Am Samstag, den 30. März, war es so weit: während draußen weiterhin eisige Temperaturen herrschen, tummeln sich im Neuen Theater an der Schiffbauergasse die Badegäste auf der Bühne und schlüpfen bei imaginär lauer Sommerluft in ihre Rollen. Sie befinden sich in der Romanwelt des 20. Jahrhunderts von Eduard von Keyserlings „Wellen“. Von Christel Pietsch.
Von Weltkriegen unerschüttert scheint am Ostseestrand die Zeit stehengeblieben und die Welt noch in Ordnung. Dort lockt das Meer, mit seinen verschiedenen Facetten, die in einem Bild nur schwer zu fassen sind: mal schimmert es grün und lieblich, wie Marmelade so Baron von dem Hamm. Dann wieder ist es rau und unberechenbar, wie die Seemänner wissen. Das Meer bleibt aber nicht die einzige unergründliche Lockung vor Ort. Melanie Straub, zerbrechlich und anmutig, spielt Doralice, Gräfin und ehemalige Ehefrau von Graf Köhne-Jasky. Fernab vom gesellschaftlichen Korsett ihres Standes, versucht sie sich zusammen mit ihrem neuen Lebensgefährten, dem beleibten Maler Hans Grill (Raphael Rubino), in einem Fischerhaus einzuleben. Sie träumt sich eine Hängematte, von der sie die Füße baumeln lassen kann und sich um den Rest der Welt nicht zu kümmern braucht. Hans Grill, kräftig und voller Lebensenergie, hält die zierliche Doralice übers Meer. Doch die Vergangenheit lässt sich nicht wegschieben. Die Generalin Pailkow, souverän und besorgt zugleich von Rita Feldmeier gespielt, lädt ihre Tochter Baronin Büttlar (Franziska Hayner) samt Kinder, Mann (Bernd Geiling) und Schwiegersohn (Dennis Herrmann) zu sich aufs Ferienhaus ein. Wie Brausepulver bringt die geheimnisvolle Gräfin die Familienstruktur ins Wanken. Mit argwöhnischer Faszination hat die Familie Doralice im Auge. Die Jugend begeistert sich für die durchgebrannte Gräfin und auch die Herren der Partie können sich ihrem Zauber nicht entziehen. Aber die Beziehung von Doralice und Hans bleibt von den adligen Besuchern nicht unberührt. Vor allem Baron von dem Hamm mit unbändiger Leidenschaft und jugendlichen Übermut zieht Doralice mehr und mehr zurück in die adligen Welt, die nach ägyptischen Zigaretten duftet und etwas von dem Glanz verströmt, der im Leben mit Hans verloren ging. Hans weigert sich trotz der vielen Avancen, eifersüchtig zu sein und treibt Doralice nur weiter von sich weg. Erst kracht es zwischen beiden, dann beginnt das Schweigen. In der Nähe wohnt auch der Geheimrat Knospelius (Christoph Hohmann), der buckilge Eigenbrödler, der mit Fotoapparat das ganze Geschehen im Blick behält und ein Zuschauer unter den Figuren ist.
Mit viel Charme und Leichtigkeit
Die Regisseurin Barbara Brück hat es wieder mal geschafft mit Witz, verspielten Details und überraschenden Einfällen die unterhaltsame Seite bei einem dekadenten Stoff wie Keyserlings Wellen herauszukitzeln. Mit Leichtigkeit und Lebenslust tanzt, singt und krault das Ensemble über die Bühne. Bis alles wieder in tiefe Sehnsucht verebbt, die ebenso leicht vorüberstreicht. Ein Auf und Ab der Wellen, das den Zuschauer mitnimmt an einen Ort, der zeitlos bleibt. Schuld daran sind die Kostüme von Anke Grot, die die Figuren nicht einheitlich in das Modediktat der Zeit stecken, sondern symbolisch und passgenau auf ihren jeweiligen Charakter zugeschnitten sind. So treten Generalin Palikow, Fräulein Bork (Markus Reschtnefki) und Baronin Büttlär stilvoll in schwarzen langen Kleidern mit Turnüre auf, neben den Kindern Lolo (Elzemarieke de Vos ) und Wedig (Philipp Buder), die im Knallgelb den lebensfreudigen Flair der 70er ausstrahlen. Übertrieben selbstbewusst dazu der Baron Büttlär mit Schwiegersohn Hilmar in roter Glanzleggins und Glitzerweste. Ebenfalls originell und stimmig ist die Bühnengestaltung von Anke Grot. Recht schmucklos erscheint der Pakettboden im Fischgrätenmuster. Ein paar freche Details, die richtige Beleuchtung und das kreative Zusammenspiel des Ensembles werden bei Inszenierung von Bade-und Bootausflügen für den Zuschauer zum unterhaltsamen Erlebnis. Markant für Keyerlings Wellen ist das Meer als eigentliche Hauptrolle des Romans. Hier wurde der Spieß ein wenig weiter gedreht: nicht das Meer wurde zur präsenten Figur, sondern die Erzählung in Form eines sympathischen Plattenspielers. Der nicht ganz zuverlässig den Erzähler gibt und dabei auch den letzten historischen Staubkorn wegweht und die Figuren ganz nah an uns heranholt.
Dass das Meer sie freigäbe…
Und warum ist alles trotz der vielen Lacher ein Stück, das von Melancholie durchzogen ist? Es ist das Meer in uns, das uns schweigen lässt und uns zum Geheimnis macht, und dennoch durchsichtig ist. Jeder sieht es, jeder kleine Makel springt uns an, es schreit vor Widersprüchen. Wir können drüber lachen, wenn sie anfangen zu quietschen. Wenn Doralice mit zarten Füße auf Hans‘ dickem Bauch trippelt oder wenn die buckligen Rückenpartien des Geheimrats ein Eigenleben entwickelt. Letztendlich ist es das Meer in uns, das uns immer wieder gefangen hält; das unverständliche Geheimnis in uns, zwischen uns, das uns anzieht, abstößt, nie recht zueinander finden lässt.
„Aber so geht es immer, wir reden und reden, als ob der eine auf der ersten Sandbank steht und der andere auf der zweiten. Und keiner versteht, was der andere sagt, und wir rufen uns nur immer: was? was? zu.“, brüllt Hans Doralice zu. Und so wartet Doralice auf die große Aussprache zwischen sich und Hans, in der alles gesagt wird.
Vielleicht lässt sich die Art des melancholischen Humors mit Yasmina Reza, der bekannten Pariser Dramatikerin, deren Stücke zum Repertoire des Hans Otto Theaters gehören, verstehen. Diese schrieb über sich: „Ich lache gern, aber das bedeutet nicht, dass ich in dem Moment auch glücklich bin. […] Die geistreichsten Menschen sind immer Pessimisten. Sie sind auch die humorvollsten. Ich habe noch nie mit einem Optimisten richtig gelacht.“
„Wellen“ am Potsdamer Hans Otto Theater. Nächste Aufführungen jeweils um 19.30 Uhr im Neuen Theater (Schiffbauergasse) am 26. April sowie am 18. und 19. Mai.
Mehr über die aktuelle Saison am „HOT“ auch in der aktuellen „speakUP“ Nr. 13 und unter speakup.to/auf-der-suche-nach-dem-guten-leben
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