Schweden war einst ein Bildungswunderland. Gute Noten, guter Unterricht, gute Lehrkräfte. Seit einiger Zeit bröckelt, jedoch kriselt es. Die aktuellen PISA-Ergebnisse taten ihr Übriges. Paula Stenström Öhman schrieb ein Stück über die Menschen, die zurückblieben. Von Angelina Schüler.
Ein weißer Vorhang, ein Vorfall in der Jungsumkleide und die pure Überforderung auf allen Seiten – das Stück „People Respect Me Now“, das im Hans Otto Theater am 10. Dezember Premiere feierte, ist ein rasant inszeniertes Abbild unserer Gesellschaft. Hinter jeder glänzenden Fassade verbergen sich Abgründe, die nach und nach ans Licht kommen. Bis ein Schüler um sich schießt.
Einen Spiegel der Gesellschaft vorhalten
Die Autorin Paula Stenström Öhman entwirft in ihrem Drama ein undurchsichtiges Geflecht an Problemen und Schuldzuweisungen. Dreh- und Angelpunkt ist der Vorfall um den Schüler Silas. Dieser soll von Mitschülern verprügelt und gefesselt worden sein. Ein Hauptschuldiger ist auch schnell gefunden: Anton. Ein Junge, der schon oft durch aggressives Verhalten auffiel. Hier muss etwas getan werden, das ist klar. Doch weder das Lehrpersonal noch die Frau von der Jugendfürsorge erreichen Antons Mutter. Und sind die Lehrer_innen eigentlich dafür verantwortlich, wenn die Eltern ihre Kinder nicht erziehen können? Die Schüler_innen zu bilden kostet schon viel Zeit und Energie. Und dann hat man ja auch noch private Probleme, die irgendwie bewältigt werden müssen. Der Elternbeirat tagt, um das Problem aus der Welt zu schaffen. Nur die Schulpsychologin hakt nach. Warum hat Anton Silas eigentlich geschlagen?
Die Schüler der siebten Klasse sind sich untereinander einig: Silas gehört nicht zu ihnen, er ist komisch. Mobbing, das wissen sie, ist schlimm. Aber natürlich mobben sie nicht. Sie ärgern nur und necken. Doch was ist, wenn die Linie zwischen dem Ärgern und Mobbing verwischt? Was ist noch als kleine Rauferei abzutun und was ist schon körperliche – oder schlimmer noch – seelische Gewalt? Das Stück spielt mit der Unklarheit über den Vorfall in der Umkleide, der sich schnell als Gipfel einer ganzen Kette unsäglicher Ereignisse entpuppt. „Alles hängt mit allem zusammen“, heißt es im Stück. So ist es auch mit der Rollenverteilung. Die Schaupielstudierenden der Filmuniversität Babelsberg „Konrad Wolf“ schlüpfen nahezu kinderleicht in die jeweiligen Rollen, die sich glänzend von der zuvor gespielten abgrenzt. 20 agierende Rollen sind auf nur acht Spielende aufgeteilt und doch überrascht es, wenn aus dem einfühlsamen Mobbingopfer Silas der Schulleiter Roth wird, der vor allem die Augen verschließt.
Zwischen Fiktion und Realität
Das Stück ist frisch und brisanter denn je. Schätzungsweise eine halbe Million Mobbingopfer soll es in Deutschland geben. Die Dunkelziffer ist sicher bedeutend höher. Das wiederholte systematische Attackieren von Schwächeren durch den Missbrauch sozialer Macht ist keineswegs ein Phänomen der Neuzeit, doch mit zunehmender Nutzung sozialer Medien entwickeln sich auch neue „Mobbing-Strategien“. Heutzutage muss ein Schüler niemanden mehr verbal verunglimpfen. Ein Gerücht, eine ungünstige Fotografie oder leidliche Kenntnisse bei Photoshop und das Opfer wird etabliert. Besonders gut gedeiht Mobbing in hierarchischen Systemen, die schon von vornherein durch die Überlegenheit anderer gekennzeichnet sind. Häufig werden diejenigen als Zielscheibe ausgewählt, die am wenigsten integriert sind. Ein Wechselspiel zwischen Ausgrenzung der Opfer und dem Wunsch, dazuzugehören. Die Angreifenden probieren sich in der Regel an vielen verschiedenen Schüler_innen aus. Doch nur selten wird sich auf ein Opfer festgelegt. Sollte es doch zu einer langfristigen Mobbing-Aktivität kommen, wird der Höhepunkt meist in den fünften, sechsten und siebten Klassen erreicht. Ein weiteres Charakteristikum von Mobbing ist die passive Teilnahme der übrigen Schüler_innen in einer Klasse, die nicht eingreifen und nur zuschauen. Warum entwickeln Kinder und Jugendliche eine solche Aggressivität gegenüber Gleichaltrigen, vor denen sie eigentlich nichts befürchten müssen? Wie kann man sowas verhindern? Was passiert mit den drangsalierten Schüler_innen? Werden alle zu potenziellen Amokläufern „gemobbt“?
Ganz so einfach ist die Rechnung nicht. Nur rund ein Viertel der Täter ist klassischer Außenseiter, viele andere hatten durchaus gute Freunde und ein liebevolles Elternhaus. Die meisten Schüler_innen, die Amok laufen, wurden zum Zeitpunkt der Tat nicht mal mehr gemobbt. Der Amoklauf selbst ist nur der Endpunkt einer langen Entwicklung, die vor allem mit fehlender Anerkennung, Druck von außen, Versagensangst, Kränkung und dem Wunsch nach Rache zu tun hat.
Auch das zeigt das Stück auf beeindruckende Art und Weise. Silas‘ Tat ist das Ergebnis all der Probleme und Missstände, die zwischen Lehrpersonal, Eltern, Schüler_innen und Betreuer_innen existieren. Was so spaßig und eingängig mit einer Interpretation des Klassikers „Blitzkrieg Bob“ von den Ramones beginnt, entwickelt sich zu einer düsteren Studie über Hass, Wut und einem System, das lieber wegschaut und Leistung verlangt. Es ist wahr, alles hängt mit allem zusammen.
Die nächsten Termine für „People Respect Me Now“ sind Samstag, der 14. Januar, Sonntag, der 5. Februar und Dienstag, der 14 Februar, jeweils um 19:30 Uhr in der Reithalle.