Nach über fünf Jahren und 483 Verhandlungstagen endete mit der Urteilsverkündung am 11. Juli 2018 einer der größten Strafprozesse in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Dennoch bleiben viele Fragen zum NSU-Komplex ungeklärt, die der Prozess am Oberlandesgericht München nicht lösen konnte. Auch in den Untersuchungsausschüssen des Bundestages und der Landesparlamente konnten diese Fragen nur ansatzweise bearbeitet werden. Der Arbeitskreis kritischer Jurist*innen (AKJ) Potsdam lud daher am Freitag, den 13. Juli 2018, drei Referent_innen an den Campus Griebnitzsee ein, die das Thema aus unterschiedlichen Sichtweisen kritisch beleuchteten. Von Julia Hennig.
Bundesweit gibt es an verschiedenen Hochschulen Arbeitskreise kritischer Jurist*innen, deren Dachverband der Bundesarbeitskreis kritischer Juragruppen (BAKJ) ist. Dieser besteht seit dem Jahr 1989 und setzt sich nach eigenen Angaben für „eine Ausbildung ein, die Theorie und Praxis vernetzt, so die sozialen Bezüge des Rechts reflektiert und den kritischen Umgang mit Recht fördert.“ Alle Gruppen im BAKJ findet ihr auf deren Homepage.
Den AKJ Potsdam in seiner derzeitigen Form gibt es seit dem Herbst 2015, aktuell sind rund zehn Personen aktiv. Adrian Furtwängler vom AKJ Potsdam betonte im Interview, dass das Recht als Teil der Gesellschaft gesehen werden müsse und daher auch immer politisch sei. Aus diesem Grund organisiere der AKJ auch immer wieder Veranstaltungen, in denen sich kritisch mit rechtlichen Themen auseinandergesetzt wird. Am NSU-Prozess kritisierte er unter anderem den deutlichen institutionellen Rassismus in staatlichen Institutionen, die Verwicklungen des Verfasssungsschutzes und die konsequente „Trio-Theorie“ der Bundesanwaltschaft. Wegen dieser Probleme könne man seiner Meinung nach den rechtlichen NSU-Prozess und den politischen Komplex dahinter nicht trennen. Abschließend forderte er: „Es wäre jetzt auch an der Wissenschaft, ein Teil der Aufklärung zu sein und Probleme wie den institutionellen Rassismus anzugehen.“
Der NSU-Prozess: Ein kurzer Überblick
Zu Beginn der Podiumsdiskussion gab Svenna Berger, die sich bei NSU-Watch Brandenburg und dem Antifaschistischen Pressearchiv und Bildungszentrum e.V. (apabiz) engagiert, einen kurzen Überlick über den NSU-Prozess. Der Nationalsozialistische Untergrund (NSU) verübte von September 2000 bis April 2007 neun Morde an griechisch- und türkischstämmigen Männern und einen Mord an einer Polizistin (siehe ZEIT Artikel). Zudem verübten sie zahlreiche Raubüberfälle und zwei Bombenanschläge in Köln in der Probsteigasse und in der Keupstraße. Die beiden Haupttäter Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos begingen am 4. November 2011 Suizid, Beate Zschäpe veröffentlichte daraufhin das Bekennervideo des NSU. Zuvor hatte das Trio, das seit Februar 1998 öffentlich gesucht wurde, insgesamt 13 Jahre in verschiedenen Verstecken gelebt.
Beate Zschäpe will trotz der gemeinsamen 13 Jahre nach eigener Aussage erst nachträglich von den Taten ihrer beiden Freunde gewusst haben. Das Gericht verurteilte sie als Mittäterin zu einer lebenslangen Haftstrafe und stellte eine besondere Schwere der Schuld fest. Der NSU-Waffenbeschaffner bekam eine Haftstrafe von zehn Jahren, die drei weiteren Angeklagten eine Haftstrafe von 2,5 bis 3 Jahren (siehe ZEIT Artikel). Die Zschäpe-Verteidigung möchte nun in Revision gehen. Die Moderatorin der Veranstaltung, Maya Markwald vom AKJ FU Berlin, zog daher folgende Bilanz: „Der Prozess ist nicht zu Ende und die Aufklärung ist nicht zu Ende“.
Die Positionen der Opfer-Angehörigen und Nebenklagevertreter_innen
Nach dem einleitenden Vortrag befragte die Moderatorin Frau Dr. Anna Luczak, Nebenklageanwältin der Familie Kubaşık, zu der Urteilsbewertung der Opfer-Angehörigen. Diese hätten zu Prozessbeginn die These vertreten, dass die fünf Angeklagten nicht die einzigen Schuldigen seien, da es ein Netzwerk hinter den fünf Angeklagten gäbe. Außerdem gingen sie davon aus, dass die Behörden mehr gewusst haben, als sie zugaben. Jetzt seien sie wütend über das Urteil und erschrocken, wie gering die Strafen der vier übrigen Angeklagten ausgefallen seien. „Enttäuschend ist schwach als Wort“, so beschrieb die Rechtsanwältin das Gefühl.
