Jeder 10. Studierende der Universität Potsdam kommt nicht aus Deutschland. Bei der Entdeckung einer fremden Kultur stößt man auf vielerlei Kuriositäten. Drei internationale Studierende berichten von ihren Erlebnissen mit deutschen Eigenheiten. Von Jessica Moews.
Seine erste Vorlesung in Potsdam ist vorüber. Eilig strömen die Studierenden aus dem Saal. Shoqi verharrt noch einige Augenblicke auf seinem Platz und beobachtet wie der Mathematikprofessor, ein älterer Herr, seine Aufzeichnungen von der Tafel wischt. Scham überkommt ihn. Das ist nicht richtig! Schließlich fasst er sich ein Herz, geht zum Professor, nimmt ihm den Schwamm aus der Hand und beendet für ihn das Säubern der Tafel.
Vieles ist anders, wenn man in ein anderes Land geht, um dort zu studieren, Erfahrungen zu sammeln, zu leben. Als selbstverständlich wahrgenommene Formen des Respekts haben keine Bedeutung mehr, dafür gibt es andere, die noch im Unbekannten liegen. Fortwährend stößt man auf Neues und Unerwartetes – auch weil manches gar nicht zu den Erwartungen passen will, die man sich im Vorhinein ausgemalt hat.
Als Shoqi im Jahr 2007 auf dem Weg von seiner Heimatstadt Taiz im Jemen nach Berlin war, war sein Kopf voller Vorstellungen über Deutschland und die großen, blondhaarigen Deutschen. Positives – von der Heimatstätte des Statussymbols Mercedes bis zur beliebten Fußballnationalmannschaft, die „Deutsche Maschine“ genannt – mengte sich mit Warnungen aus der Familie, auf sich aufzupassen und abends nicht umherzulaufen, damit ihn die Nazis nicht erwischten. Auch von Berlin hatte Shoqi eine Vorstellung, schließlich kannte er einige westliche Serien, darunter auch die in New York gedrehte Serie „Friends“. Somit blickte er voll freudiger Erwartung aus dem Flugzeugfenster, als eine Durchsage die bevorstehende Landung in Berlin-Schönefeld verkündete. Statt einer leuchtenden Stadtsilhouette erblickte er jedoch nur weite Felder.
Er fühlt sich als Ausländer
Nach sieben Jahren in Deutschland überrascht Shoqi wenig. Er hat viele deutsche Gepflogenheiten übernommen, um sich anzupassen. So hetzt er zu Verabredungen, um der hiesigen Pünktlichkeit gerecht zu werden und meckert sogar mit, wenn der Zug einmal mit fünf Minuten Verspätung erscheint. Richtig angekommen ist er trotzdem immer noch nicht. Seit seinem ersten Tag in Deutschland fühlt er sich nicht als internationaler Studierender, sondern als Ausländer.
Auch Tanya kennt dieses Gefühl. Sie sitzt in einer Bar und unterhält sich angeregt. Sie gehört zu dem Typ Mensch, den man auf Anhieb sympathisch findet: lebhaft, nicht auf den Mund gefallen, immer ein Lächeln im Gesicht. Ihr Gegenüber bestellt sich noch ein Bier. Deutsche trinken Bier wie Saft, denkt Tanya, sie werden nie betrunken. Irgendwann kommt das Gespräch auf ihre Herkunft zu sprechen. „Ich komme aus Russland“, sagt sie und sieht wie sich ihr Gegenüber innerlich zurückzieht. „Ah, okay…“, tönt dann die Antwort, die sie schon sehr häufig gehört hat. Tanya sieht den Grund für dieses Verhalten in dem Unwissen vieler über Russland. Die wenigsten seien schon einmal in dem riesigen Land gewesen. Die Köpfe seien gefüllt mit negativen Informationen aus den Nachrichten oder den russischen Bösewichten aus den Actionfilmen.
In Potsdam vergisst sie das wirkliche Leben
Trotz dieses Problems fühlt sich Tanya in Potsdam, der Stadt mit der sauberen Luft und den vielen Parks, sehr wohl. Wenn sie in Potsdam ist, vergesse sie das wirkliche Leben. Alles sei so langsam und gemütlich. Ab und an fahre sie nach Berlin, um zu sehen, dass das Leben weitergeht – und um etwas Privatsphäre zu genießen. Potsdam sei schließlich so klein, ständig treffe man jemanden, was manchmal nervig sein könne.
