Die Universität bietet weit mehr als Lernen für Leistungspunkte und überfüllte Hörsäle. Aber sind unsere persönlichen Erwartungen an das Studium überhaupt noch wichtig oder erfüllbar? Was können wir tun, um das Privileg, studieren zu dürfen, wirklich voll und ganz auszuschöpfen und unsere Persönlichkeit frei zu entfalten? Teil 1 unserer dreiteiligen Serie „Die Lust am Studieren“. Von Vinzenz Lange.
Überfüllte Hörsäle sind ein Problem, das alle belastet: Für die Studierenden, die sich eng unter die Tafel neben den Dozent_innen zusammenkauern müssen oder im Türrahmen den letzten Stehplatz ergattert haben und auf diese Weise unmöglich konzentriert mitschreiben können; für die Professor_innen, die dieser Überzahl bloßen Lernstoff, schwerlich aber Wissen vermitteln können – ganz zu schweigen davon, dass sie kaum ein persönliches Verhältnis zu den Lernenden aufbauen können, das über bloßes Wiedererkennen einer Stimme oder eines Gesichts hinausgeht. Auf beiden Seiten, sowohl bei den Lernenden, als auch bei den Lehrenden nähert sich die Motivation verständlicherweise dem Tiefpunkt an. Nicht zuletzt sorgt sich auch die Universitätsleitung, weiß sie doch auch, dass unter diesen Umständen die Lehre leidet und der schöne Putz des Prestige zu bröckeln beginnt, wenn die Uni nicht genug Raum in dem Wissen wachsen kann, zur Verfügung stellt.
Gegen diesen und viele andere Missstände gingen 2009 und 2010 mehr als 100.000 Studierende auf Deutschlands Straßen und auch hier kam es wieder zu überfüllten Hörsälen – diesmal aber als Protestaktion, als Blockade der unmenschlichen und krankenden Lernstoffmaschinerie, die für die Industrie mit Fakten gefüllte Arbeitskräfte ausspuckt, die in der Wirtschaft aufgehen und ihre Unersättlichkeit nach Wachstumshunger sättigen soll. Aber auch Dekanate, jeder Campus, Büros und Straßen wurden besetzt und unter anderem „freier Bildungszugang für alle Menschen“ und die „Abschaffung von sämtlichen Bildungsgebühren wie Studiengebühren“ gefordert. Auch in den Jahren danach wurde weiter protestiert, bei der letzten Demonstration Mitte Januar 2013 zu der auf der der Seite bildungsstreik.net aufgerufen wurde, wird die erneute Anerkennung der Bildung als ein Grundrecht eingefordert. Die Ziele stehen fest, die zahlreichen Unterzeichner der Forderungen und die Studierendenschaft sind sich einig, dass radikale Maßnahmen im Kampf gegen die Bildungsmisere und die ungerechten Zugangsmöglichkeiten zur Universität ergriffen werden müssen.
Demotivation gegen Anwesenheitspflicht
Doch im Unialltag zeichnet sich stets ein gegenteiliges Bild ab. Das erste und einzige, was immer wieder gut besetzt ist, scheint die Cafeteria zu sein. Und dort wird weder die Faust oder die Hand zum solidarischen Gruße erhoben, sondern der Kaffeebecher aus Pappe als radikale Maßnahme im Kampf gegen die Müdigkeit und Demotivation. Ein anderer Teil der Studierenden sitzt lernend und lesend an den Tischen der Hörsäle, Seminarräume und Bibliotheken.
In der Cafeteria zeigt sich täglich der Ansatz einer Diskrepanz, welche die Forderung der Bildungsproteste diskreditiert. Auf der einen Seite wird die Abschaffung der Anwesenheitspflicht und die dazugehörige Anwesenheitsliste gefordert, damit niemand mehr gewzungen wird zu einem Seminar zu erscheinen. Auch sollen alle geschützt werden, die durch unglückliche Umstände nicht erscheinen können und trotzdem den Kurs bestehen wollen. Leider wurde die Frage, ob eine Anwesenheitspflicht bei einem Kurs besteht, zum primären Entscheidungskriterium für das Belegen einer Vorlesung oder eines Seminars. Das Interesse am Thema, Inhalt oder Wissenszuwachs, kann so durch die Liste schon im Keim erstickt werden. Die kontrollierte Pflicht und nicht persönliche Vorlieben entscheidet darüber, was einen Platz im Stundenplan findet oder gar nicht erst gewählt wird. Aber selbst wenn diese Pflicht nicht besteht, spielen die Gründe, die uns dazu motivieren sollten eine Veranstaltung zu besuchen, manchmal trotzdem keine Rolle. Das mag oft genug an einem unzureichenden Vorlesungsangebot oder unmotivierten Lehrenden liegen, doch zu allererst müssen wir den Willen haben, uns dem Wissen zu öffnen.
Bildung als unser Grundrecht
„Bildung ist ein Grundrecht, das wir uns nicht weiter nehmen lassen!“, ist eine der Forderungen des großen, jahrelangen Bildungsstreiks, sie ist an die Politiker und die Industrie adressiert, aber keinesfalls dürfen wir dabei übersehen, dass wir diese Forderung auch an uns selber richten sollten, da auch wir uns dieses Grundrechts berauben können. Wir allein haben die Verantwortung, uns das Wissen zu erarbeiten. Diese Verantwortung schulden wir nicht der Universität oder der Politik, sondern uns selbst. Wir können ihr nur gerecht werden, wenn wir über unseren eigenen Schatten, unseren inneren Schweinehund springen, unsere Fähigkeiten und Schwächen kennenlernen, sie verstehen. Aber auch regelmäßig zu Veranstaltungen erscheinen, Arbeiten nicht aufschieben, mitarbeiten, nachlesen usw. Den Willen und Mut dazu müssen wir aber aus uns selbst schöpfen. Eine schwere Aufgabe, die wir aber lösen und angehen sollten, wenn wir unsere Zeit an der Uni nicht vergeuden wollen.
Die Philosophen scheinen sich einig darin zu sein, dass die Vernunft und der Verstand uns Menschen von allen anderen Wesen auf dem Planeten unterscheidet. Wir sind also privilegiert, weil wir ein Universum an geistigen Fähigkeiten in uns tragen, das fähig ist, neue und immer neuere Ideen zu gebären. Das hat nichts mit Strebertum zu tun. Die Universität bietet uns die Möglichkeit, unser geistiges Potenzial zu entdecken, zu kultivieren und die Früchte weitergeben zu können. Dafür müssen wir aber nicht nur den freien Zugang für alle Menschen der Uni fordern, sondern diesen Zugang und alles, was damit zusammenhängt, auch nutzen. Wenn wir zu den Glücklichen gehören, die studieren dürfen, sollten wir diese Chance auch wahrnehmen und uns nicht der schieren Faulheit oder Demotivation hingeben. Wir sollten unsere Forderungen auch wirklich leben, sonst machen wir den Bildungsstreik lächerlich. Diese Pflicht, die wir für uns haben, ist aber kein stumpfer Zwang, denn sie zieht auch Erfolg nach sich. Wenn wir tun, was wir gut können, dann kommt auch die restliche Motivation, ja sogar der Spaß und die Lust an Lernen ganz von allein. Zur Zeit müssen diese Pflichten aber von anderen uns auferlegt werden, womit wir aber unsere eigene Autonomie hingeben.
Für unsere eigene Zukunft
Statt selbstständig zu erfahren, wer wir sind und was wir wollen, damit wir unser Wesen entwerfen, lassen wir uns von künstlichen Orakeln sagen, wer wir sind oder sein sollen. Wir investieren so viel Geld und vor allem Lebenszeit (das kostbarste, was wir haben!) in Produkte der Industrie, ja lassen uns von ihnen abhängig machen, obgleich wir doch im Bildungsstreik immer wieder betonen, nicht ihre Sklaven sein zu wollen. Selbst wenn wir es ablehnen, für sie zu arbeiten, dienen wir ihr doch durch unseren Konsum. Anstatt die Entfaltung unseres Wissens, ja unseres eigenen Selbst zu pflegen, arbeiten wir an der Optimierung der Technik, die uns so viel geistige Kraft raubt, welche uns für die Motivation und Lust am Lernen fehlt. Zudem glaube ich nicht, dass jemand noch aufmerksam zuhören und womöglich mitschreiben kann, während er oder sie bei Facebook eine Nachricht schreibt, bei Amazon einkauft und ein Onlinegame spielt.
Natürlich brauchen wir für ein konzentriertes, kontinuierliches und selbst reflektiertes Studium überhaupt erst einen leichteren Zugang an die Universität, denn die Zeit und Energie, die wir dafür benötigen, darf nicht von zwei Nebenjobs aufgesogen werden, in die wir mehr Zeit investieren müssen als in das Studium selbst, weil wir es uns sonst garnicht leisten könnten. Zu einem Studium gehören leider auch häufig Missgeschicke und Fehler, aber auch diesen Weg müssen wir gehen, weil er uns Erfahrungen schenken wird, die uns wachsen lassen. Darüber möchte ich in der nächsten Ausgabe etwas erzählen. Vor allem braucht es dafür Zeit und eine große Selbstdisziplin und die ist in jedem studentischen Leben Mangelware. Es ist aber Zeit, die wir uns nehmen und investieren sollten. Immerhin geht es um unsere eigene Zukunft.
Eine Antwort auf „Was wir uns schuldig sind“