Ich sag’s dir offen ins Gesicht: Das möchte ich lieber nicht.

„Ich möchte lieber nicht.“ (Foto: Thomas M. Jauk)

Nein sagen kann so einfach sein – oder nicht? Das Hans Otto Theater lud an diesem Samstagabend, den 27. April 2019, dazu ein, das System zu hinterfragen, in dem wir leben. Ein System, was funktioniert und den_die ausstößt, der_die nicht zu passen scheint und nicht so recht funktionieren will. Einen Bartleby zum Beispiel, der die Basis dieser szenisch theatralen Reise bildet. Von Clara Olberding.

Fünf riesige Buchstaben liegen, stehen auf einer offenen Bühne. Die Blicke schweifen beim Hereinkommen vom B zum I zum T zum C und schließlich zum H. Hinter ihnen luken bunte Schuhe hervor und an ihnen hängen, stehen verschiedene Musikinstrumente: Vom Cello über die Gitarre bis hin zum Schlagzeug ist alles vertreten. Auf dem liegenden C stapeln sich lose Blätter. Im Hintergrund erklingen rhythmische lateinamerikanische Klänge. Was hat dieser Abend nur vor?

Die Musik ist aus, der Spot geht an und Jörg Dathe tritt hervor als gewitzter Moderator des Abends, der immer wieder den Fokus auf den Originaltext legen wird, auf den Schreiber Bartleby, der eines Tages einfach lieber nicht mehr möchte. Ein_e Aussteiger_in, der_die das System auf den Kopf stellt, in dem ein_e jede_r die Anpassung perfektioniert hat. Bartleby sagt da Nein, wo die meisten es nicht wagen, und erntet erst verantwortungsvolles Verständnis und dann wütende Ungläubigkeit. Sein Chef lässt ihm alles durchgehen, sucht sich ein neues Büro, als Bartleby das alte besetzt, und dennoch landet Bartleby schließlich im Gefängnis, wo er stirbt. So viel also zum Orginal.

Ich möchte lieber nicht

Wo ist Anpassung angebracht? (Foto: Thomas M. Jauk)

Das Produktionsteam rund um die Regisseurin Nina de la Parra hat bei der Potsdamer Inszenierung einen persönlichen Weg gesucht, die Figur des stagnierenden Bartlebys zu deuten, um ihn ins Hier und Jetzt zu transportieren. In Szenencollagen gewährt das Ensemble dem_der Zuschauer_in einen Einblick in die Stückentwicklung und zeigt auf, wo das Individuum in der Gesellschaft eigentlich lieber nicht möchte, sich aber nicht traut, diesem Gefühl Luft zu machen.

Da wäre zum einen das junge Pärchen, das ohnehin auf seinen ökologischen Fußabdruck achtet, bis die Frau dem Ganzen die Krone aufsetzt und den Veganismus als einzig logisches Endziel proklamiert. Der Partner möchte eigentlich lieber nicht: Nicht zum Yoga-Retreat mit dem Billigflieger und nicht nur bewusst leben, um, na um des bewussten Lebens willens. Ein anderes Pärchen steht vor der Frage, ob Polyamorie funktionieren kann, wenn es eigentlich nicht beide wollen. In einem anderen Moment des Abends wird der glücklichste Hartz-IV-Empfänger interviewt, der Aussteiger aus dem System schlechthin, aber braucht nicht er das System am meisten?

Anpassung oder lieber nicht?

Die Lösung für Gegen-den-Strom-Schwimmer_innen wie Bartleby? Dem System entfliehen, sich ihm anpassen oder seine eigenen Regeln aufstellen in einer Gesellschaft, die eigentlich schon eine Schwimmrichtung vorgibt. Wer fällt aus dem System raus? Wer will auffallen? Der_die psychisch Erkrankte, der_die nicht mehr funktioniert und von oben herab behandelt wird? Der_diejenige, der_die keine gute Miene zum bösen Spiel machen kann? Die deklarierten Systemkritiker_innen? Diejenigen, die sich durch Sexualität oder Hautfarbe von den Anderen unterscheiden? Diejenigen, die resultierend aus allem, „lieber nicht mehr Teil der Menschheit sein wollen“?

Es sind systematische Aussteiger_innen, die das Ensemble in einer riesigen Szenencollage beleuchtet. Wer auf der Suche nach dem Originaltext ist, wird nicht so recht befriedigt aus dem Abend herausgehen. Aber vielleicht ist gerade das die Kunst der Potsdamer Produktion: Den persönlichen Bartleby in Jedem_Jeder zu erwecken und zu hinterfragen, ob der Bartleby das System braucht oder das System einen Bartleby, der sich da äußert, wo es die anderen nicht schaffen.

Systematischer Ausstieg

Der klare Star des Abends ist Jonas Götzinger, der als personifizierte Zeit die Sekunden nach vorne springt, als Grafiknerd die Fakten zu den Szenen liefert und den ganzen Abend sein anfängliches Versprechen hält, „lieber nicht hochdeutsch sprechen zu wollen“, sondern stattdessen dem Schwytzerdütschen treu bleibt. Aber auch Jörg Dathe brilliert als amerikanischer Moderator, als hilfloser Vater eines schwulen Jungen oder als ganz er selbst, als er davon erzählt, wie er lieber nicht den Vorschlag einer Regisseurin umsetzen wollte, einen Bikini anzuziehen. Es ist die Kunst dieses Abends die Komik und den Ernst zu verbinden, um aus dieser Mixtur den Bartleby zu brauen, der nicht lustig sein will, sondern einfach „lieber nicht mehr möchte“.

Hier passt doch alles! (Foto: Thomas M. Jauk)

Der Abend ist ein Gemeinschaftsprojekt: Schrille Neon-Kostüme treffen im klaren Kontrast auf steinerne Buchstaben (Bühne und Kostüme: Carla Friedrich), autobiografisch anmutende Erzählungen werden fusioniert mit Gedankenspielereien, die die Dramaturgin Natalie Driemeyer zu einem wider Erwarten stringenten Abend zusammengezurrt hat. Wider aller Erwartung, weil man sich auf das theatrale Puzzle einlassen muss, auf einen anderen Theaterabend, der so viel mehr möchte, als nur nacherzählen. Ein Abend, der einlädt, zu hinterfragen, wo man selber mal nicht mehr mochte. Bravo für diesen systematischen Ausstieg und für den Mut, mal etwas ganz anderes zu wagen. Gerne mehr davon!

Das knapp zweistündige Spektakel gibt es das nächste Mal am 11. und 30. Mai zu sehen.

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