An den Deutschen bewundert Tanya besonders deren Diszipliniertheit. Ihr zufolge würden Deutsche erst schlafen gehen, wenn sie all ihre Aufgaben für den folgenden Tag erfüllt haben. Sie seien wie kleine Ameisen. Sie würden viel arbeiten und auch beständig an Arbeit denken. Selbst wenn sie im Urlaub sind, würden sie diesen nicht völlig genießen können. Diese Arbeitsmoral ist laut Tanya das Geheimnis des Erfolgs der Deutschen.
2010 kam Tanya zum ersten Mal zum Studieren nach Potsdam. Besonders freute sie sich auf ihre Unterkunft im Studierendenwohnheim, denn das Leben dort kannte sie ja aus amerikanischen Filmen: eine endlose Party. Die Realität war jedoch eher mit einem Klosterdasein vergleichbar. Nur von Mädchen umgeben wohnte sie in Golm in einem alten Haus, das heute nicht mehr steht. In diesem Haus war es still, denn die Mädchen sprachen nicht miteinander. Tanya ließ sich jedoch nicht beirren und hörte nicht auf zu plappern. Mit der Zeit tauten die Mädchen auf und sie wurden gute Freundinnen. Tanya erklärt vier Jahre später, dass Deutsche meist sehr verschlossen seien, es sich aber lohne, ihr Vertrauen zu erkämpfen. Denn dann gewinne man eine tiefe Freundschaft, die lange Bestand habe.
Trotzdem erschwert diese Verschlossenheit den internationalen Studierenden im unbekannten Land Fuß zu fassen und mit Deutschen in Kontakt zu kommen. Wer nicht den ersten Schritt macht, wird selten beachtet. Diese Erfahrung hat auch Giorgia gemacht.
Viele sitzen allein und grüßen sich nicht
Wieder sitzt Giorgia einzeln im Seminarraum. Sie denkt bedrückt daran, wie sie mit ihren Freunden in Turin eine deutsche Erasmusstudentin angesprochen hatte. Ob sie Hilfe brauche, ob sie alles verstehe. In Potsdam hat sie das noch niemand gefragt. Allgemein ist es für sie ungewohnt, dass die Studierenden im Kurs oft allein sitzen und sich nicht grüßen. In Italien gehört es zum guten Ton zu erzählen, Fragen zu stellen und einzuladen. Das deutsche Verhalten wirkt auf sie wie Desinteresse, aber diese Jeder-macht-Seins-Mentalität habe auch eine gute Seite. Denn Giorgia mag an Potsdam besonders, dass die Menschen viel weniger verurteilen würden als in ihrem Heimatland. Es sei egal, welche Kleidung man trage, welcher Religion man angehöre, solange man niemanden stört, könne man leben, wie man möchte.
Giorgia kam unter anderem wegen der schwierigen Situation in Italien nach Deutschland. Fehlende Mittel für die Wissenschaft und schlechte Zukunftsaussichten veranlassen dort besonders gebildete Menschen reihenweise ins Ausland zu gehen. Die Ausstattung und die hohe Zahl der Doktoranten haben Giorgia überzeugt, dass die Situation in Deutschland eine völlig andere ist. Ihr Jahr in Potsdam ist auch ein Testlauf, ob sie für eine längere Zeit im Ausland leben könnte.
Während Giorgia noch überlegt, wo sie ihre Zukunft verbringen möchte, hat Tanya in Potsdam bereits ihr zweites Zuhause gefunden. Shoqi will wiederum in ein paar Jahren in seine Heimat zurückkehren. Willkommen in Deutschland? Auf diese Fragen gibt es viele Antworten. Sie hängen von verschiedensten Faktoren ab und werden deshalb beständig von jedem neu gegeben.
READ THIS ARTICLE IN ENGLISH! speakup.to/welcome-to-germany
Eine Antwort auf „Willkommen in Deutschland?“