Gute Freunde sind immer da, auch nachts. Und sollte doch mal etwas dazwischenkommen, könnt ihr bei der Nightline Potsdam anrufen. Das „Zuhörtelefon von Studierenden für Studierende“ hat sich unseren Fragen gestellt. Von Angelina Schüler
Seit den 70er Jahren gibt es das Konzept der Nightline. Damals noch an englischen Hochschulen, doch der Trend schwappte von der Insel rüber und Heidelberg etablierte vor 20 Jahren das erste „Zuhörtelefon von Studierenden für Studierende“. Seitdem sind circa 18 Universitäten im deutschsprachigen Raum mit dabei – auch die Uni Potsdam. Wie die Arbeit der Nightline aussieht, was es für Möglichkeiten gibt, die Nightline zu unterstützen und wie ein Gespräch in der Nacht wirklich abläuft, wollten wir von der speakUP genauer wissen.
speakUP: Hallo Tine und Isabell*, schön, dass ihr da seid. Gleich vorweg, euch ist Anonymität bei denjenigen, die bei der Nightline telefonieren, ganz wichtig. Deshalb hat Isabell heute auch einen anderen Namen. Wie viele Menschen sind bei euch denn aktiv und können tatsächlich angerufen werden?
Tine: Also dreißig Mitglieder sind es definitiv, wenn nicht sogar 40. Und 20 davon sind am Telefon.
speakUP: Wie läuft euer Dienst ab? Habt ihr ein festes Telefon oder sind das private Telefone?
Tine: Wir haben ein Büro, in dem unser Telefon steht und genau das ist auch die Nummer, die erreichbar ist. In diesem Büro wird der Dienst komplett geführt, von 21 bis 0 Uhr.
speakUP: An welchen Tagen seid ihr erreichbar?
Isabell: Sonntag bis Donnerstag.
Tine: Genau, nur Freitag und Samstag nicht.
speakUP: Hat das eine spezielle Bewandtnis oder habt ihr Erfahrungswerte gesammelt, dass an den Tagen die wenigsten Leute anrufen?
Tine: Ursprünglich haben wir drei Tage in der Woche angeboten und nun auf fünf erweitert. Der Bedarf schwankt ab und zu, aber wir wollen unsere Kapazitäten gern voll ausschöpfen. Dadurch können wir unser Angebot jetzt noch konstanter zur Verfügung stellen. Und außerdem merkt sich „immer außer freitags und samstags“ auch viel besser.
Isabell: Das hat auch mehr oder weniger pragmatische Gründe. Das heißt, dass wir auch am Freitag mal weggehen oder ein Wochenende frei haben wollen. (beide lachen)
speakUP: Wie teilt ihr euch die Dienste auf?
Isabell: Es gibt einen Dienstplan. Da trägt sich ein, wer Kapazitäten hat. So viel wie man will und so wenig wie man will. Es gibt keinen Zwang.
speakUP: Wie kamt ihr dazu, bei der Nightline zu arbeiten. Was ist die Motivation dahinter?
Tine: Wir haben Psychologiestudent_innen, bei denen das wahrscheinlich die Berufskrankheit ist, anderen Menschen helfen zu wollen. Das ist vielleicht eine Richtung, in die sie später gehen wollen. Ansonsten haben wir auch einige Student_innen anderer Fachrichtungen. Meistens kommt die Motivation von dem Wunsch, sich ehrenamtlich zu engagieren. Da gibt es ja an der Uni Potsdam mehrere Möglichkeiten. Wir hören als Beweggrund immer, dass das Interesse an unsere Hochschulgruppe geweckt wurde, weil man direkt am Telefon helfen kann. Es gibt aber bei uns auch andere Möglichkeiten, sich zu engagieren. Es gibt von uns auch Leute, die nicht telefonieren. Die sind dann nicht immer automatisch in der Öffentlichkeit. Wir haben verschiedene Teams, in denen wir uns organisieren. Da kann sich jeder und jede mit deren Fähigkeiten einbringen. Sei es Finanzen, Technik, Werbung. Da steckt viel Organisation dahinter, was im ersten Moment nicht zu sehen ist.
Isabell: Zum Beispiel auch die Schulung. Das muss auch erledigt werden.
