Mit dem Wintersemester startet auch am Potsdamer Hans-Otto-Theater die neue Saison. Auf das Publikum warten Komödien zum Sich-Wegschmeißen – und bitterernste Gesellschaftsdramen. Denis Newiak hat sich mit dem Intendanten Tobias Wellemeyer getroffen, um ihn zu fragen, warum man Theaterwissenschaft studiert statt Seefahrer zu werden, was es bedeutet, Künstler_in zu sein und was uns in der nächsten Zeit auf der Bühne des „HOT“ alles erwartet.
speakUP: Wenn heute jemand Theaterwissenschaft studiert, tut man damit seinen Eltern in der Regel keinen Gefallen. Einen Job nach einem künstlerischen Studium zu bekommen, ist fast ein Glücksspiel. Warum haben Sie es trotzdem getan?
Wellemeyer: Ich habe ja in den 80er Jahren studiert. Im Osten waren Theater und Kunst Räume der Freiheit und Räume, unverstellt zu kommunizieren. Das ist eigentlich eine gedankliche Verkehrung: eigentlich ist ja Kunst dazu da, etwas zu verstellen. Aber da wir in der DDR die Wirklichkeit selbst als ver- und entstellt empfunden haben, war das Theater ein Ort des Eigentlichen. Und eigentlich wollte da jede_r hin: Auf 150 Studienbewerbungen kam ein Dutzend Zulassungen. Das war ein großes Glück, dass ich die Chance hatte, Theaterwissenschaften zu studieren – und es war der richtige Weg. Über „Karrieremodelle“ wurde seinerzeit ohnehin nicht im heutigen Sinne nachgedacht. Vor dem Studium war ich schon als Bühnenarbeiter im Staatsschauspiel Dresden tätig. Das war zu dieser Zeit das oppositionelle Theater überhaupt, der Intendant Gerhard Wolfram hat da Großartiges geleistet. Und dorthin konnte ich nach dem Studium 1988 mit dem Wunsch, Regisseur zu werden, auch zurückkehren – und erlebte aus dem Theater heraus die friedliche Revolution. Diese Zeit hat mich sehr geprägt, weil ich gelernt habe, dass es ein Lebensmittel ist, Räume zu haben, in denen man träumen kann. Das bedeutet Theater für mich: Nicht nur einfach die Gegenwart moderieren und aufquirlen, sondern soziale Perspektiven entwickeln.
speakUP: Warum bewerben sich so viele Menschen an Kunsthochschulen – und sind dann so bitter enttäuscht, wenn sie abgelehnt werden?
Wellemeyer: Die Entscheidung, Kunst zu machen, ist eine Entscheidung, die die gesamte Persönlichkeit fordert. Das hat mit Durchsetzungsvermögen, Glück und auch Begabung zu tun – wie auch auf anderen Gebieten. Doch Kunst bleibt letztlich, mehr als in anderen Berufen, ein Leben in Widersprüchen. Dafür muss man auch ein bisschen gemacht sein, viele halten es nicht aus. 80 Prozent eines künstlerischen Lebens und Arbeitens hat mit Scheitern zu tun. Gleichzeitig ist es ein großartiger Beruf, weil die Kunst mit der faktischen Wirklichkeit eigensinnig und spielerisch umgehen kann. So hat man die Möglichkeit, sich eine eigene Welt neu zusammenzusetzen. Das kann andere mitreißen. Zur Schauspielerei gehört außerdem auch die Lust an der Selbststilisierung. Das fällt mir persönlich eher schwer…
speakUP: Vielleicht ist Ihnen Ihre Selbststilisierung bloß noch nicht aufgefallen?
Wellemeyer: Ich glaube, ich schätze das schon real ein. Ich bin ja auch nicht Schauspieler geworden. Der Regisseur bleibt eher im Hintergrund, organisiert, entwickelt Ideen, stößt Prozesse an. Stark ist an einer Inszenierung, wenn man gar nicht merkt, dass es einen Regisseur gibt, wenn es die Schauspieler wie aus sich heraus machen. Wenn man den Job lange macht, weiß man natürlich: Gutes Schauspiel bedeutet auch immer ein bisschen, dass der Regisseur gut war. (lacht)
speakUP: Sie meinten einmal, wenn Sie nicht zum Theater gegangen wären, wären Sie zur See gefahren.
