Schonmal von Chișinău gehört? Die Republik Moldau liegt außerhalb Europas Aufmerksamkeitsspanne. Dabei spielt sich auf diesem kleinen Flecken Landkarte gerade europäische Geschichte ab. Ein Reisebericht, Teil 1. Von Dario Planert.
Wie hätte der junge Alexander Puschkin reagiert, hätte ihm jemand prophezeit, dass Chișinău (ausgesprochen etwa: „Ki-schi-näu“), ausgerechnet dieses öde Chișinău, dass in den 1820er Jahren einer der entlegensten Außenposten innerhalb der Peripherie des Russischen Imperiums war, im 21. Jahrhundert einmal zur Bühne internationalen Kräftemessens werden sollte? Es hätte ihm vermutlich nicht einmal ein müdes Lächeln entlockt, denn der hierher verbannte Dichter war zu jener Zeit ernsthaft darum bemüht, einen Ausweg aus diesem gottverlassenen Provinzkaff zu finden. Chișinău dürfte dem Anfangzwanziger, einem Kind der Metropole Sankt Petersburg, in etwa vorgekommen sein, wie einem New Yorker Instagram-Kid ein Dorf im Südsudan.
Am äußeren Rand der Weltgeschichte
Nach dem Anschluss der moldauischen Fürstentümer und Gründung Bessarabiens im Jahre 1812 hatte Alexander I, der vermutlich letzte große Europa-Enthusiast unter den russischen Machthabern, den Moldauern in experimentierfreudiger Stimmung eine eigene Verfassung zugestanden. Bessarabien genoss damit die höchste Autonomie im ganzen Zarenreich. Verwaltung, Alltag und Kultur waren von rumänischsprachigen Moldauern geprägt, alles Russische war noch weit entfernt. Geschichte? An diesem Ort?
Dabei trug das kleine Moldau, heute leben seine 2,8 Millionen Einwohner eingekeilt zwischen Rumänien im Westen und Ukraine im Osten, schon damals einige der Merkmale, die sein Schicksal im Jahr 2017 bestimmen. Das augenscheinlichste davon ist eine ethnische Vielfalt, die in Europa ihresgleichen sucht. Bis 1819 siedelte man etwa 33.000 Kolonialisten aus unterschiedlichen Ländern an, um das landwirtschaftliche Potential der Region effektiver ausbeuten zu können. Zu diesen Siedlern gehörte eine kleine Gruppe von etwa 1.500 Familien. Die später als Bessarabiendeutsche bekannte Minderheit ist bis heute, trotz ihrer geringen Präsenz mit nie mehr als 3,1 Prozent Bevölkerungsanteil, einer der wenigen Reize deutscher Aufmerksamkeit für diese Region. In den 1940ern folgten beinahe alle Bessarabiendeutschen dem Ruf „Heim ins Reich“ der Nationalsozialisten, der jedoch größtenteils in den westpreußischen Häusern ermordeter oder vertriebener Polen endete. Von hier aus verliert sich allmählich ihre Spur im Nachkriegsdeutschland. Bis heute herrscht in der Republik Moldau Babylonisches Stimmengewirr. Rumänisch, Russisch, Ukrainisch, Bulgarisch und Gagausisch (eine Turksprache) sind Verkehrssprachen der Republik.
Europa als Mikrokosmos
Jan-Peter Abraham, bis 2012 als Lektor für den DAAD selbst in Chișinău, organisiert seit fünf Jahren die jährlich stattfindende Sommerschule für deutsche Studierende. Sie soll im Rahmen der Initiative „GoEast“ des DAAD die Auseinandersetzung mit Osteuropa intensivieren. „Was mich an Moldawien interessiert, ist seine Mehrsprachigkeit und vor allem seine Lage als Schnittstelle in Europa.“ sagt er. „Man spürt das, beinahe körperlich, spätestens, wenn man nach Transnistrien fährt.“
Die Kassiererin in einem Fastfood-Restaurant lächelt anerkennend, während sie mir in perfektem Russisch die Bestellung abnimmt. Soeben hat sie meine Vorgänger auf Rumänisch bedient, ebenso flüssig. Ob Russisch- oder Rumänischmuttersprachlerin nicht auszumachen, zumal in einem Land, indem sich 75 Prozent der Bevölkerung als „Moldauer“ identifizieren. In einer Seitengasse fliegen mir einige Fetzen einer unbekannten Sprache entgegen. Vielleicht Gagausisch? Und dann, am Frühstücksbuffet im Hotel, höre ich jemanden Deutsch sprechen. Es kommt von einer Gruppe Rentner am Nachbartisch. Touristen gehören in Chișinău nicht zur Alltagskulisse, schon gar nicht in diesem Alter. Vermutlich handelt es sich um eine Gruppe Bessarabiendeutsche, die hier auf den Spuren ihrer Kindheit reist. Es macht ein wenig melancholisch, die Moldauer zu beobachten, denn sie wirken wie ein einsamer Dinosaurier einer sonst ausgestorbenen Art. Das bunte Kaleidoskop europäischer Vielvölkerstaaten, dass sich über Jahrtausende entwickelte und in einem Jahrhundert durch Nationalismus und zwei Jahrzehnten Faschismus unwiederbringlich zerstört wurde, scheint hier noch einen Atemzug weiterzuleben. Man stelle sich vor, fast jeder Deutsche spräche von Kindesbeinen an neben dem Deutschen auch Französisch oder Polnisch.
