„Lebenskrise für Studenten mit zu viel Zeit“

Das Hans-Otto-Theater (HOT) feierte am Freitag, dem 2. Februar, die Premiere des Stückes „Verbrechen und Strafe“ von Dostojewski. Der Regisseur Alexander Nerlich, der schon „Peer Gynt“ und „Die Netzwelt“ auf der Potsdamer Bühne inszenierte, ließ sieben Schauspieler_innen 20 Rollen spielen. „Ich mag es, wenn alle Schauspieler einer Produktion viel zu tun haben, und ich finde es sehr wichtig, als Team zu arbeiten“, so begründet Nerlich seine Doppelbesetzung in einem Interview des HOT. Von Nora Schneider und Eileen Schüler.

„Ist denn Krieg besser als nur ein einzelner Mord zum Wohle der Menschheit?“ Für den mittellosen Studenten Rodion Romanowitsch Raskolnikow (Eddie Irle) steht fest, dass ein außergewöhnlicher Mensch mit einer Menschen rettenden Idee nicht nur das Recht sondern die Pflicht hat gewisse Hindernisse und Grenzen zu überschreiten, wie beispielsweise um einen Mord zu begehen.

Die Pfandleiherin Iwanowna (Andrea Thelemann) ist eine gierige alte Frau und Rodion sieht die Lösung der Armut, die er um sich herum wahrnimmt in ihrem Tod. Denn für ihn ist ein Verbrechen relativ, von den Umständen abhängig und geschieht als Protest gegen die Gesellschaft und sozialen Verhältnisse. Der Mord gelingt, doch anstelle das Geld zu verwenden, wird er zunehmend von Gewissensbissen geplagt, findet sich in einer Falle aus Schuldgefühlen wieder und fühlt sich gejagt, von Gesprächen über den Mordvorfall und seinen eigenen Gedanken. Als seine Mutter und die Schwester nach Sankt Petersburg zu Besuch kommen ist er ihnen gegenüber mürrisch, kalt und aggressiv. Auch seinen Freunden ist die Veränderung auffällig.

Währenddessen ist der Ermittlungsrichter, Porfirij Petrowitsch, ihm dicht auf den Fersen. Allerdings gibt es keine Beweise, die den Täter überführen würden. Doch die lebenslange Strafe sei schon allein, dass der Mörder mit seinem schlechten Gewissen leben müsse. Moritz von Treuenfels spielt den Ermittlungsrichter mit viel Witz und Ironie und versucht charmant dem Mörder die Wahrheit zu entlocken.

Erschlagende Eindrücke

Ein eindrucksreicher Abend mit viel Abwechslung, welche in allen Elementen des Stücks zum Ausdruck kommt. Das sich ständig drehende und sehr wandlungsfähige Bühnenbild kommt eigentlich nie zur Ruhe, denn mit jeder Szene ändert sich auch die Kulisse. Ob eine Wand mit eingebautem Kühlschrank, Waschmaschine und Türen, eine Telefonzelle oder ein Büro auf Rollen, das drehend den Schwindel unserer Hauptfigur verdeutlicht. Die Flut an neuen Elementen in jeder Szene nimmt kein Ende.

Durch eine kühle Lichtgebung und Nichtfarben wird eine triste und trostlose Stimmung verbreitet. Die immer wiederkehrenden Risse und Brüche in der Kulisse, spiegeln die inneren Zerrissenheit Rodions wieder, die der Schauspieler, Eddie Erle, hervorragend darstellt. Wirkungsvoll werden seine Zwiegespräche und sein zunehmend verwirrter Zustand zum Ausdruck gebracht, durch hinterfragende Telefonanrufe, Gedankenabrisse und Stimmen aus dem Off. Der Protagonist wandelt zwischen bösen Träumen und der Realität.

Unterstützt wird die Wirkung durch Musik und Geräusche, beispielsweise ein rastloses Klopfen, dass sich durch die ganze Szene zieht und den getriebenen Zustand des Hauptcharakters verdeutlicht. In anderen Szenen verbreitet die kaum hörbare Musik eine bedrückende Stimmung und lässt Gespenster aus allen Ritzen dringen.