Wellemeyer: Ja, ich war in der Jugend eher ein Naturwissenschaftler. In meinem Zimmer habe ich chemische Experimente angestellt, unter den dabei entstehenden Dämpfen haben die Katzen meiner Eltern ziemlich gelitten… Später wollte ich gern nautischer Offizier der Marine werden, habe mich ernsthaft mit Schiffen beschäftigt und das Berufsziel richtig zielgerichtet verfolgt. Plötzlich waren Literatur und Theater wichtiger. Plötzlich war dieses Ziel vollkommen weg, vielleicht war es die erste Liebe oder sonst etwas. Und außerdem: Wegen unserer Westverwandtschaft wäre ich wahrscheinlich gar nicht für diese Studiengänge zugelassen worden.
speakUP: Vorwarnung! Nun kommt als Übergang eine ganz platte Metapher: Zur See fahren bedeutet, Unbekanntes erkunden zu wollen, Risiken einzugehen. Als Sie 2009 ans Hans-Otto-Theater kamen, war die Euphorie nach der Eröffnung des „Neuen Theaters“ in der Schiffbauergasse verflogen. War das für Sie eine Chance, sich auszuprobieren, Neues zu wagen?
Wellemeyer: Etwa zur Jahrtausendwende wurden in Brandenburg mehrere komplexe Mehrspartentheater abgewickelt, auch in unserer Stadt wurde der innere Aufbau der Theater völlig verändert. Da ist die Bindung der Potsdamer_innen an das Theater auch teilweise verloren gegangen. Um diese Begeisterung neu anzufachen und zu stabilisieren, braucht es eine lange Zeit, braucht es in einem Stadttheater kontinuierliche Arbeit. Zudem ist Potsdam sehr heterogen geworden. Die Stadt wächst rasant, viele Menschen ziehen hierher. Da hat mein Vorgänger, der Uwe Eric Laufenberg, gute Vorarbeit geleistet, die wir aber nicht nur einfach weitergeführt haben: Wir haben ein starkes Schauspielensemble aufgebaut, ein starkes Programm, großartige Veranstaltungsformate wie den „nachtboulevard“ entwickelt und die Schiffbauergasse zu einer kulturellen Drehscheibe gemacht. Wir sind darauf vorbereitet, dass Potsdam immer mehr mit Berlin zusammenwächst und können das neue interessierte Publikum genauso vielfältig ansprechen.
speakUP: Im Interview mit der speakUP hat Ihre Schauspielerin Franziska Melzer gesagt, Sie müssten sich oft für die Besucher_innen-Zahlen rechtfertigen (Ausgabe Nr. 9). Warum hat es das HOT verdient, 10 Millionen Euro jährliche Fördermittel zu erhalten?
Wellemeyer: Unser Theater hatte 2011 so viele Gäste wie seit vier Jahren nicht mehr. Es geht aber nicht nur um Zahlen, sondern vor allem um Inhalte und Qualität. Wenn in Potsdam 120 Leute zu einer Literaturveranstaltung kommen, ist das nicht wenig. Kunst spricht mit dem Einzelnen. Die Interessengruppen in den Städten werden immer heterogener, deshalb müssen wir viele differenzierte Angebote entwickeln. Diese Differenzierung ist aber gar nicht schlimm, sondern eine Chance. Das Stadttheater wird zur Drehscheibe und zur Plattform verschiedenster sozialer Perspektiven.
speakUP: Welche Konzepte haben Sie in der kommenden Spielzeit für uns Studierende?
