Die rosarote Brille

Beinahe zwei Jahre ist es schon her, dass ich die Erfahrung machte, die mit mir weitere 231.408 junge Europäer_innen im gleichen Jahr gemacht haben: Erasmus. Nun kehre ich zurück. Von Nathalie Wiechers.

Erasmus ist für die einen die Zeit, in der man das erste Mal eine Hausarbeit in einer anderen Sprache als Deutsch verfasst und Kurse in jener Sprache belegt. Man setzt sich intensiv mit der Kultur eines anderen Landes auseinander, isst mehr oder weniger verrückte Nationalgerichte und macht sich vertraut mit fremdländischen Traditionen. Erasmus bedeutet aber auch für den einen oder anderen täglich in einem anderen Bett und neben einer anderen Nationalität aufzuwachen, sich zu verlieben in Menschen, denen man wohl ohne jenes Programm niemals begegnet wäre und so einen eigenen ganz persönlichen Beitrag zur europäischen Integration und Einheit beizutragen.

Für mich persönlich war es die Zeit, in der meine einst wohl gepflegte und bewusst klein gehaltene Zahl bei der Facebook-Freundschaftsanzeige dramatisch anstieg und mein Profil digitale und virtuelle Verbindungen in fast jedes Land im Schengenraum verzeichnete und dies natürlich immer noch tut. Es war aber vor allem jene Zeit, in der ich dem magischen Zauber und dem Charme meines ERASMUS-Aufenthaltslandes Irland erlag. Seitdem fühle mich verbunden zu seiner Bevölkerung, Kultur, Natur und der Geschichte. Ich freue mich, wenn die Werbung der Butter von glücklichen Kühen läuft und auch die neuste Werbekampagne des irischen Tourismusverbandes in der TV-Werbung ausgestrahlt wird. Und genau dann fühle ich das, was die Werbemacher erreichen wollen. Ich will diese in glänzendes Gold verpackte Butter auf meinem Brot, während ich mit Trekkingsachen durch die wildromantische Natur dieser grünen Insel wandere. Ich habe ganz schreckliches Fernweh nach dieser meiner Wahlheimat.

Wie viel Realität steckt aber hinter diesen Eindrücken und wie viele davon sind lediglich auf meine rosarote Brille im Hinblick auf diese Insel zurückzuführen und die tolle Zeit, die ich mit Studentinnen und Studenten aus Irland und ganz Europa verbracht habe? Was bleibt von dieser ganzen Magie und der Anziehungskraft, wenn man nach knapp zwei Jahren an jenen nahezu magischen Ort zurückkehrt?

Zurück auf der grünen Insel, die vor allem für ihren immensen Reichtum an Schafen, dem sehr wechselhaften Wetter, sowie für die landestypischen alkoholischen Verführungen bekannt ist, kann ich für mich beruhigt feststellen, dass es die Schafe noch immer gibt und auch der Regen nicht allzu lange auf sich warten lässt. Auch ist die Begeisterung der Inselbevölkerung für das „Wasser des Lebens“ (die ursprüngliche Bedeutung des Wortes Whiskey) und die traditionelle Live-Musik in den Pubs ungebrochen. Gleiches gilt für die in Scharen anreisenden Touristen aus aller Welt und ihre Faszination für den sogenannten „Black Stuff“ (Guinness), den Iren selbst nach eigenen Angaben heute nur im Teenageralter als „Trinkanfänger“ und dann erst wieder als Oldies konsumieren.

Gleich geblieben zu meinen Erinnerungen und Eindrücken aus dem Jahr 2011 und so zwar vertraut, aber dennoch nicht erfreulich, ist die noch immer fassbare Präsenz der Eurokrise im irischen Alltag. Dies manifestiert sich vor allem in den Seitenstraßen der Großstädte und auch in kleineren Dörfern, in denen unzählige Geschäfte und Büroräume leer stehen.

Hier hat sich also nicht viel geändert, nach etwa zweieinhalb Jahren nach dem Unterschlüpfen des Landes unter dem Rettungsschirm der Eurostaaten und des Internationalen Währungsfonds (IWF). Zwar wird die Inselrepublik immer wieder als leuchtendes Musterbeispiel von EU-Kommission und IWF angeführt, jedoch im Land selbst leiden die Bewohner faktisch noch immer unter der Last der Krise. Dies ist neben dem Leerstand in Geschäften ablesbar an stagnierenden hohen Zahlen bei der Arbeitslosigkeit und einem Absinken der Industrieproduktion. Irland kämpft mit einem hohen Haushaltsdefizit und einem immensen Schuldenstand. Vor allem die Jugendarbeitslosigkeit ist wie bei anderen krisengebeutelten europäischen Nachbarn hoch, stieg diese laut dem Bericht des European Monitoring Centre on Change (EMCC) zwischen 2007 und 2011 auf 29,1 Prozent. Damit gesellt sich Irland zu anderen Krisenstaaten wie etwa Spanien und Griechenland.

Mehr und mehr Jugendliche, auch jene die mit mir zusammen in den Kursen gebüffelt haben für ihre Abschlüsse, müssen und mussten ihr Land verlassen und schließen sich so ihren Ahnen an sich anderswo auf der Welt Arbeit suchen zu müssen. Diese Tradition, vor allem im 19. und 20. Jahrhundert in der irischen Geschichte, scheint sich zu wiederholen und ist auch einer der Gründe, warum der kürzlich begangene irische Nationalfeiertag, besser bekannt als St. Patricks Day, weltweit Beachtung findet und gefeiert wird. So können etwa 80 Millionen Menschen weltweit irische Ahnen benennen.

Durch meinen Aufenthalt mit ERASMUS in Irland sind diese dargelegten Zahlen und Geschichten für mich persönlich mehr als nur Fakten und Nachrichten, die durch die bunten Flimmerbilder des Fernsehers und durch Artikel in mein Wohnzimmer und in meine Gedanken getragen werden. Ich kann mich stärker mit den dort lebenden Menschen identifizieren und verstehe deren Ängste, aber auch die Bekanntschaft mit anderen Studentinnen und Studenten aus Europa und Ländern wie Spanien bringt mir jene Problematiken viel näher. ERASMUS hat mich einem geeinten Europa nähergebracht, als es meiner Meinung nach jeder andere politische Beschluss jemals hätte erreichen können.

Die Frage, die ich mir also selbst zu stellen habe, ist nicht die, wie viel Wahres und Fakten hinter dieser rosaroten-Brille-Sicht auf mein ERASMUS-Land, die Zeit und die Erinnerungen zu verorten sind, sondern was sie ganz besonders für mich und alle Betroffenen bedeuten. Von meinem Blick mit eben dieser Brille auf die Inselrepublik ist noch immer meine Liebe für Land und Leute geblieben, auch wenn an meinem Wohnheimfenster nun nicht mehr meine Gardinen hängen, mir unbekannte Studenten auf dem Campus begegnen und andere Menschen an meinem Platz in der Universitätsbibliothek sitzen. Natürlich läuft die Zeit weiter und Dinge verändern sich, doch meine positiven Erinnerungen und beeindruckenden Erlebnisse kann mir auch die vergangene Zeit nicht nehmen und so geht auch die Magie der ERASMUS-Zeit jetzt und auch in der Zukunft für mich auf keinen Fall verloren.

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