Tine: Man kann generell gleich bei uns einsteigen, aber man muss vorher eine Verschwiegenheitserklärung unterzeichnen. Und wir lassen niemanden ans Telefon, der noch keine Schulung absolviert hat.
speakUP: Tine, du hast vorhin von Bedarf geredet. Ist tatsächlich Bedarf bei den Studierenden und wenn ja, inwiefern? Es gibt ja schließlich auch den Psychologischen Beratungsdienst der Universität.
Isabell: Der wesentliche Unterschied zum psychologischen Beratungsdienst ist sicher der, dass wir erreichbar sind, wenn es keiner mehr ist. Es sind die Abendstunden, wo keiner mehr in einer Beratungsstelle sitzt, wo oftmals auch Freunde nicht mehr erreichbar sind. Es gibt zwar Leute, die man nach 22 Uhr noch anrufen kann, aber eben nicht alle. Wir sind erreichbar, wenn es keiner mehr ist. Und wir hören immer erstmal unvoreingenommen zu, weil wir die Personen ja vorher nicht kennen. Deswegen sind unsere Gespräche auch grundsätzlich anders als die mit Freunden.
speakUP: Wer ruft da an und worum geht es bei den Gesprächen?
Isabell: Es kann um alltägliche Sachen gehen. Um Streit mit den Partnern, um banale Sachen, die vielleicht bis morgen wieder gut sind, aber in dem Moment die Gedanken beherrscht. Probleme in der WG, Einsamkeit, Redebedarf.
Tine: Es gibt Themen, die studienspezifisch sind. Stress in der Uni zum Beispiel oder auch Unsicherheit bei der Studienwahl. Dann auch unabhängig vom Studium Probleme, die allgegenwärtig sind.
speakUP: Ich habe gehört, dass ihr euch auf die Arbeit bei der Nightline mit einer Schulung vorbereitet. Was lernt man da und wie hilfreich ist das?
Isabell: Man hat ein Wochenende, an dem man in den verschiedenen Kommunikationstechniken geschult wird. Um uns eben auch von Freunden zu unterscheiden. Wenn man mit Freunden über ein Problem redet, kommt als erstes ein Urteil, eine eigene Erfahrung oder ein Ratschlag. Mach es so und so. Das ist nicht unser Anspruch. Die Lösung für ein Problem soll aus demjenigen selbst kommen, der bei uns anruft. Das ist natürlich nicht ganz leicht, sich selbst auch komplett rauszunehmen aus einer Situation.
Tine: Bei uns wird das Nondirektivität genannt. Dass man eben keinen Lösungsvorschlag anbietet, sondern denjenigen in seinem Prozess begleitet. Dabei ist es wichtig, sich selbst rauszunehmen und den Anrufer in den Mittelpunkt zu stellen. Es hängt auch viel mit dem Ordnen von Gedanken zusammen. Man kennt das von sich selbst. Wenn man die Gedanken irgendwann mal ausgesprochen hat, dann ordnet man das schon selber beim Reden. Wenn dann noch Fragen kommen, die helfen, das Problem abzugrenzen, dann ist das eine gute Sache.
speakUP: Isabell, wurdest du schon mal von Kommiliton_innen an der Stimme erkannt? Und was würde man tun, wenn es passiert?
Isabell: Nein, noch nie. Wenn das so wäre, käme es sicher auch auf die Person selbst an. Wer mich erkennen würde, würde mir vermutlich sehr nahe stehen. Da könnte ich mir vorstellen, dass ich sage „Ich ruf dich nachher nochmal an und erkläre dir alles„.
Tine: Man kann sich ja auch nie zu hundert Prozent sicher sein. Die Wahrscheinlichkeit, dass überhaupt jemand anruft, der einen kennt, ist schon sehr gering. Und dann müsste man die Person ja noch erkennen. Die Grundregel ist da erstmal Füße stillhalten, durchatmen und überlegen, was jetzt sinnvoll wäre. Kann ich den Anrufer vielleicht sogar begleiten, ohne dass das zur Sprache kommen muss, weil er oder sie das selber gar nicht merkt?
speakUP: Ich sehe auf dem Campus immer eure Tierchen, also die Kostüme, in die ihr schlüpft und Free Hugs verteilt. Wann habt ihr damit angefangen?
Tine: Wir haben damit relativ bald nach der Gründung 2010 angefangen. 2012 glaube ich, kam unser PR-Team auf die Idee, über Flyer und Plakate hinaus in die Öffentlichkeit zu gehen und auf uns aufmerksam zu machen. Wir haben mit Telefon-Kostümen angefangen. Wir wollten ja unsere Telefonisten verbergen. Mit den Telefon-Kostümen kam es dann aber zu Missverständnissen, weil die Leute glaubten, wir wollen ihnen irgendwelche Telefone andrehen. Das ging so nicht. Jemand Schlaues ist dann auf die Idee mit den Free Hugs gekommen und diese Kostüme zu bestellen. Das kam von Anfang an gut an. Wir machen das jetzt seit 2013 immer am Semesteranfang an allen drei Uni-Standorten und zusätzlich bei vielen Veranstaltungen.
speakUP: Das kommt offensichtlich gut an. Ich sehe euch immer auf dem Campus kuscheln und hole mir auch gerne mal meinen Knuddler ab.
Tine: Das ist auch immer ganz unterschiedlich. Es gibt da Leute, die ihren Personal Space wahren wollen und uns dann anlächeln, aber nicht umarmt werden wollen. Es gibt natürlich auch welche, die ganz cool sind und keinen Bock haben.
Isabell: Aber manchmal auch total unerwartet bei Leuten, bei denen man von weitem denkt, die sind zu cool für uns. Die kommen dann freudestrahlend mit ausgebreiteten Armen auf uns zu.
Tine: Für uns ist das auch ganz wichtig zu sagen. Das soll ein Angebot sein, genau wie unser Telefon. Es soll ein Angebot zur guten Laune sein. Wir wollen da niemanden bedrängen. Dabei entstehen dann schöne Momente, bei denen man direkte Rückmeldungen bekommt. Einmal hat mich einer bei den Knuddel-Aktionen umarmt und meinte „Hey, ich hab schon mal bei euch angerufen. Ihr seid voll gut!“ Diese Ehrlichkeit war ein ganz, ganz toller Moment für mich.
Isabell: Auch am Telefon ist das schön, wenn man ein positives Feedback bekommt. Wenn die Anrufer meinen, dass es ihnen geholfen hat. „Jetzt geht es mir besser“, allein das ist super. Umgekehrt kann es auch sein, dass man nicht wirklich helfen kann. Wenn jemand anruft und eine fertige Lösung von uns erwartet, können wir nicht weiterhelfen.
Tine: Oder wenn es unsere Kompetenzen überschreitet. Wenn es in Probleme reingeht, bei denen andere Beratungsstellen besser helfen können. Dann müssen wir auf andere Möglichkeiten verweisen. Wir haben eine lange Liste an Beratungsstellen, die wir stets zur Hand haben, wenn ein Thema unsere Kompetenzen übersteigt.
speakUP: Mich interessiert noch, wie ihr euch finanziert.
Isabell: Wir finanzieren uns durch die Unterstützung von der Versammlung der Fachschaften (VeFa), vom Allgemeinen Studierendenausschuss (AStA) und durch Spenden. Wir verteilen Kuchen für kleines Geld oder kriegen manchmal von Professor_innen kleine Beträge.
Tine: Und die wichtigste Spende ist natürlich die Zeit. Wenn man sich überlegt, dass wir über 30 Mitglieder haben, die das ehrenamtlich machen. Jede_r Einzelne ist so eine Bereicherung für uns. Das ist so viel wert. Die Zeit, die alle Mitglieder investieren, ist unbezahlbar.
*Name von der Redaktion geändert
Wenn ihr Menschen zum Reden braucht, dann ruft von Sonntag bis Donnerstag 21 bis 0 Uhr bei der Nightline an: 0331 977 1834
Weitere Informationen, Termine und Mitmachmöglichkeiten findet ihr auf der Website der Nightline www.nightline-potsdam.de und auf ihrer Facebook-Seite.
3 Antworten auf „Eine Nummer für alle: Die Nightline Potsdam im Interview“