Der erste Schritt: So geht ihr gegen die „Aufschieberitis“ vor

Prokrastination oder auch Aufschieberitis ist ein Problem von wohl allen Studis. „Was ich heute kann besorgen, das verschiebe ich auf übermorgen“, lautet die Devise, wenn es um die Fertigstellung von Hausarbeiten oder Referaten geht. Aber die Erkenntnis kommt wie ein Paukenschlag: „Ich habe zu lange meine Arbeit aufgeschoben!“ Privatdozentin Dr. Marie-Luise Raters gibt wertvolle Hinweise, was ihr dagegen tun könnt. Es lohnt sich also diesen Artikel jetzt zu lesen und nicht später. Dritter Teil der Serie: Spaß am Studieren. Interview von Vinzenz Lange.

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Prokrastination wirkt wie manches Gift. Sie entfaltet ihre Wirkung erst später, dann aber mit umso heftigeren Symptomen. Ein Essay, eine Hausarbeit, ein Protokoll oder ein Referat stehen ins Haus. Weil der Termin aber noch in weiter Ferne liegt oder das Thema nicht so relevant oder interessant wirkt, wird die Erledigung so lange wie möglich aufgeschoben. Doch dann ist der Tag der Abgabe plötzlich zum Greifen nahe, viel zu nahe und das ist stets der Punkt, an dem es kritisch wird. „Was soll ich tun?“, „Wie soll ich das alles in der kurzen Zeit schaffen?!“, ist dann die Frage. Auf einmal wird uns bewusst, wie groß der Schaden sein könnte, wenn wir die Arbeit nicht rechtzeitig abgeben. Innere Unruhe, Verwirrung, aber auch starke Demotivation, Lähmung, ja regelrechte Panik können die Folge sein. Frau Raters hat schon einigen verzweifelten Studierenden aus dieser misslichen Lage herausgeholfen.

speakUP: Frau Raters, Sie haben sich schon einmal mit diesem Thema des Aufschiebens befasst, indem Sie Studierende beraten haben. Was haben Sie da genau gemacht?

Raters: Ich habe zu diesem Thema nicht wissenschaftlich gearbeitet und muss gleich zu Beginn gestehen, dass ich auch keine Ausbildung dazu gemacht habe. Die Methode, die ich verwende, habe ich intuitiv entwickelt, indem ich auf eigene Erfahrungen zurückgegriffen und das benutzt habe, was ich von meinen Eltern mit auf den Weg bekommen habe. Da gibt es zwei Regeln: „Das Wichtigste ist, dass das Wichtigste das Wichtigste ist.“ Und die zweite Regel lautet: „Wer nach Amerika geht, fängt mit einem einzigen Schritt an.“

speakUP: Wenn ich das vielleicht so übersetzen darf, dass der Anfang das Wichtigste ist und es notwendig ist, was eigentlich getan werden will und worauf man sich spezifizieren möchte?