Außerdem nehmen auf der Bühne erzeugte Klänge Bezug auf das Gesagte. Dadurch wird die Atmosphäre umso plastischer und eindringlicher, da die ganzen Geräusche die Imagination weiter anregen.

Glauben aus Verzweiflung?

Eine Nebenhandlung des Stückes ist die Liebesbeziehung zwischen Rodion und Sonja. Sie ist ein junges Mädchen, das sich wegen Geldnöten ihrer Familie prostituieren muss. Durch das starkgeschminkte Gesicht, die rothaarige Perücke und das schwarze Kleid wirkt Sonja, gespielt von Nina Gummich, verloren und ihr Blick entrückt von dieser Welt. Im Grunde ihres Herzens ist sie ein unschuldiges Mädchen, nur durch die Ausübung der Prostitution ist sie schmutzig und verdorben. Das Einzige was sie noch am Leben hält, ist der katholische Glaube. Rodion stattet Sonja ein paar Mal einen Besuch ab. Als sie sich wünscht, dass ihre Stiefmutter Katerina Iwanowna sterbe, bekreuzigt sie sich schnell und stranguliert sich mit einem Seil für ihre Sünde. Der Atheist Rodion schaut entgeistert zu und versucht ihr zu erklären, dass es keinen Gott gebe. Später gesteht er ihr seine Mordtat an der Alten und Lisaweta. Daraufhin wäscht sie ihn energisch von den Sünden rein, erklärt ihm, dass Lisaweta und sie das Kreuz getauscht haben und überredet ihn zur Stellungnahme und zum christlichen Bekreuzigen. In Sonjas Auffassung hat nur Gott die Macht zu richten, während Rodion allein über sich selbst entscheidet, erst hält er sich für außergewöhnlich, dann erträgt er sich aufgrund der grausamen Tat selbst nicht.

Das breite Wirkungsspektrum ergreift und lässt einen die Verzweiflung und die Trostlosigkeit spüren.

Figurenverschmelzung

Die Intention des Regisseurs war eine Figurenverschmelzung, die durch die geringe Schauspielerbesetzung hervortreten sollte. Dies ist jedoch auch innerhalb einer Figur gelungen. Arkadij Iwanowitsch Swidrigajlow (Moritz von Treuenfels) ist der Gutsbesitzer, bei dem Rodions Schwester Dunja als Gouvernante gearbeitet hat. Er ist verliebt in sie und ebenso viele Laster auf dem Gewissen wie Rodion. „Warum sind Sie immer da, wo ich bin?“, fragt ihn der Jura-Student. Im Laufe des Stückes taucht ihm der unheimliche Mann mehrere Male auf und es hat den Anschein als wäre Arkadij eine dämonische Gestalt, die den Mörder begleitet und nicht mehr loslässt. Dadurch weiß das Publikum nicht mehr, ob der Gutsbesitzer noch eine richtige Person oder ein Monster ist. „Gespenster sind Bruchstücke anderer Welten“, sagt Arkadij.

Düstere Inszenierung mit Leichtigkeit

Trotz der düsteren Thematik und der tiefen Wirkung fehlt es der Inszenierung nicht an einer gewissen ab und zu durchschimmernden Mühelosigkeit. Auch von Seiten des Publikums gibt es immer wieder belustigte Reaktionen. Ob nun nach einer ergreifenden Szene eines Familienkonflikts der halb betrunkene Doktor die Diagnose stellt „Lebenskrise für Studenten mit zu viel Zeit“ in der sich Rodion befinden, oder nach einem verstörenden Mord die Tote die Situation mit Kommentaren oder Gelächter ein wenig auflockert. Insgesamt hinterlässt das Stück von Nerlich nicht nur die tiefe, eindrückliche, melancholische Wirkung sondern auch eine gewisse Leichtigkeit, die man nicht erwartet hat.

„Verbrechen und Strafe“ wird am 10.,11, 28. Februar und am 9. und 25. März im Hans-Otto-Theater aufgeführt.

 

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert