Seit vergangenem Donnerstag, dem 10. Februar 2011, läuft in den Berliner Filmtheatern wieder die „Creme de la Creme“ der gegenwärtigen internationalen Kinematographie durch den Projektor. Für zehntausende Fachbesucher und Filmfans sind die Internationalen Filmfestspiele in Berlin jedes Jahr ein fester Termin, der wie Weihnachten lange herbeigesehnt wird – oder manch einem sogar noch wichtiger ist als die Sonnenwende, kaum vorstellbar… Denis Newiak hat sich mit einem hellblauen Akkreditierungsausweis unter die Massen gemacht und berichtet von nicht enden wollenden Schlangen, vollen Terminkalendern und unglaublichen Eindrücken, die von der Welt und den Menschen erzählen.
Morgens halb zehn im Deutschland: Wenn manch einer gerade seine Brotbüchse öffnet, sein mit einem gezackten Schnittmuster verziertes Päckchen aufreißt und in die „herzhafte Milch-Haselnuss-Schnitte“ beißt, ist für einen Menschen, der etwas mit der Berlinale zu tun hat, das Frühstück schon seit guten drei Stunden vorbei: Frühes Aufstehen gehört zur Berlinale genauso wie der Kampf um den besten Sitzplatz im Kinosaal, die Reizüberflutung am Ende des Tages und das tiefe Grübeln über die Gesellschaft – dazu später mehr.
Wer sich als Gelegenheitskinogänger sich freut, im Internet, in den Potsdamer-Platz-Arkaden oder bei einem der vielen Spekulanten ein Ticket bekommen zu haben, wird den einen oder anderen Film sehen, den Moment genießen und wieder nach Hause fahren. Wer zu den oben beschriebenen Fanatikern oder Industrieverter_innen gehört, lebt gezwungenermaßen noch ein bisschen anders: Die Glücklichen mit der heiß begehrten Akkreditierung – zu denen ich mich dieses Jahr auch zählen darf – hüten das kreditkartenförmige Kärtchen mit Namen und Passbild, welches sie um ihre Hälser an einem mit Bären und ZDF-Logo geschmückten Band tragen und ihnen Zugang zu einer Art Paralleluniversum gewährt, wie ihr Erstgeborenes. Diese Menschen sind aber nicht so privilegiert, wie es scheint: sie zeigen nicht einfach mit pseudowichtiger Mine am Einlass der dutzenden Spielplätze ihren Ausweis wie ein CIA-Agent vor, woraufhin die Person am Einlass einem das Gefühl gibt, man sei ein Weltminister, sondern die Wahnsinnigen stehen morgens in einer langen Schlange, in Spitzenzeiten 300 Meter lang, um sich ihre Karten für die nächsten Tage zu holen. Die glücklichen Akkreditierten bekommen zwar nach Zahlung ihrer Gebühr (100 Euro, ermäßigt 60 Euro) alle Tickets kostenlos, aber nur, wenn sie auch welche kriegen: um 8.30 Uhr öffnen die Ticketschalter für die Fachbesucher_innen, um 8.35 Uhr sind die ersten Filme vergriffen, um 8.45 Uhr ist fast nichts mehr zu bekommen. Kein Wunder, dass daher viele schon um sieben anstehen, um ihren dichten Plan für den nächsten Tag erfüllen zu können: Auf Zetteln mit Kritzeleien, Verschiebungen und Umschichtungen andeutenden Pfeilen und Vermerken reihen sich dicht gepackt die Filme, die gesehen werden sollen. Bei vielen um die vier, bei Gierigen sechs, bei dem Wahnsinn nahe stehenden Menschen die maximal erreichbare Anzahl – sieben Filme.
