Ein Bericht vom „Tschernobylkongress“ 2011 in Berlin. Von Denis Newiak
Es ist ein Samstag, während sich die ukrainische Stadt Prypiat auf den „Tag der Arbeit“ am 1. Mai vorbereitet: Junge Frauen duschen nach der Arbeit und freuen sich auf den verdienten Feierabend, ein Pärchen bejubelt am Abend seine Hochzeit und die Menschen singen und tanzen. Es ist ein Samstag, der 26. April. Während die Einwohner der 50.000-Seelen-Stadt ausgelassen feiern, wissen viele von ihnen noch nicht, dass sich mit jeder weiteren Sekunde, die sie an diesem Ort verbringen, ihre Chance, ihr Leben weiterführen zu können, drastisch reduziert und schon nach wenigen Stunden gegen Null strebt. Diejenigen, die es wissen, wollen es nicht wahrhaben und lieber ihren letzten Tag in Frieden verbringen. Prypiat liegt nur vier Kilometer vom Atomkraftwerk in Tschernobyl entfernt, wo sich am Morgen des 26. April die bisher schwerste Katastrophe der zivilen Nutzung der Atomenergie ereignete verursacht durch Konstruktionsmängel und grobfahrlässigen Größenwahnsinn des Bedienpersonals. Doch die Bevölkerung wird nicht gewarnt, erst viel zu spät in Sicherheit gebracht. Die Menschen in Prypiat und den vielen anderen von der Katastrophe betroffenen Dörfern und Städten wiegen sich in Sicherheit – oder haben keine Chance, etwas zu unternehmen, um sich zu retten.
„V Subbotu“ („An einem Samstag“), der im Februar als Weltpremiere auf der Berlinale gezeigt wurde, erzählt die Geschichte des Tages der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl. Das Drama zeigt die Gesichter der Menschen ganz nah, und der Zuschauer weiß, dass sie alle Opfer einer Katastrophe schrecklichen Ausmaßes sind, ohne dass die Gefahr, die hohe radioaktive Strahlung, spür- oder sichtbar ist. Ein unsichtbarer Feind, gegen den jeder Kampf chancenlos ist, vor dem es keine Rettung gibt, keine Heilung. Wie viele Menschen in Folge der Katastrophe und der freigesetzten Strahlung starben, hat sich bisher keine Behörde getraut zu sagen. Die atom- industrienahe IAEA spricht von 4.000 Toten, Wissenschaftler wie Bertell von bis zu 1,7 Millionen. Erst allmählich, 25 Jahre nach der Katastrophe, zeigt sich, welches Ausmaß dieses Unglück tatsächlich hatte.
Um die Öffentlichkeit über die Auswirkungen zu informieren und über eine Welt frei von Atomkraftwerken und Atombomben zu diskutieren, luden vom 8. bis 10. April die friedensnobelpreisprämierten „Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges“ (IPPNW) in die Urania Berlin zum dritten „Tschernobylkongress“ unter dem Motto „Zeitbombe Atomenergie: 25 Jahre Tschernobylkongress – Atomausstieg jetzt!“.
Seit 40 Jahren kämpft die Australierin Helen Caldicott, Jahrgang 1938, gegen den Atomwahnsinn. Dafür wurde sie in diesem Jahr mit dem „Nuclear-Free Future Award“ ausgezeichnet. Sie spricht zu Beginn des Kongresses – und die Besucher_innen im Humboldt-Saal wissen, wen sie vor sich haben. „That’s a very sad time in the history of the world“, sagt sie, schließlich spielen sich an diesem Tage in Fukushima ähnliche Schreckensereignisse wie einst in Tschernobyl ab. Die Stimme der zierlichen Frau durchdringt den ganzen Saal, während sie sich über das Pult dem Publikum entgegen neigt. Sie klagt an: Die Atomindustrie lüge ständig, die Folgen Tschernobyls würden noch heute heruntergespielt werden und die Regierungen und Konzerne, die heute noch auf Atomenergie setzen, würden das Leben unzähliger Menschen aufs Spiel setzen. Tatsächlich: Dass unter den Folgen der Strahlenbelastung hunderttausende Menschen leiden, machtlos Mutationen und Deformationen, Kinderlosigkeit und vererblichen Gendefekten, Armut und Perspektivlosigkeit gegenüber stehen, wird systematisch verschwiegen. Die Zahl der Todesopfer ist nicht abschätzbar, zu groß ist die Zahl derjenigen, die noch in den nachfolgenden Generationen unter den sich exponentiell vervielfältigenden Erbkrankheiten leiden werden. Eine offizielle Untersuchung gab es nicht, stattdessen werden Zahlen schöngeredet, Verantwortungen abgeschoben.
