Zündstoff Islam: Die offene Gesellschaft ist keine Frage des Glaubens

Um geläufige Stereotype abzubauen und um die Meinungsbildung zu diesem Thema auch unter den Studierenden anzuregen, hat die speakUP die Diskussion „Zündstoff Religion: Passt der Islam zur offenen Gesellschaft?“ am 21.November besucht. Im Studiumplus-Seminar „Anders als du glaubst“ wird dazu bereits heiß diskutiert. Von Katharina Golze.

9/11 hat Misstrauen geschaffen. Misstrauen gegenüber dem Islam und dessen Gläubigen. Auch in Deutschland. Aus welchem Land eine Person kommt, welche Sprache sie spricht oder in welcher Kultur sie aufgewachsen ist, das zählt nicht mehr – jetzt zählt scheinbar nur noch, dass sie an den Koran und Allah glaubt. Die Religiosität wird über die individuellen Charaktereigenschaften gestellt. Diverse Personengruppen werden homogenisiert, auf ihren Glauben reduziert und als mögliche Terrorist_innen kriminalisiert – eine große Frage steht im Raum: Passt der Islam zur offenen Gesellschaft?

Dialog schaffen zum (Um-)Denken

Dieser Frage widmete sich der Themenabend des Hans-Otto-Theaters aus der Reihe „Welches Land wollen wir sein?“. Antwort geben die beiden Muslimas Sineb El Masrar und Pinar Cetin. Beide arbeiten mit ihrer Religion: Masrar ist Autorin der Bücher „Muslim Girls“ und „Emanzipation im Islam – eine Abrechnung mit ihren Feinden“, sowie des multikulturellen Frauenmagazins „Gazelle“. Cetin ist unter anderem Vorsitzende des Landesfrauenverbandes der DITIB, der mitgliederstärksten islamischen Organisation in Deutschland, und unterstützt die Arbeit ihres Ehemanns Ender Cetin, Vorsitzender der DITIB-Sehitlik Türkisch Islamische Gemeinde zu Neukölln e.V..

Die Podiumsrednerin, welche das Christentum vertreten sollte, hatte abgesagt. Ein_e Vertreter_in des Judentums war gar nicht erst geplant. Dabei sollte es ein Diskurs mit verschiedenen Weltreligionen werden – denn die Veranstaltung findet in Kooperation mit „Anders als du glaubst“, einem Projekt des Neuen Potsdamer Toleranzedikts zu Weltreligionen und Weltethos, statt. Bis zum 30. November 2016 wurden unter diesem Thema Veranstaltungen und Ausstellungen, unter anderem in der Landes- und Stadtbibliothek Potsdam, angeboten.

Auch im Christentum gibt es Vielehe und Homophobie

Christliche Stimmen gibt es an diesem Abend dennoch – seien es Stimmen aus dem Publikum oder sei es in Form des eröffnenden Theaterstücks „Geächtet“ von Ayad Akhtar, bei welchem eine Christin, ein Jude und ein Muslim bei einem Treffen anfangen, über Religion, Toleranz und Terror zu diskutieren. Eine Christin aus dem Publikum erinnert daran, dass es auch im Christentum Homophobie, Vielehe und traditionelle Erziehung gäbe und fordert: „Wir, also alle Religionen, müssen alle aktiv die offene Gesellschaft leben und an uns arbeiten.“ Das sei besonders in Zeiten des Populismus, des Nationalismus und der Radikalisierung wichtig, betont die Podiumsrednerin Pinar Cetin.

„Die Mitte muss stärker bleiben, damit uns die extremen rechten und linken Ränder nicht einengen“, sagt die Politologin. Daher nehme sie gern eine Brückenfunktion an, indem sie ihre Gemeinde für Nicht-Muslime öffnet und Fragen wie die des Abends beantwortet. Pinar Cetin versteht den Islam als anpassbar an die Moderne und warnt davor, die religiösen Schriften ohne einen historisch-kulturellen Kontextbezug zu lesen.