Sie kritisierte am Prozessverlauf, dass alle Beweisanträge der Nebenanklage abgelehnt wurden, die in Richtung Netzwerk und Ideologie gingen und resümiert: „Das Urteil tut so, als wär das keine politische Tat gewesen“. Abschließend weist sie darauf hin, dass am Mittwoch, den 11. Juli 2018, lediglich das mündliche Urteil verkündigt wurde. Hierbei muss das mündliche Urteil zwar identisch mit dem schriftlichen sein, die Urteilsbegründung könne jedoch abweichen. Sie ergänzte aber gleich, dass einem mündlichen Urteil mit sehr juristisch-technischem Charakter eher kein schriftliches Urteil mit einem politisch motivierten Charakter folgen werde. Die Plädoyers von acht Nebenanklagevertreter_innen und vier NSU-Terror-Betroffenen können im Buch „Kein Schlusswort“ nachgelesen werden.
Die Rolle der Untersuchungsausschüsse
Im Anschluss berichtete Isabelle Vandré, Mitglied der Linksfranktion im Brandenburgischen Landtag und im NSU-Untersuchungsausschuss Brandenburg, über ihre Arbeit. Sie erklärte, dass die Forderung nach einem brandenburgischen NSU-Untersuchungsausschuss schon länger bestanden habe, von der SPD aber abgelehnt worden sei, da Brandenburg kein Tatland gewesen sei. Im Jahr 2016 stimmte die rot-rote Landesregierung schließlich einem Antrag von CDU und Grüne zu, einen Untersuchungsausschuss einzusetzen. Dieser beschäftigt sich vor allem mit Carsten Szczepanski, der spätestens ab 1994 und bis 2000 als V-Mann „Piatto“ gearbeitet hat und eine Schlüsselperson im militanten Neonazismus der 1990er Jahre in Brandenburg ist.
Svenna Berger begleitet als Mitglied von NSU-Watch Brandenburg die Arbeit des Untersuchungsausschuss und möchte dabei mit ihrem Wissen aus der antifaschistischen Recherche auf Strukturen und gesellschaftliche Verbindungen hinweisen. Die Arbeit des NSU-Watch besteht vor allem darin, die Protokolle und Zusammenfassungen jeder Ausschusssitzung als Einzige zu veröffentlichen und so für die Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Am Ausschuss kritisierte sie besonders diese Geheimhaltungen der Sitzungen und die Verwicklungen der Sitzungsmitglieder in Parteistreitigkeiten. Außerdem greife der Vorsitzende nicht genügend ein, wenn Zeug_innen rassistische Bemerkungen äußerten.
Fünf Jahre NSU-Prozess: Was bleibt unbeantwortet?
Auch nach 483 Verhandlungstagen bleibt vieles ungeklärt. Die Rechtsanwältin benannte hier besonders die Größe, Gefährlichkeit und Ideologie der terroristischen Vereinigung NSU und damit die Frage nach deren Netzwerk sowie die staatliche Mitverantwortung an den Taten. In Bezug auf die Ermittlung gibt es eine Hauptfrage: „Warum haben Polizist_innen an allen Tatorten zuerst gegen die Familien ermittelt?“. Isabelle Vandré möchte in ihrer Arbeit das Puzzlewissen über den NSU, die Rolle des Verfassungsschutzes und der neonazistischen Szene um das Land Brandenburg erweitern. Svenna Berger betonte, dass NSU-Watch über die zivilgesellschaftliche Begleitung und Aufarbeitung auch international Druck ausüben möchte. Es solle hierbei nicht der Eindruck entstehen, dass mit den Verurteilungen die neonazistische Szene beseitigt sei. Am Ende der Diskussion wies die Moderatorin daher daraufhin: „Das Problem ist deutlich größer als Beate Zschäpe“.
Die Podiumsdiskussion hat gezeigt, dass auch nach der Urteilsverkündung Fragen offen geblieben sind. Daher ist für eine Aufklärung dieser Fragen auch das Engagement der Zivilgesellschaft, wie von NSU-Watch, wichtig. Wer sich für die Arbeit des NSU-Untersuchungsausschusses Brandenburg interessiert, kann hier die Zusammenfassungen von NSU-Watch nachlesen oder auch selbst eine Ausschusssitzung besuchen, Tipps dafür gibt es hier. Den AKJ Potsdam könnt ihr unter folgender Mailadresse kontaktieren: akj-potsdam@ist.pink