Zuhörertelefon statt Seelsorge

Prüfungsstress, Liebeskummer, Familiendrama: Seit kurzem können sich Studierende mit ihren Sorgen und Problemen anonym an die Nightline, ein studentisches „Zuhörtelefon“, wenden. Wenn junge Menschen es nicht mehr schaffen, ihre Probleme alleine zu bewältigen, kann dieses Angebot eine Chance sein, endlich die Reißleine zu ziehen. Von Denis Newiak

Im Sommer letzten Jahres erstach der 28jährige Rene S. erst seinen Vater, dann erschlug er seine Mutter mit einem Hammer. Die Leichen zerlegte er im Anschluss mit einer Kettensäge und verbrannte die Einzelteile. Als er gestand, was er getan hatte, erzählte er davon, wie ihn seine Eltern immer wieder als „Versager“ beschimpften, selbst seinen Selbstmord habe er nicht hingekriegt. Lange zwangen sie ihn zu einem Studium, das er gar nicht wollte. Irgendwann platzte der Kragen, hilflos und maschinell griff er zum „erstbesten“ Mittel. Jetzt muss er sich wegen zweifachen Totschlages verantworten.

Psychische Überforderung, körperliche Überlastung und Ausweglosigkeit sind Phänomene unserer „postmodernen“ Zeit: Immer mehr Menschen leiden unter Leistungsdruck, sozialer Vereinsamung und Stress – unsere pausenlosen, unbarmherzigen Zeiten bringen es mit sich. Experten sprechen bei Depression von der „Volkskrankheit des 21. Jahrhunderts“. Fünf Milliarden Euro geben deutsche Krankenkassen jährlich für ihre Behandlung aus; immer mehr Menschen werden bis zum Burnout ausgesaugt. Auch die Bologna-Reform, welche die durchschnittlich neun Semester langen Diplomstudiengänge in drei Studienjahre gepresst, einen Leistungspunkte-Sammelwahnsinn ausgelöst und Zukunftsängste vervielfacht hat, ist an diesem Vorgang nicht unschuldig – ganz im Gegenteil. Gleichzeitig stehen Krankenkassen und humanitären Organisationen immer weniger Mittel zum Entgegenwirken zur Verfügung – ein antagonistischer Widerspruch und genauso symptomatisch für die Gegenwart, in der wir leben.

Das extreme Beispiel von Rene S. zeigt, wohin es führen kann, wenn sich Frust aufstaut, Ängste ungebremst wachsen und zu einer Sackgasse werden. Hätte er sich rechtzeitig einer Hilfe von außen anvertraut, wäre das Schlimmste vielleicht zu verhindern gewesen.

Seit Januar können sich Angehörige der Universität anonym an die Nightline wenden, wenn ihnen die Probleme über den Kopf wachsen. Saskia* ist eine von 14 Engagierten der Potsdamer Hotline für Studierende mit Sorgen und sitzt auf der anderen Seite der Leitung. Meistens seien es die „kleineren“ Probleme des Studierendenalltags: Angst vor der Klausur, Konflikte in der Beziehung, Streitereien in der Familie, erzählt sie mit ruhiger sanfter Stimme. „Mir ging es auch schon mal so“, deswegen macht sie bei Nightline mit, auch wenn es dafür kein Geld gibt. Es gebe genügend Studierende, die etwas auf dem Herzen haben, doch die meisten würden sich nicht trauen, jemanden um Hilfe zu bitten.

Daher setzt das Projekt, welches bereits an zahlreichen Hochschulen in Deutschland angeboten wird, auf niedrige Hemmschwellen: Nicht nur Anrufer_innen, sondern auch die Mitarbeiter_innen bleiben anonym; jede Geschichte wird vorurteilsfrei behandelt. Im Mittelpunkt steht das Zuhören: „Wir sind keine professionelle Telefonseelsorge, sondern ein Zuhörtelefon“, erklärt Linda*. Es gehe nicht darum, Tipps zu geben oder Weisheiten zu verteilen, sondern ein offenes Ohr anzubieten, ausreden zu lassen und zu helfen, eine eigene Lösung zu finden. „Wenn ein Problem unsere Kompetenz übersteigt, leiten wir die Anrufer zum Beispiel an den AStA, die psychologische Beratung der Uni oder an den Weißen Ring weiter“, erzählt die Studentin der Humangeographie.

Bevor die „Zuhörer_innen“ zum Hörer greifen dürfen, machen sie eine Schulung mit, bei der Techniken der Gesprächsführung vermittelt werden. Dabei unterstützen sich die Nightlines in Deutschland gegenseitig: So teilen sich die einzelnen Gruppen während der vorlesungsfreien Zeit die Arbeit untereinander auf. Auch über eine Hilfe per Email oder Chat wird nachgedacht, „doch das ist noch mal was ganz anderes“, meint Psychologie-Studentin Saskia. Bisher hätten von dem Angebot nur vereinzelt Leute Gebrauch gemacht. Das liege aber nicht daran, dass es zu wenig Probleme gäbe, sondern daran, dass bisher nicht so viele von der Möglichkeit wissen. Die beiden Mitarbeiterinnen wünschen sich, dass sich das schnell ändert, schließlich geht es um viel. Sonst kann es irgendwann zu spät sein.

* Name von der Redaktion geändert

Kontakt:
Reguläres Angebot (in der Vorlesungszeit): jeden Montag, Donnerstag und Sonntag von 21-24 Uhr.
0331-977 1834 | www.nightline-potsdam.de | Nightline-Email-Kontakt

In der vorlesungsfreien Zeit:
Für 14.2. bis 27.2. immer Di bis Do und am Wochenende:  0761 – 2039375 21 bis 1 Uhr Nachts.
Kontaktdaten für die Zeit nach dem 27.2. unter http://www.nightline.uni-hd.de

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