Am Ende eines solchen Tages ist kein Mensch mehr zurechnungsfähig. Vielleicht tut die/der eine oder andere Akkreditierte noch so, indem sie/er mehr oder weniger relevante Eindrücke im Internet postet, vermeintlich schlaue Kommentare mit anderen Besuchern austauscht oder fachsimpelt, was das Zelluloid-Zeug (oder neuerdings die Festplatte) hält, befinden sich andere von ihnen in einem Zustand des einfachen „Plattseins“. Schließlich wurde bis zu sieben Mal hintereinander (ganz zu schweigen davon, dass es auch noch dichter gepackte Kurzfilmveranstaltungen gibt) die eigene Lebensweise in Frage gestellt, die Welt als grundlegend defizitär klassifiziert und die Lächerlichkeit von menschlicher Kultur vorgeführt. Ein paar Beispiele:
In „Almanya – Willkommen in Deutschland“ werden aus der Türkei angeworbene Arbeitskräfte wie Vieh abgetastet, mit Zensuren entsprechend ihrer körperlichen Verfasstheit bewertet, diese direkt auf die Schulter geschriebenen und dann zu den Fabriken des boomenden Deutschen „Wirtschaftswunders“ gebracht.
Bei „Mishen“ sind die milliardenschweren Russ_innen in einem fiktiven Russland des Jahres 2020 nicht glücklich, sondern sehnen sich nach Freiheit, Jugend und Freude. Dass ihnen diese Wünsche verwehrt bleiben werden, ist keine Überraschung – andersherum wäre es schon eher eine merkwürdige Sache.
Im schwedischen Kurzfilm „The Unliving“ werden kranke Menschen, die sich in einer nicht allzu sehr entfernten Zukunft zu Zombies verwandelt haben, zur Grundlage für den Wohlstand der Gesundgebliebenen. Nur ihre Ausbeutung, die „Reparatur“ der „defekten“ Körper und ihre grenzenlose Ausschlachtung als Arbeitskraft können gewährleisten, dass die nötige Anzahl an Konsum- und Luxusgütern hergestellt wird.
Und im zweieinhalbstündigen Drama „The Turin Horse“ können sich zwei arme Bauern nicht davor schützen, dass selbst ihr absolutes Lebensminimum – ein Koffer Kartoffeln, ein kleiner Brunnen, ein Pferd – ebenfalls durch Dunkelheit und Tod ersetzt wird. Sie haben den gleichen Blick wie die „Kartoffelesser“ auf dem berühmten Gemälde von Van Gogh – ausgehungert, erschöpft, geduldig. Warum lebt immer noch eine Milliarde Menschen unter solchen Bedingungen, während täglich Nahrungsmittel bewusst vernichtet werden, um Preise zu erhöhen?
Zugegeben: Es gibt auch lustige Filme. Aber auch diese lustigen Filme sind immer gesellschaftskritisch, sie können gar nicht anders. Auf der Berlinale wird man zwar, was das Sehen von Filmen betrifft, (im wahrsten Sinne des Wortes) „erfahrener“, aber lange noch nicht glücklicher. Wenn abends um halb eins der letzte Vorhang schließt, vor dem „Berlinale Palast“ die zurückgebliebenen Pappbecher zusammengekehrt werden und die Taxen ihr letztes großes Geschäft für diesen Tag machen, stellt sich die Frage, wo all diese Defizite, diese strukturelle Ungerechtigkeit und der Mangel herkommen. Die meisten Besucher_innen finden ihre eigene Antwort. Bei vielen geht sie in eine ähnliche Richtung.
Dieser Text ging gegen ein Uhr online: Höchste Zeit, ein viereinhalbstündiges Nickerchen einzulegen – damit die Eindrücke am nächsten Tag wieder aufgesaugt werden können. Denn auch wenn das exzessive Filmegucken am Nervenkostüm rüttelt: Keinen einzigen der großen Meisterwerke möchte ich verpasst haben.
Noch mehr Eindrücke von der Berlinale gibt es jeden Tag bis zum 20. Februar unter http://denis-newiak.blog.de
Kein Ponyhof: Die 61. Berlinale ist nichts für schwache Nerven
Seit vergangenem Donnerstag, dem 10. Februar 2011, läuft in den Berliner Filmtheatern wieder die „Creme de la Creme“ der gegenwärtigen internationalen Kinematographie durch den Projektor. Für zehntausende Fachbesucher und Filmfans sind die Internationalen Filmfestspiele in Berlin jedes Jahr ein fester Termin, der wie Weihnachten lange herbeigesehnt wird – oder manch einem sogar noch wichtiger ist als die Sonnenwende, kaum vorstellbar… Denis Newiak hat sich mit einem hellblauen Akkreditierungsausweis unter die Massen gemacht und berichtet von nicht enden wollenden Schlangen, vollen Terminkalendern und unglaublichen Eindrücken, die von der Welt und den Menschen erzählen.