Raters: So einfach ist das nicht. Der Anlass waren auslaufende Studiengänge. Die Leute, die ihr Studium in der verbleibenden Frist noch abschließen wollten, kamen zu mir in der festen Überzeugung, dass sie das mit dem Ende des Studiums gut schaffen würden, obgleich ihnen faktisch die Zeit weglief. Sie hätten alle Seminare besucht; es würden ihnen nur noch fünf Hausarbeiten fehlen; und an der Magisterarbeit hätten sie auch noch nicht geschrieben. Dann habe ich mich mit den Leuten hingesetzt und habe die Ziele formuliert: Ein kurzfristiger und ein langfristiger Plan. Wie viele Hausarbeiten müssen sie schreiben? Und wie viel Zeit haben sie dafür? Nehmen wir mal an, dass sind fünf Monate. Dann habe ich mit ihnen einen Plan gemacht, um die fünf Monate zu strukturieren, in denen die Hausarbeiten fertig sein müssen. Und dann habe ich einen etwas kleineren Plan erstellt, indem ich die Anmeldung, die Abfassung und die Abgabe der Hausarbeit extra mit einem letztgültigen Termin versehen habe. Ich habe hinten Luft gelassen, aber ich habe den Studierenden gesagt, dass ich bei jeder Etappe eine Rückmeldung wünsche, dass sie es auch gemacht haben. Das ist das Prinzip: „Wer nach Amerika geht, muss den ersten Schritt machen.“ Es ging nicht darum, den riesen Ballast von fünf Hausarbeiten vor sich her zu schieben, sondern ich wollte ermutigen, zunächst einmal nur den ersten Schritt zu machen, und dann den nächsten und so weiter. „Ich muss mich anmelden – geschafft. Ich muss zwanzig Seiten schreiben – geschafft. Ich muss das korrigieren, schön ausdrucken und abgeben – geschafft. Und diese kleinen Schritte sind viel einfacher, als dieser Wust von fünf Hausarbeiten. Das sollte man bei einer großen Aufgabe generell machen. Lauter kleine Schritte. Dann habe ich die Leute gefragt, was sie machen, wenn sie morgens aufstehen. Fast immer kam dabei heraus, dass sie zu Übersprungshandlungen neigen: Aufräumen, telefonieren, vor allem E-Mails lesen, was ganz gefährlich ist. Und nun kommt: „Das Wichtigste muss das Wichtigste bleiben.“ Ich habe mal bei Thomas Mann gelesen, dass er die ersten vier Stunden nur geschrieben hat. Er hat also das getan, was er für das Wichtigste hielt. Ich selbst habe in den letzten Jahren ebenfalls versucht, mich daran zu halten. Ich versuche also, Telefonate und den E-Mail-Verkehr in den ersten vier Stunden des Tages zu vermeiden, insofern es sich nicht wirklich um Unaufschiebbares handelt. In diesem Sinne habe ich den Prokrastinatistinnen und Prokrastinatisten eine grobe Tageseinteilung vorgeschlagen, dem zufolge sie sich in den ersten vier Stunden des Tages auf ihre Hausarbeiten, Prüfungen etc. konzentrieren sollen. Dabei waren mir in einer Hinsicht allerdings Grenzen gesetzt, weil viele Studierende ja arbeiten müssen. Allerdings finde ich es dennoch wichtig, den Tag so zu strukturieren, dass die Hochkonzentrationsphasen für das Studium genutzt werden können.

speakUP: Wie geht man das am Besten an?

Raters: Direkt nach dem Aufstehen ist man in der Regel in den ersten Stunden besonders produktiv. Dabei ist es weniger wichtig, dass man in einem objektiven Sinne sehr früh aufsteht; was ich sage, gilt auch für Langschläfer, deren Rhythmus es vorgibt, regelmäßig erst um neun Uhr aufzustehen. Wichtig ist: Wenn man dann das Gehirn auf das intellektuelle Problem, mit dem man sich beschäftigen will, unmittelbar nach dem Aufstehen einordnet, kann man nach den vier konzentrierten Arbeitsstunden nach dem Aufstehen nachmittags ruhig mal spazieren gehen, E-Mails lesen oder auch jobben. Das Gehirn beschäftigt sich weiter damit. Wenn man aber erst jobbt, erst E-Mails liest oder erst die Wohnung putzt und sich dann nachmittags (oder noch schlimmer: todmüde am Abend) an den Schreibtisch setzt, ist der Kopf voll mit anderen Dingen und man kann sich nicht mehr konzentrieren. Da kann für viele ein konkreter Plan hilfreich sein, wobei der Plan natürlich an den individuellen Tagesrhythmus angepasst sein sollte: Von 8 bis um 10 Uhr wird an der Hausarbeit geschrieben. Um 10 Uhr machen Sie eine kurze Pause. Wichtig ist, dass Sie sich in der Pause nicht ablenken bzw. nicht auf andere Gedanken bringen lassen. Zu empfehlen ist beispielsweise, dass Sie sich ans Fenster setzen und Bäume oder Wolken anschauen, damit sich das Gehirn kurz entkrampfen kann. Dann geht es bis um 12 Uhr weiter. Anschließend sollten Sie ausführlich Mittag essen und sich vor allem darüber freuen, was Sie an diesem Tag schon geschafft haben. Dann wird gejobbt oder die E-Mails gelesen. Außerdem braucht man einen freien Tag in der Woche, vielleicht Samstag oder Sonntag. Ich hatte zwar einerseits Hemmungen, in solcher Weise beratend tätig zu werden, weil ich ja keine entsprechende Ausbildung habe. Anderseits habe ich mich durch viele positive Rückmeldungen ermutigt gefühlt. Ein hoher Prozentsatz hat mir erfreulicherweise schließlich geschrieben, dass das Examen am Ende dann doch noch erfolgreich absolviert wurde.

speakUP:Das Problem bei diesen Dingen, wie E-Mails oder Facebook ist ja, dass sie sehr verlockend sind. Muss da nicht erst eine Zeit lang sehr die Selbstdisziplin geübt werden, bevor das geschafft wird? Da manche Menschen morgens schon fast automatisch den Rechner anmachen und nach E-Mails schauen. Das ist schon fast keine bewusste Handlung mehr.