Ein Staat zeigt Auflösungserscheinungen
Von entspannten Nachbarschaftsverhältnissen kann in der Republik Moldau derzeit keine Rede sein. Das Land, das in der Welt hauptsächlich über das immergrüne Label „Ärmstes Land Europas“ bekannt zu sein scheint, fand sich nach den Präsidentschaftswahlen 2016 inmitten einer Zerreißprobe wieder. Von der einen Seite zerrt die Regierung im Parlament das Land in Richtung einer europäischen Integration. Unter deren vorgehaltener Hand verschwand jedoch ca. eine Milliarde Euro aus der Staatskasse. Die notgedrungene Restoration des Moldauischen Leu führte zu einem Wertverlust von 30%. Die Leidtragenden waren Moldauer, deren gesamtes Vermögen in der eigenen Währung angelegt war. Seither hat die Aussischt auf eine Zukunft in der EU in Moldau an Popularität verloren. Das wiederum verhalf dem pro-russischen Präsidentschaftskandidaten Igor Dodon zum Sieg. Seither versucht er die einst guten Beziehungen zur Russischen Föderation zu erneuern, unter anderem, in dem er öffentlich die Annektion der Krim begrüßt und homophobe Rhetorik auffährt. Nebenbei ist eine unionistische Bewegung darum bemüht, einen Anschluss Moldaus an Rumänien durchzusetzen. Ein großer Teil der Moldauer ist ohnehin bereits im Besitz der rumänischen Staatsbürgerschaft, denn man kann sie, im wahrsten Sinne des Wortes, von den Gehwegen aufsammeln. Aber als ob das nicht genug wäre, wartet im Osten des Landes der eingefrorene Konflikt mit der de-facto unabhängigen, abtrünnigen Republik Transnistrien – hier sind mehrere tausend russische Soldaten stationiert – auf seine Lösung. Es scheint kein Gut oder Böse zu geben in der Republik Moldau, kein rechts oder links, keine Würdenträger, die nicht irgendwo Dreck am Stecken haben. Die Konsequenz ist Flucht. 106 Moldauer sollen das Land täglich verlassen. Das ist weltweit die höchste Emigrationsquote der Gegenwart.
Stadt aus Muscheln
Auf den ersten Blick besitzt Chișinău keine auffälligen Landmarken. Wer Kulturdenkmäler sucht, muss auf das Detail achten. Zaristische Despotie, Sozialismus und Kapitalismus vermischen sich zu etwas, das irgendwie an Keines der drei erinnert. Neben russischen kolonialen Villen türmen sich Hochhausskelette, deren menschenleere Baugerüste stellvertretend für die allgemeine Stagnation im Land stehen. An jener Fassade findet der aufmerksame Beobachter noch eine Inschrift («Осмотрено мин нет!» – „Keine Minen gesichtet!“) für die nachrückenden Sowjetsoldaten aus dem Jahre 1944. Vor diesem bemerkt man einen gusseisernen Treppenaufgang aus dem 19. Jahrhundert, während man bemüht ist, nicht über die Wurzeln zu stolpern, die sich durch den hügeligen Asphalt schlängeln. Wer noch genauer hinschaut, bemerkt, dass alles bröselt und bröckelt. Bis zu 80 Prozent der Altstadt soll aus Stein gebaut sein, der vom Grund des Sarmatischen Meeres stammt. Dieser Stein wiederum ist ein Konglomerat verschiedener fossiler Meeresbewohner. Tatsächlich werden in den Bruchstellen der Hauswände tausende kleine Muscheln sichtbar. Man kann sie mit dem bloßen Finger herauskratzen.
Chișinău hat nichts mit herzhaftem Mürbeteigkuchen aus der Haute Cusine gemein und der Triumphbogen in seinem Zentrum versprüht so viel Chic wie der Pachelbelkanon auf einer Cottbusser Jugendweihe. Wer nach Chișinău kommt, scheint meistens eine Mission zu haben. Aber wer weiß, was er sucht, dürfte fündig werden. Moldawien bietet Stoff für Politik-und Sprachinteressierte, für Russisch- und Rumänischlerner, für Welt-Journalisten in der Sommerlochkrise aber auch für diejenigen, die sich auf einem Roadtrip davon überzeugen wollen, dass Europa nicht in Frankfurt/Oder endet. Die Einreise läuft visafrei. Es gibt viele Wege, die nach Chișinău führen. Am Ende vielleicht sogar ein Stipendium des DAAD, denn der Ansturm auf das GoEast-Programm ist verhalten.
Zum Programm der Sommerschule gehören Besuche bei diversen staatlichen und zivilgesellschaftlichen Organisationen und Gespräche mit Referenten, die im Bereich der Nachrichtenproduktion, Menschenrechte oder Kunst und Kultur tätig sind. Erklärtes Ziel ist es, ein möglichst differenziertes Verständnis der Republik Moldau, ihrer Herausforderungen und Ziele zu bilden. Dabei sind bei weitem nicht nur zukünftige Osteuropa-Experten zur Teilnaahme aufgerufen. Von Geografie-, über Psychologie- bis hin zu Chemie-Studenten gab es, laut Jan-Peter Abraham, bereits einige Teilnehmer, die ohne konkreten Studienbezug teilnahmen. Dass Chişinău kein Feind der Inspiration ist, muss schon Puschkin gewusst haben. Die ersten Entwürfe zu Eugen Onegin entstanden hier.
Weitere Informationen zur GoEast-Initiative finden sich hier.