Obwohl das alles bekannt ist, stehen z.B. in der russischen Atomanlage in Mayak tausende Fässer mit spaltbarem Material schutzlos auf einem lediglich umzäunten betonierten Vor- platz. Es gibt auch keine Reaktion auf immer wieder neue Forschungsergebnisse, die auch der dauerhaften Niedrigstrahlung, z.B. in der 5-Kilometer-Zone um Atomkraftwerke ein erhebliches Gesundheitsrisiko beimessen (die KiKK-Studie z.B. zeigte, dass Kinder in diesem Bereich ein vielfach höheres Risiko haben, an Lungenkrebs zu erkranken; zudem ist bekannt, dass sich das zahlenmäßige Verhältnis von Frauen und Männern in diesen Gegenden verändert– genau wie in Tschernobyl – ein Zeichen für eine höhere Strahlenbelastung). Und nicht nur in den ehemaligen Sowjetländern (selbst in der Ukraine!) werden wieder neue Atomkraftwerke gebaut, sondern z.B. auch (mit Unterstützung des deutschen Steuerzahlers) in einem brasilianischen Erdbebengebiet und vor allem in großem Stile in den reichen Industrieländern. Angesichts der Ereignisse in Japan wirkt diese Sammlung an Beispielen wie ein widerliches Abbild von Dummheit und Wahn. „Die Menschheit hat nichts gelernt.“, schallt es durch die Urania – und die Besucher_innen wissen, dass sie zur Tat schreiten müssen.
Rechtzeitig zur Mittagspause zeigt sich beeindruckend die Kraft der Sonne, die auf der Haut und im Gesicht kitzelt. Bei Juli-Temperaturen treten die Teilnehmer_ innen ihren Demonstrationszug an. Genau um 14 Uhr fallen tausende Menschen vor der Berliner CDU-Parteizentrale und der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche symbolisch „tot“ um. Der Tod kann plötzlich kommen und ohne, dass wir ihn sehen, spüren oder schmecken. Werden nicht endlich alle Atomkraftwerke stillgelegt, kann es jeden treffen: Dann legt sich der kalte Schleier über uns. Es gibt kein „Restrisiko“, sondern die Störung und das Unglück sind der Normalfall, das hat die Vergangenheit mit ihren tausenden Störfällen bewiesen. Dieser Gefahr möchte sich niemand der Demonstrierenden mehr aussetzen lassen. Von der konservativen Partei gab es keine Reaktion, dabei hatte sie doch erst letztes Jahr entgegen einer Vier-Fünftel-Stimmung in der Bevölkerung den Atomkonsens vernichtet – zugunsten der Atomlobby.
Doch inzwischen sind selbst die größten Atomfreunde zu „Ökos“ geworden. Jochen Stay von der Anti-Atom-Organisation „.ausgestrahlt“ zitiert sein neues „Idol“ Horst Seehofer: Der CSU-Chef frage seit der Fukushima-Unfälle nicht mehr nach der Wahrscheinlichkeit eines Unfalls, sondern nach der Möglichkeit. Damit, meint Jochen Stay, hat auch der Konservativste endlich eingesehen, dass alle Atomreaktoren auf die Atommüllkippe gehören – schließlich ist bei keinem Atomkraftwerk ein Super-GAU ausschließbar. „Diese Zeit ist eine riesige Chance“, sagt der Atomgegner, dessen Protestaktionen selbst vom Verfassungsschutz schon „gewürdigt“ wurden (er sei eine „zentrale Person des Anti-AKW-Widerstandes, der eine koordinierende Funktion wahrnimmt“). In Deutschland gäbe es jetzt die Möglichkeit, das Ende des Atomzeitalters zu besiegeln. Schließlich hat selbst die „BRAVO“ die „Atomkraft? Nein Danke!“-Sonne auf Postern abgedruckt und einen Artikel zum richtigen Demonstrieren gebracht. Und Jamba animiert seine Nutzer_innen, „eine SMS mit ‚NEIN’“ zu schicken, um ein durchgestrichenes Strahlenwarnsymbol als Bild aufs Handy zu bekommen. Am 28. Mai, zum Ende des sogenannten „Moratoriums“, soll es eine bundesweite Großdemo in Städten und an Atomkraft- werken geben.
„Wenn du morgens in den Spiegel guckst, musst du dich fragen: ‚Was kann ich heute tun, um den Planeten zu retten?’“, ruft Helen Caldicott am Ende ih er Rede auf. Es klingt pathetisch, aber sie meint es ernst. Schließlich geht es nicht nur um die Atomkraftwerke, sondern auch um die undichten „Endlager“ und tausende von Atombomben (die auch ohne viel Aufwand mit spaltbarem Material aus Atomkraftwerken gebaut werden können), über deren Zündung und somit den tatsächlichen Weltuntergang nur ein paar mächtige Einzelpersonen entscheiden könnten. Henrik Paulitz, der für die IPPNW für die Stilllegung des Störfallsmeilers Biblis B kämpft, wirbt für einen konsequenten Übergang zu Erneuerbaren Energien: „Während Solaranlagen inzwischen in Spitzenzeiten bis zu zehn Prozent des deutschen Bedarfs decken könnten, wird durch ‚Stromautobahnen’ weiter die Marktmacht der Großkonzerne zementiert.“ Jetzt sei der Zeitpunkt in moderne Stromnetze und leistungsfähige regenerative Kraftwerke zu investierten – Technologie und Geld wären ausreichend da, würden endlich die offenen und versteckten Subventionen an die Atomkonzerne abgeschafft werden.
An einem Samstag, als sie feiern und glücklich sind, werden hunderttausende aus dem gewohnten Leben gerissen. 25 Jahre später passiert es wieder. Dass es schon in Kürze wieder passiert, vielleicht ganz in unserer Nähe, kann niemand mehr ausschließen.