Raters: Das ist ein gravierendes Problem. Ich möchte noch erzählen, dass die Beratungen manchmal emotional sehr anstrengend waren. Das galt einmal für mich selbst: Ich habe mich immer in der Gefahr gesehen, dass ich übergriffig wurde. Die Absolvent_innen der auslaufenden Studiengänge kamen ja eigentlich nur zu mir, weil sie bestimmte Bescheinigungen brauchten. Die habe ich ihnen auch ausgestellt – aber bei der Sichtung der absolvierten Studienleistungen wurde häufig relativ schnell klar: Wenn Sie ihr Studierverhalten jetzt nicht grundlegend ändern, besteht die Gefahr, dass sie keinen Abschluss bekommen. Das habe ich dann so vorsichtig wie möglich zu sagen versucht, weil ich mir natürlich der Tatsache bewusst war, dass das für die Studierenden unangenehm ist. Ich habe meistens gesagt, dass irgendein Abschluss wichtiger sei als ein Abschluss mit einer guten Note. Man sollte eine so lange und wichtige Spanne seines Lebens wie die Spanne des Studiums nicht ohne Resultat beenden. Egal wie dieser Abschluss ausfällt. Es geht dabei nicht um die Eltern, die das finanziert haben oder die Gesellschaft, sondern man will doch mit sich im Reinen sein, wenn man später in den Spiegel schaut. Wenn der Abschluss verfehlt wird, besteht die Gefahr, dass die Studierenden irgendwann zu den Leuten zählen, die von ihrer Vergangenheit nur im Konjunktiv reden. „Ich habe eine grandiose Zukunft hinter mir“. Ich meine die Leute, die davon erzählen, was sie hätten machen können, wenn alles anders gewesen wäre. Dieses Szenario habe ich mit aller gebotenen Vorsicht entworfen, um zu motivieren. Ich wollte, dass die E-Mails erst einmal unwichtig wurden, weil es um Lebensentwürfe ging.

speakUP: Wie sind die Studierenden auf Sie gekommen?

Raters: Ich mache generell die Studienberatung für das Fach LER, und außerdem habe ich zwischenzeitlich Studienberatung für das Fach Philosophie gemacht. In den letzten Jahren waren es vor allem Studierende von auslaufenden Magisterstudiengängen, die Verlängerungen beantragen wollten, weil ihr Studiengang auslief. Weil ich mich, wie gesagt, immer in der Gefahr gesehen habe, übergriffig zu werden, habe ich es mir zur Gewohnheit gemacht, einleitend zu fragen, ob nur die Verlängerung oder zusätzlich auch eine individuelle Studienberatung gewünscht sei. Die meisten haben das Angebot der individuellen Beratung angenommen. Weil ich einmal auf die Reaktion gestoßen bin, dass eine Studierende schon das Angebot einer individuellen Beratung als anmaßend empfunden hat, habe ich zudem noch einmal insistiert: „Wollen Sie das jetzt wirklich? Das könnte jetzt unangenehm werden.“ Und dann haben sich die Leute in der Regel darauf eingelassen. Zwar waren diejenigen, die sich besonders haben berühren lassen, am Ende in der Regel diejenigen, die ihr Studium dann nicht nur pünktlich, sondern sogar mit beachtlichem Erfolg abgeschlossen haben. Aber verunsichert hat mich die Situation natürlich trotzdem: Vielleicht sollte man nicht so sehr von seinen eigenen Erfahrungen auf andere schließen, wie ich das gemacht habe. Aber die Sache war mir sehr wichtig. Ich finde es furchtbar, wenn eine Universität Studienabbrüche produziert; da fühle ich mich als Studienberaterin verantwortlich. Ich wollte Hoffnung machen, indem ich zeige, dass Übersprungshandlungen vermieden werden können und dass ein Studium zu schaffen ist, wenn man sich den Prozess in kleine Etappen einteilt und jede Etappe konsequent abarbeitet, bis der ganze Weg schließlich geschafft ist.

speakUP: Was glauben Sie, warum gerade die wichtigsten Aufgaben verdrängt werden?

