Heute: Nadine aus Weimar. Von Denis Newiak
Nadine war auf dem Goethe-Gymnasium. Ein anderes in der Stadt heißt Schiller-Gymnasium. „Außerdem haben wir ein Goethe-Kaufhaus und ein Schiller-Kaufhaus, die Hauptstraße heißt Schillerstraße, und dann gibt es noch den Goetheplatz.“ Die knapp 65.000 Weimarer wissen anscheinend, auf welche Pferde sie setzen müssen. Die viertgrößte Stadt Thüringens hat aber noch mehr zu bieten: „Wir haben einen ganz schönen Stadtpark, den Ilmpark – das Herz der Stadt.“, erzählt Nadine. In ihrer Stimme hört man, dass sie von der Heimat erzählt. Im Sommer setzt man sich einfach aufs Fahrrad, fährt in den Park, guckt sich um – und mit Sicherheit sitzt da irgendwo jemand, den man kennt. „Hier hat sich immer der Sommer abgespielt.“
Seit fünf Jahren lebt Nadine Lilienthal in Potsdam. „Politik und Soziologie – das hat mich schon zu Schulzeiten total interessiert. […] Mich interessiert eigentlich alles auf der Welt. Ich will wissen, wie das alles läuft.“ Dass sie heute außerdem Slawistik studiert, könnte man als logische Konsequenz einer spontanen Entscheidung werten: Den Zettel für die Anmeldung der zweiten Fremdsprache hatte die Mutter schon mal blanko unterschrieben, und weil die Anderen alle Latein und Französisch belegten, machte Nadine ihr Kreuz – direkt vor der Abgabe – einfach bei Russisch. „Eine Schicksalsentscheidung.“ Sieben Jahre später entschied sie sich, Slawistik zu studieren. „Das war am Anfang echt schwer.“ Dann machte sie ein Praktikum in St. Petersburg, arbeitete als Deutschlehrerin in einem Moskauer Ferienlager. „Seitdem liebe ich das Land.“ Und die Sprache wohl noch mehr als vorher.
Ihre Wunschfächer hätte sie auch woanders studieren können. „Doch ich wollte im Osten bleiben. Es war keine rationale Entscheidung, einfach mein Gefühl.“ Nach einem Urlaub in Caputh merkte sie, dass Potsdam „nicht gerade hässlich“ ist. Seitdem führt sie ein Doppelleben, als „gebürtige Thüringerin, vom Herzen her. Aber ich würde eher sagen, dass ich eher Potsdamerin als Weimarerin bin.“
Florian Heinrich ist auch ein Potsdamer, vor 20 Jahren in der Landeshauptstadt geboren. Bis vor Kurzem hat er noch in der Nähe von Potsdam gewohnt, im beschaulichen Caputh, ein Jahrzehnt lang. Vor ein paar Monaten ist Florian – von seinen Freunden liebevoll „Feivel“ genannt – seinem Wunschstudienplatz, Fach „Mediengestaltung“, nach Weimar gefolgt. „Im Fach Medien kann man sich mit allem Möglichen beschäftigen, viel Allgemeinwissen ansammeln.“ Jetzt wohnt er nicht weit vom Ilmpark entfernt. Große Unterschiede zu Potsdam sieht er nicht, höchstens, dass es in Weimar „kleiner“ ist – und „auf jeden Fall nicht so krass wie in Potsdam, wo es so derbe Parkwächter gibt, die einen vom Rasen wegscheuchen.“ Weil in Leipzig das Medienstudium viel theoretischer sein soll, entschied er sich für die UNESCO-Welterbestadt. Als Feivel der Familie von seinen Studienabsichten erzählte, hielt sich die Begeisterung in Grenzen: „Mach doch lieber was Richtiges, wo du danach auch ’nen Job kriegst!“, zitiert Florian seine Eltern. Als es aber ernst wurde, stand die Familie geschlossen hinter ihm.
Nadine ging es am Anfang ähnlich. „Was willst du damit werden?“, fragten sie die Verwandten. Doch schon jetzt arbeitet sie als freie Mitarbeiterin für die „Stiftung Deutsch-Russischer Jugendaustausch“, organisiert Jugendbegegnungen und Workshops – macht also genau das, was ihr Spaß macht. „Das macht mich echt unendlich glücklich.“ Als Mitglied im SprecherInnenrat der Juso-Hochschulgruppe und des Studentenparlaments setzt sie sich in Potsdam für eine soziale Hochschulpolitik ein. „Ich dachte mir irgendwann: Du studierst Politik. Du kannst eigentlich gar nicht neutral sein, das geht gar nicht.“ Auf dem Weg zu ihrem baldigen Abschluss hat sie viel mitgenommen – Erfahrung gesammelt. Sich jeden Tag aufs Neue zu engagieren, kostet Kraft: „Man ist nicht immer mit allem einverstanden, was so gemacht wird“ – aber sie hat das Gefühl, etwas bewegen zu können. Es gibt Tage, an denen sie zweifelt. Doch das ist kein Verbrechen.
Wenn alles klappt, möchte sie noch weiter Richtung Osten ziehen. Vielleicht treibt es sie aber auch irgendwann wieder zurück nach Thüringen, „dann aber vielleicht nach Erfurt.“ Und in 20 Jahren? „Da bin ich Bundesaußenministerin – die Erste.“ Sie lacht.
Feivel möchte sich nach seinem Bachelor-Abschluss weiter spezialisieren, am liebsten an der Potsdamer Hochschule für Film und Fernsehen. Er ist wohl immer noch eher Potsdamer als Weimarer. Trotzdem hat er sich in seinem neuen Zu Hause schon eingelebt. Die beiden Kaufhäuser kennt er, auch die Schillerstraße und den Goetheplatz. Doch es kommt noch besser: „Das Goethe-Schiller-Denkmal steht auf dem Theaterplatz vor dem Deutschen Nationaltheater“, wo auch die Weimarer Verfassung geboren wurde. Und: „Goethes Wohnhaus sieht aus wie ’ne Messibude.“ Er sammelte wohl gerne.
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