Morgens halb zehn im Deutschland: Wenn manch einer gerade seine Brotbüchse öffnet, sein mit einem gezackten Schnittmuster [MJ1] verziertes Päckchen[MJ2] [MJ3] beißt, ist für einen Menschen, der etwas [MJ4] mit der Berlinale zu tun hat, das Frühstück schon seit guten drei Stunden vorbei: Frühes Aufstehen gehört zur Berlinale genauso wie der Kampf um den besten Sitzplatz im Kinosaal, die Reizüberflutung am Ende des Tages und das tiefe Grübeln über die Gesellschaft[MJ5] . aufreißt und in die „herzhafte Milch-Haselnuss-Schnitte“ – dazu später mehr
Wer sich als[MJ6] sich freut[MJ7] , im Internet, in den Potsdamer-Platz-Arkaden oder bei einem der vielen Spekulanten ein Ticket bekommen zu haben, wird den einen oder anderen Film sehen, den Moment genießen und wieder nach Hause fahren. Wer zu den oben beschriebenen Fanatikern oder Industrieverter_innen gehört, lebt gezwungenermaßen noch ein bisschen anders: Die Glücklichen mit der heiß begehrten Akkreditierung [MJ8] – zu denen ich mich dieses Jahr auch zählen darf – hüten das kreditkartenförmige Kärtchen mit Namen und Passbild, welches sie um ihre Hälser an einem mit Bären und ZDF-Logo geschmückten Band tragen und ihnen Zugang zu einer Art Paralleluniversum gewährt, wie sein Erstgeborenes. Diese Menschen sind aber nicht so privilegiert, wie es scheint: sie zeigen nicht einfach mit pseudowichtiger Mine am Einlass der dutzenden Spielplätze ihren Ausweis wie ein CIA-Agent vor, woraufhin die Person am Einlass das Gefühl gibt, man sei ein Weltminister, sondern sie stehen morgens in einer langen Schlange, um sich ihre Karten für die nächsten Tage zu holen. Die glücklichen Akkreditierten bekommen zwar nach Zahlung ihrer Gebühr (100 Euro, ermäßigt 60 Euro) alle Tickets kostenlos, aber nur, Gelegenheitskinogänger wenn sie auch welche kriegen: um 8.30 Uhr öffnen die Ticketschalter für die Fachbesucher_innen, um 8.35 Uhr sind die ersten Filme vergriffen, um 8.45 Uhr ist fast nichts mehr zu bekommen. Kein Wunder, dass daher viele schon um sieben anstehen, um ihren dichten Plan für den nächsten Tag erfüllen zu können: Auf Zetteln mit Kritzeleien, Verschiebungen und Umschichtungen andeutenden Pfeilen und Vermerken reihen sich dicht gepackt die Filme, die gesehen werden sollen. Bei vielen um die vier, bei Gierigen sechs, bei dem Wahnsinn nahe stehenden Menschen die maximal erreichbare Anzahl – sieben Filme.
Am Ende eines solchen Tages ist kein Mensch mehr zurechnungsfähig. Vielleicht tut die/der eine oder andere Akkreditierte noch so, indem sie/er[MJ9] einfachen „Plattseins“[MJ10] . Schließlich wurde bis zu sieben Mal hintereinander (ganz zu schweigen davon, dass es auch noch dichter gepackte [MJ11] Kurzfilmveranstaltungen gibt) die eigene Lebensweise in Frage gestellt, die Welt als grundlegend defizitär klassifiziert und die Lächerlichkeit von Kultur vorgeführt. mehr oder weniger relevante Eindrücke im Internet postet, vermeintlich schlaue Kommentare mit anderen Besuchern austauscht oder fachsimpelt, was das Zelluloid oder die Festplatte hält, befinden sich die anderen in einem Zustand des
In „Almanya – Willkommen in Deutschland“ werden aus der Türkei angeworbene Arbeitskräfte wie Vieh abgetastet, mit Zensuren entsprechend ihrer körperlichen Verfasstheit bewertet, diese direkt auf die Schulter geschriebenen und dann zu den Fabriken des boomenden Deutschen „Wirtschaftswunders“ gebracht.