Wellemeyer: Es gibt in dieser Saison einen Themenkreis, den nennen wir – frei nach Max Frisch – „Biografie. Ein Spiel“. Er zeigt, wie Lebenswege den Menschen beeinflussen. Zum Bespiel „Drei Mal Leben“ von Yasmina Reza, einer der meistgespielten zeitgenössischen Autorinnen. Ein Astrophysiker, der aus karrieretechnischen Gründen seinen Chef einlädt, bekommt die Chance, den Abend mehrmals leben zu können. Eröffnet wird die Saison mit „Der Eisvogel“ von Uwe Tellkamp, eine Romanbearbeitung, die die Fragilität und die Kostbarkeit unserer Demokratie diskutiert. Auch hier steht eine Biografie im Zentrum: Ein junger begabter Mann verachtet seinen Vater, einen Finanzmanager, und wird in einen politischen Kreis gezogen, von dem er zu spät merkt, dass es eine „rechtsintellektuelle“ Terrorzelle ist. Das Thema Demokratie haben wir auch in „Ein Volksfeind“ von Henrik Ibsen: Ein Arzt entdeckt in einem Kurort, dass die Badequellen vergiftet sind. Als er das öffentlich machen will, stellt sich die Mehrheit der Bürgerschaft gegen ihn. Das führt den Arzt in eine persönliche Isolation und zu einer gefährlichen antidemokratischen Haltung. Eine spannende Debatte, die Ibsen da vor hundert Jahren schon geführt hat – schließlich geht es ja auch heute darum, wem unser Land, wem unsere repräsentative Demokratie eigentlich gehört: Dem Volk? Den Banken? Gibt es Alternativen? An diese Fragestellungen wollen wir rankommen.
speakUP: Das klingt nach wichtigen Themen, aber auch bitterernst. Ist das ein Berufsrisiko, dass man da nicht immer glücklich ist?
Wellemeyer: Ganz im Gegenteil: Theater ist sehr lustvoll, wir lachen viel. Und außerdem: viele unserer Stücke sind Komödien! Natürlich suchen wir immer nach einer Dimension. Einfach so Balla-balla machen wir hier nicht.
speakUP: Was glauben Sie, was die Studierenden interessiert?
Wellemeyer: Schwer zu sagen, total unberechenbar. Wir haben erlebt, dass die Studierenden massenhaft in „My Fair Lady“ gingen, da kommste nicht drauf! Das Studierendenpublikum ist genauso differenziert und komplex wie jedes andere auch. Aber man kann hier Leute kennenlernen, nach der Aufführung oft noch lange bleiben.
speakUP: Wenn Ihr Vertrag im kommenden Jahr nicht verlängert wird – wie geht es dann weiter?
Wellemeyer: Wir sind derzeit in guten Gesprächen mit dem Oberbürgermeister. Aber natürlich habe ich klare Vorstellungen davon, was wir hier gemeinsam verändern müssten.
speakUP: Was müsste denn verändert werden?
Wellemeyer: Was mir am Herzen läge, wäre die Weiterentwicklung unseres starken Künstler_innen-Ensembles. Auch im Bereich der ästhetischen Bildung und der Kinder- und Jugendarbeit würde ich gern mehr machen – aber da geht es natürlich auch um Geldfragen. Da weiß der Oberbürgermeister genauso wie ich, dass wir eine soziale Verantwortung haben – denn was da an Gewinn herumkommt, lässt sich nicht in Geld messen, das sind andere Werte. Schon jetzt spielen wir fast die Hälfte aller Aufführungen für Kinder, das wissen die wenigsten. Schön wäre es, wenn noch mehr Gymnasien kämen. Genauso wichtig wäre mir, dass mehr Studierende zu uns ins Theater kommen. Viele fahren sofort nach Berlin, sobald sich auch nur eine freie Minute auftut – dabei liegt so vieles Gutes direkt vor der Haustür!
Geh mit der speakUP kostenlos ins Hans-Otto-Theater! Gewinne 2 x 2 Karten für die Premiere von „Drei Mal Leben“ am 9. November. Schick einfach bis zum 31.10. eine SMS mit „HOT“ und deinem Lieblings-Träum-Ort an 0160/3271989, z.B. „HOT In der Krone eines hohen Baumes vor dem Palais“. Rechtsweg ausgeschlossen. Viel Glück!