Deniz Aytekin: „Respekt durch Menschlichkeit und Empathie“

Comeback geglückt:
Der Top-Schiedsrichter, Redner und Buchautor Deniz Aytekin kehrte nach langer Verletzungspause auf die nationale Bühne zurück. Indem er erfolgreich den Belastungstest in Bayern bestand, leitete er am 28. Februar 2025 die Zweitliga-Partie zwischen Schalke 04 und Preußen Münster.
Jüngst war Aytekin jedoch in diversen Fernseh- und Talkshowformaten zusehen. Unter anderem war er am 27.01.2025 Gast beim uniinternen Format „Juristischer Salon“ an der Uni Potsdam. Dort konnte man den Schiedsrichter abseits des Spielfeldes kennenlernen. Gemeinsam mit Herrn Prof. Dr. Marcus Schladebach unterhielten sie sich über den Profifußball, Spielertypen und Kommunikation. Von Oleg Klinke.
Ein starker Einstieg: Die WM 1978
Herr Prof. Dr. Marcus Schladebach sorgte bereits in der ersten Minute des Gespräches für eine unterhaltsame Atmosphäre. Er präsentierte einen alten Fußball und fragte Aytekin nach dessen Herkunft. Nach kurzem Nachdenken erkannte dieser den Tango Durlast – den offiziellen WM-Ball von 1978, seinem Geburtsjahr. Der WM-Ball, der am 01.06.1978 in Argentinien das Spiel zwischen Deutschland und Polen eröffnete. Damals endete das Spiel mit einem Unentschieden. Dieses Detail verlieh dem Gespräch von Anfang an eine persönliche und humorvolle Note.
Es folgte ein Thema, das im Sport eine zentrale Rolle spielt: Integration. Sport integriert und das hatte auch Aytekin erkannt. Als Sohn eingewanderter Eltern verbrachte er seine Kindheit sowohl in Franken als auch in der Türkei. Bereits in jungen Jahren erkannte er seine Leidenschaft für Fußball, Regeln und Gerechtigkeit.
Ironischerweise gestand er mit einem Augenzwinkern eine bemerkenswerte Tatsache: Er hasse es zu laufen. Dennoch durchläuft er als Schiedsrichter einen intensiven Fitnesstest: 40-mal 75 Meter Sprint mit kurzen Pausen. „Nach den ersten zehn Läufen geht es noch. Nach zwanzig denkt man über alles Mögliche nach. Nach 25 fühlt man sich klinisch tot. Und dann merkt man, dass noch 15 vor einem liegen.“ Dennoch lohne sich der Aufwand: „Diese 3% mehr? Die sind nur für den Einlauf ins Stadion.“ All das für diesen einen Moment.
Ausdauer, Disziplin und Respekt
Mit diesen Worten richtete Aytekin eine zentrale Frage an das Publikum: „Was treibt dich an? Ist es dein Umfeld? Deine Kollegen? Wofür machst du das?“ Er erinnerte sich an seine eigenen Anfänge im Fußballsport, geprägt von Verzicht und Disziplin.
Lehrgänge, Trainings und Fortbildungen bestimmten sein Leben – das soziale Umfeld litt darunter. Doch gerade diese Erfahrungen brachten ihm den nötigen Respekt gegenüber Fans, Spielern und Trainern ein. Dabei betonte er, dass Respekt nicht durch die Funktion allein entsteht: „Respekt kommt durch Empathie und Menschlichkeit. Alles andere ist nicht nachhaltig.“
Analyse & Kontrolle
In der zweiten Hälfte des Gesprächs ging Aytekin auf den Kern seiner Tätigkeit ein: Kontrolle und Analyse. „Es geht nicht darum, Karten zu zeigen. Es geht darum, das Spiel zu lesen, sich richtig zu positionieren und die mentale Verfassung der Spieler zu erkennen.“ Dieser Job erfordert auch, wie Aytekin berichtet, „proaktiv zu sein, sonst gibt es Selbstjustiz“. Sein Eindruck ist, dass einige Spieler denken, der Platz sei ein rechtsfreier Raum. „Man ist für 90 Minuten Babysitter“, verriet er mit einem Schmunzeln.