Bei „Mishen“ sind die milliardenschweren Russ_innen in einem fiktiven Russland des Jahres 2020 nicht glücklich, sondern sehnen sich nach Freiheit, Jugend und Freude. Dass ihnen diese Wünsche verwehrt bleiben werden, ist keine Überraschung – andersherum wäre es schon eher eine merkwürdige Sache.[MJ12]
Im schwedischen Kurzfilm „The Unliving“ werden kranke Menschen, die sich in einer nicht allzu sehr entfernten Zukunft zu Zombies verwandelt haben, zur Grundlage für den Wohlstand der Gesundgebliebenen. Nur ihre Ausbeutung,[MJ13] Ausschlachtung[MJ14] die „Reparatur“ der „defekten“ Körper und ihre grenzenlose als Arbeitskraft können gewährleisten, dass die nötige Anzahl an Konsum- und Luxusgütern hergestellt wird.
Und im zweieinhalbstündigen Drama „The Turin Horse“ können sich zwei arme Bauern nicht davor schützen, dass selbst ihr absolutes Lebensminimum – ein Koffer Kartoffeln, ein kleiner Brunnen, ein Pferd – ebenfalls durch Dunkelheit und Tod ersetzt wird. Sie haben den gleichen Blick wie die „Kartoffelesser“ auf dem berühmten Gemälde von Van Gogh – ausgehungert, erschöpft, geduldig. Warum lebt immer noch eine Milliarde Menschen unter solchen Bedingungen, während täglich Nahrungsmittel bewusst vernichtet werden, um Preise zu erhöhen?
Es gibt auch lustige Filme. Aber diese lustigen Filme sind immer gesellschaftskritisch. Auf der Berlinale wird man zwar, was das Sehen von Filmen betrifft, (im wahrsten Sinne des Wortes) „erfahrener“, aber lange noch nicht glücklicher. Wenn abends um halb eins der letzte Vorhang schließt, vor dem „Berlinale Palast“ die zurückgebliebenen Pappbecher zusammengekehrt werden und die Taxen ihr letztes großes Geschäft für diesen Tag machen, stellt sich die Frage, wo all diese Defizite, diese strukturelle Ungerechtigkeit und der Mangel herkommen. Die meisten Besucher_innen finden ihre eigene Antwort. Bei vielen geht sie in eine ähnliche Richtung.
Dieser Onlinetext [MJ15] ging gegen halb zwei online: Höchste Zeit, ein vierstündiges Nickerchen einzulegen – damit die Eindrücke am nächsten Tag wieder aufgesaugt werden können. Denn auch wenn das exzessive Filmegucken am Nervenkostüm rüttelt: Keinen einzigen der großen Meisterwerke möchte ich verpasst haben.
Noch mehr Eindrücke von der Berlinale gibt es jeden Tag bis zum 20. Februar unter http://denis-newiak.blog.de[MJ16]
[MJ1]Das ist ganz schön viel „Gefühl“…. Für meinen Geschmack
[MJ2]Schleichwerbung??
[MJ3]Unnötig. Füllkram.
[MJ4]etwas
[MJ5]Kontext?
[MJ6]Wer sich als
[MJ7]AUSDRUCK FEHLER
[MJ8]Schreib das doch alles in der ich form, wäre finde ich cooler und dichter dran
[MJ9]wenn schon gendern dann konsequent! ;o) er/sie
[MJ10]kursiv und in klammern?
[MJ11]gepackte
[MJ12]andersherum wäre es eher eine merkwürdige sache
[MJ13]„Ausbeutung“ doppelt sich
[MJ14]Siehe oben
[MJ15]Dieser online was???
[MJ16]Insgesamt wie immer ein guter Artikel. Ich finde sehr pathetisch und an einigen Stellen schießt du meiner Meinung nach mit Einschüben, Relativsätzen usw. ganz schön übers Ziel hinaus. Ist mir an manchen Stellen einfach too much. Aber wie gesagt, insgesamt sehr lesenswert!