Leicht zugespitzt: Eine Ode an die Anwesenheitspflicht

Dienstagmorgen, 6.30 Uhr: Der/die Student_in quält sich aus dem Bett. Die Nase ist nicht mehr als solche zu bezeichnen, der Hals fühlt sich an wie der Gazastreifen. Ein angenehmes Gefühl, denn laut Studienordnung hilft nichts besser gegen eine Erkrankung als nach Platzregen in den überfüllten Zug zu steigen, Leute anzustecken und anschließend einem Seminar beizuwohnen, das man nur aus einer Wohltat heraus belegt hatte. Von Sidonie Rüschkamp.

Vorbei die Zeiten, wo Studierende fröhlich dann und wann mit dem Mercedes von Mama und Papa vorrollten, um ein wenig vor sich hinzustudieren. Persönlicher Reifeprozess, Freude am Lernen, Bildung und so weiter.

Persönlichkeit wird an der Universität heutzutage kleingeschrieben, dafür sollte jede_r dankbar sein. Dass Selbstbestimmung und individuelle Freiheit das Gegenteil von förderlich sind, hat uns älteste und jüngste Geschichte gelehrt. Also auf in das Seminar, böse Blicke wegen der fünfminütigen Verspätung und der Hustenanfälle mit stoischer Gelassenheit auf sich nehmen und noch still ein bisschen wegen des verstorbenen Hamsters weinen. Aber dem zu Ehren hat man ja schon letzte Woche gefehlt.

Der Bildungselite des Landes, die vermutlich dem Schimpansen an Intellekt noch leicht überlegen ist, den Freiraum einräumen, so zu lernen, wie sie es für richtig hält? Lächerlich! Schimpansen können mittlerweile Computer bedienen, mehr braucht doch niemand! Sozialdarwinist_innen könnten mahnen: Der Stärkere gewinnt. Wer in der Lage ist, ein eigenes System zu entwickeln, wie häufig er den ergänzenden Worten des Lehrenden lauschen muss, statt sich daheim mit den Skripten zu beschäftigen, dem sei sein Abschluss mehr vergönnt als demjenigen, der nur besteht, weil Studien erwiesen haben, dass Anwesenheit den Erfolg fördert. Aber hach, wozu würde das führen? Eindeutig: Leere Räume. Leere Uni. Fernstudium 2.0.

Wir kennen das bewegungsfaule Pack doch zu Genüge. Mehr Freiheit als unter der Dusche Justin Bieber hören zu dürfen, würde zweifelsohne im Chaos enden.

Zu viel Eigeninitiative würde die Studierenden letztendlich maximal dazu bringen, sich einen eigenen Ghostwriter zu engagieren. Erleichterung sollten Studierende empfinden, dass sie Woche für Woche in die wohlbeheizten Räume der Universität gezwungen werden. Hier ist immerhin der einzige warme Ort, der noch bleibt. Schließlich sind Rechnungen mit der Anwesenheit vor Ort nicht so gut zu bezahlen wie mit der beim Nebenjob.

Ein Widerspruch? Keineswegs! Freund_innen und Familie bloß noch anzurufen statt Geburtstagsbesuche abzustatten spart ungemein Geld und seit WhatsApp ist der einzige Sozialkontakt, den man noch braucht, ohnehin der mit den Dozent_innen. Es hat eine ganz eigene Nähe, sein ewig gleiches, gelangweiltes Kürzel auf der Anwesenheitsliste zu verewigen.

In was für einer Welt würden wir leben, wenn diese treue Liste uns nicht mehr begleiten würde? Gäbe es womöglich Freigeister? Individualist_innen? Solche, die entspannt und selbständig sind, in der Lage, ihre Zeit selbst einzuteilen, ihr Leben zu ordnen? Welch Horror-Szenario! Allein die Anwesenheit zählt. Dass ein nicht unerheblicher Prozentsatz bloß körperlich, nicht aber geistig anwesend ist, ist irrelevant. Wer seinen Körper in den Hörsaal geschleppt, die Gedanken jedoch beim Hamster gelassen hat, kann immerhin nicht auf dem Weg zum Tierfriedhof von einem Auto überfahren werden.

Somit sorgt unsere mütterliche Anwesenheitsliste also nicht nur für Bildung der Studierenden, sondern auch für deren körperliche Unversehrtheit. Die psychische Konstitution von Generation facebook, snapchat, 9gag und wie der Rest dieses Teufelszeugs heißen mag, ist eh schon lange verloren, darum braucht sich nicht gekümmert zu werden.

Sicher, wahnsinnige Stimmen mit Taschen voller Geld könnten den waghalsigen Vorschlag verlauten lassen, das „BAföG“ doch einfach über die Armutsgrenze zu erheben. Dadurch würde Studierenden der zum Lebenserhalt notwendige 400-Euro-Job als Ausrede wegfallen, weshalb sie schon wieder nicht zu ihrer Freitagabend-Vorlesung erscheinen konnten. Und zudem ihr ohrenbetäubendes Gemecker.

Friede, Freude, Kaviarkuchen. Schweinerei! Unser Geld wird dringend gebraucht für Schweizer Konten, 30 Jahre währende Bauprojekte dringend erforderlicher Flughäfen. Allein der Gedanke, diese Rotzgören noch weiter zu verwöhnen, muss jedem Bürger zuwider sein, der an der Zukunft unseres Landes interessiert ist. Sonst müssen noch unsere Kinder von Tegel aus gen Süden fliegen!

Das faule Student_innen-Pack versucht von Zeit zu Zeit auf neumodischen Schmarrn zu pochen wie Eigeninitiative oder gar altkluge Erfindungen wie unterschiedliche Lerntypen. Angeblich ist demnach die Anwesenheit nicht für jede_n ständig erforderlich, um eine gute Leistung zu erbringen, manch eine_r lernt Gerüchten zufolge gar besser für sich allein.

Da kann man nur sagen: Humbug! Ausgemachter Blödsinn! Die wollen bloß eine gute Ausrede, um nach der 5. versoffenen Nacht in Folge im Bett bleiben zu können. Geschichten von 10-Stunden-Schichten, um sich den Mensa-Kaffee leisten zu können? Frei erfunden! Studieren ist billiger denn je, Student_innen nur voller Ansprüche!

Dem Schützengraben kann auch niemand gelegentlich fernbleiben, um zuhause mal ein paar eigene Kampfmethoden zu erproben.

Da gibt es schon extra Kurse zum Thema Zeitmanagement (obligatorische, selbstverständlich, sonst kriegen sie es ja doch nicht auf die Reihe) an der universitären Erziehungsanstalt und dennoch lamentieren die verweichlichten Studierenden darüber, dass sie Studium, Arbeit und Privatleben nicht vereinbaren können.

Vollkommen zu Unrecht. Burnout gehört im 21. Jahrhundert zum guten Ton. Am besten schon in den besten, heißt: jungen Jahren. Ohne ist eine Karriere schier undenkbar. Dankbar sollten sie also sein!

Und das schönste an der Sache: Aller Aufwand gänzlich unbezahlt. Denn man bedenke: Im Gefängnis werden die Insass_innen wenigstens noch symbolisch für ihre Arbeit entlohnt. Und dort gibt es trotzdem Ausbruchsversuche.

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