theaterabend!

Am 27. Januar gibt es nach der Vorstellung ein Publikumsgespräch mit Bettina Jacob, Leiterin des Evangelischen Hospizes Potsdam. Fragen wie „Wer darf über das eigene Lebensende bestimmen?“ werden auch von den Ensemblemitgliedern Laura Maria Hänsel und Joachim Berger und Dramaturgin Alexandra Engelmann diskutiert.

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