Raters: Das ist ja ein altes philosophisches Problem, das heißt Akrasia, die Willensschwäche. Ich kann jetzt keine philosophische Abhandlung dazu halten, und das würde auch viel zu weit führen: Meiner Ansicht nach ist es hilfreich, wenn man im Elternhaus gelernt hat, wie man lernt.

speakUP: Nur von zu Hause aus?

Raters: Später kann man das ja auch noch lernen. Es müssen zwei Bedingungen gegeben sein, damit man wichtige Aufgaben aufschiebt: Eine gewisse Gelassenheit, was ja zunächst eine gute Eigenschaft ist, aber auch eine gute Art zu verdrängen. Aber das größte Problem war und da konnte ich am meisten machen, der Ehrgeiz. Wenn sich mangelnde Struktur im Alltag mit Ehrgeiz paart, wird es gefährlich, denn die Leute haben mir immer gesagt, dass sie einen richtig guten Abschluss machen wollen. Wenn man aber auf den allerletzten Drücker einen guten Abschluss machen will, dann zögert man noch mehr, weil man seinen Maßstäben hinterherläuft. Aber dann geht es nicht mehr um einen guten Abschluss, sondern nur um einen Abschluss.

speakUP: Könnte man sich diese Selbstdisziplin selber beibringen?

Raters: Ja, auf jeden Fall. Einfach mit einem Stundenplan.

speakUP: Diesen strukturierten Tagesplan hatten außer Thomas Mann auch andere Schriftsteller, aber auch zum Beispiel Herrscher. Könnte dieser Wunsch nach Effektivität nicht irgendwann ein ungesundes Maß annehmen? Eine Kontrollsucht?

Raters: Klar. Ich habe umgekehrt solche Pläne geführt, um aufzuhören mit dem, was ich für meine ‚Pflicht’ hielt. Ich habe aber auch Belohnungsetappen eingebaut. Es ist ganz wichtig, dass man sich für das, was man getan hat, auch belohnt, denn das Belohnen heißt auch loszulassen.

speakUP: Kennen Sie dieses Phänomen noch aus anderen Bereichen? Vielleicht von Dozierenden oder von sich selbst?

Raters: Es würde mich wundern, wenn das woanders nicht so wäre. Ich denke je freier man ist, umso größer ist die Gefahr. Je mehr man seine Zeit selbst strukturieren muss, desto größer ist die Gefahr, dass man sich einredet: „Ich habe noch ganz viel Zeit.“ Von mir kenne ich das weniger, aber das liegt an meiner Erziehung. Aber ich möchte noch einmal betonen, dass ich mich keineswegs für eine Expertin auf dem Gebiet der Prokrastination halte; ich habe mich eher verantwortlich gefühlt für diejenigen Studierenden, die meine Studienberatung aufgesucht haben.

speakUP: Wie wichtig ist die Muße?

Raters: Ich denke, dass man die Zeit braucht, in der man das Gehirn mal alleine über ein Problem nachdenken lässt. Vier Stunden füllen ja noch keinen Tag. Aber Thomas Mann beispielsweise wird vermutlich die Zeit jenseits seines Schreibtischs gebraucht haben, damit sich alles im Gehirn ordnet. Darum ist bei Aristoteles auch immer von der Muße die Rede. Aber die Muße ist nur dann sinnvoll, wenn man das Gehirn richtig eingenordet hat. Darum sind auch die Zeiten nach dem Aufstehen so wichtig. Wenn man das Gehirn auf die richtige Spur gesetzt hat, macht es den Rest alleine, wenn Sie mir diese personalisierende Redeweise über das Gehirn erlauben.
Wenn wir zusammenfassen sind also ein langfristiger Plan und einzelne Etappen wichtig, dass am Vormittag ohne Ablenkung gearbeitet wird, dass man sich zwischendurch belohnt und dem Gehirn auch einmal Zeit gibt.
Das letzte wäre noch, dass man sich damit abfindet, dass man nicht alles mit 1+ macht. Das Fertigmachen ist wichtiger als Glanzleistungen. Loben müssen einen die anderen. Man macht es so gut, wie es geht.

speakUP: Vielen Dank für das Gespräch!

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