Muslimas integrieren sich als „Meisterinnen des Doppellebens“

Ihr hat die Religion bei der Identitätssuche geholfen, als sie in der Schule und von den Lehrern stets als „Repräsentantin der Türken“ verstanden wurde und gleichzeitig die deutsche Staatsbürgerschaft erwarb. „Das Kopftuch hat mir Klarheit gegeben“, sagt sie und erinnert sich, dass ihre damaligen Lehrer sie sofort fragten, ob sie Hilfe bräuchte. Ihr Bekennen zum Islam schuf Misstrauen.

Autorin Sineb El Masrar weiß, dass junge Muslimas viele Kompromisse eingehen müssen, um in der internen Community akzeptiert zu werden und gleichzeitig ihren eigenen Weg gehen zu können. In ihren Büchern beschreibt sie die Lebenswirklichkeiten junger muslimischer deutscher Frauen und charakterisiert sie als „Meisterinnen des Doppellebens“. Dabei würden sie auch mit Stereotypen der Genitalverstümmelung, Zwangsheirat und Ehrenmord konfrontiert werden.

‚Wir schaffen das‘ – mit Ende der Stigmatisierung

Eine willkürliche Stigmatisierung findet sich ebenso in der hohen Gewaltzusprechung von Muslimen. Oft würde der Auszug „Tötet da, wenn ihr sie findet“ frei aus dem Koran zitiert, ohne sich den Kontext und die Zeit anzusehen, weiß Cetin. Dabei treffe die meiste Gewalt, die von Muslimen ausgeht, wiederum Muslime – sei es der Krieg in Syrien, Attentate des IS oder Angriffe der Boko Haram.

Masrar fordert allerdings, dass auch deutsche Gläubige nicht die Augen verschließen sollten, wenn ein muslimischer Prediger radikalisiert oder zur Radikalisierung aufruft. Hier müssten die Muslime kritischer nachfragen, denn „schwarze Schafe“ gäbe es in jeder Religion. Die Publizistin hofft, dass der liberale Islam in Deutschland erstarkt und steht daher Angela Merkels Slogan optimistisch gegenüber: „‘Wir schaffen das‘ kann ich so unterschreiben, wir müssen nur noch irgendwann das Konzept entwickeln.“

Den Weltethos im Unikurs suchen

Amanda besucht die Veranstaltung im Rahmen des Seminares „Anders als du glaubst“, welches in diesem Semester unter Studiumplus angeboten wird und mit dem gleichnamigen Projekt kooperiert. Im Kurs besprechen sie die Gemeinsamkeiten der Weltreligionen und haben dabei die goldene Regel aller Glaubensrichtungen entdeckt: „Was du nicht willst, das man dir tut, das füg‘ auch keinem anderen zu.“ Die zentrale Frage des Seminars sei, wie das Weltethos umgesetzt wird. 1993 beschlossen Vertreter_innen aus 125 Religionen die Erklärung des Weltethos, indem sie sich auf die auf vier Weisungen „Du sollst nicht töten, stehlen, lügen und Unzucht treiben“ einigten. Die Debatte in der Schiffbauergasse hat Amanda nun einen Impuls für die Beantwortung dieser Frage gegeben.

Gleichzeitig bleibt eine Warnung im Hinterkopf, was eine Frau aus dem Publikum zum Ende der Veranstaltung geraten hatte : „Lassen Sie sich nicht von den Medien blenden, sprechen sie mit den Menschen.“ Und das sollten wir uns zu Herzen nehmen. Denn um eine offene Gesellschaft zu erreichen, sollten auch wir Einheimischen erst einmal unsere Stereotype abbauen und aufhören Personen mit diversen Persönlichkeiten, Kulturen und Herkunft in einen Topf zu werfen – und das geht am besten im Dialog.

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