Er sprach auch darüber, wie sich Mannschaften unterscheiden: „Je kontrollierter und professioneller ein Team spielt, desto planbarer ist das Spiel. Trotzdem passieren Fehler, auch nach 20 Jahren Erfahrung. Wir Schiedsrichter wollen nicht im Mittelpunkt stehen. Wir sind Dienstleister.“ Sie sollen nur den Regeln Geltung verschaffen und sich im Hintergrund bewegen. „Wegen uns gehen die Menschen nicht ins Stadion.“ Und dennoch: „Wenn du Strahlkraft besitzt, eine Persönlichkeit hast und fit bist, kann ich den Job absolut empfehlen.“
Er analysiert zwar die Spieler, aber auch seine eigene Leistung. „Ich bin der langsamste Schiedsrichter der Liga“, spöttelte er über sich selbst. In einer Leistungsgesellschaft bemängelt er, dass man schnell abgeschrieben wird. Dabei spielt es keine Rolle, wie viel Spiele man bereits gepfiffen hat. Champions League, Weltmeisterschaft, Spitzenspiel in der 1. Liga. Das ist alles irrelevant, wenn man die Leistung nicht bringt. „Wo ist die Menschlichkeit geblieben?“, fragte er sich an dieser Stelle.
Mannschaftstypen & Egoisten
Ein großes Anliegen in seinem Job ist es eine Form der Wertschätzung zu zeigen; für Spieler und das Trainerteam. Unter der Bedingung der Gegenseitigkeit. „Alle wollen Wertschätzung“, betonte er. Trotzdem sieht sich Aytekin mit verschiedenen Spielertypen konfrontiert. Diese reichen von angenehmen, selbstreflektierend und eloquenten Spielern bis hin zu egogetriebenen Alleingängern, die trotz eines Sieges der Mannschaft unzufrieden sind, weil sie kein Tor erzielt haben. „Dann muss ich ihnen das Gefühl geben, dass ich für sie da bin. Sonst fühlen sie sich wie eine Spezies, die vor dem Aussterben bedroht ist.“
Gerade Top-Spieler seien es gewohnt, ständig gelobt zu werden. „Wenn du die ganze Zeit von allen Seiten gehört bekommst, was du für ein geiler Hengst bist, dann ist es schwierig, am Wochenende auf den Trainer zu hören. Wir beleidigen keine Spieler und umgekehrt soll das auch so sein.“ Er habe trotzdem den Eindruck, dass er öfters Therapeut oder Tröster ist: „Wir Schiedsrichter haben eine abwechslungsreiche Tätigkeit“.
Stellungsspiel & Sprache
Die Diskussion wandte sich dann der Positionierung eines Schiedsrichters zu. Aytekin verglich das Fußballspiel mit dem Straßenverkehr: „Bestimmte Wege renne ich nicht – sonst werde ich überfahren.“ Besonders bei schnellen Spielern wie Alphonso Davies werde einem die eigene Geschwindigkeit bewusst: „Wenn er mit 37 km/h an dir vorbeizieht, denkst du anders über dein Leben nach“. In der Kommunikation mit den Spielern habe er sich einige Tricks angeeignet.
Da nicht jeder Spieler Englisch spricht, hat er sich die wichtigsten Vokabeln in mehreren Sprachen eingeprägt. Eine Episode blieb ihm dabei besonders in Erinnerung: „Bei einem Spiel zwischen Brasilien und der Schweiz sagte ich zu Neymar auf Portugiesisch ‚um pouco‘, um auszudrücken, dass es für ein Foul nicht ausreichte. Er dachte, ich könnte Portugiesisch und legte los. Meine Assistenten haben sich in der Kabine kaputtgelacht.“
Er ist dennoch daran bemüht, eine Brücke zwischen den Spielern und den Offiziellen im Spiel aufzubauen. „Wenn sie stabil genug ist, dann kann sie auch die Lasten tragen, wenn es mal schwierig wird.“ Selbst, wenn flapsige Begriffe, wie „Digga“ oder „Bro“, gerade von jungen Spielern kommen, muss sich der Schiedsrichter immer wieder neu auf die Situation einstellen.
Ein gelungener Abschluss
Nach zwei Stunden voller spannender Einblicke, unterhaltsamer Anekdoten und inspirierender Denkanstöße endete der Abend mit einer Fragerunde. Die Studierenden nutzten die Gelegenheit, Aytekin persönliche Fragen zu stellen, bevor sie sein Buch erwerben und Erinnerungsfotos machen konnten. Der Applaus war langanhaltend – ein Moment der Anerkennung, den Aytekin als Schiedsrichter im Stadion selten erlebt. Doch an diesem Abend stand nicht die Unparteilichkeit im Mittelpunkt, sondern die Persönlichkeit hinter der Pfeife: ein Mensch mit Humor, Empathie und einer tiefen Leidenschaft für den Sport