Jenseits des Dnjestr

Anfang September feierte man in Transnistrien die eigene Unabhängigkeit, die seit nunmehr 27 Jahren besteht. Der Rest der Welt sieht das anders. Unterwegs in einem Staat, den es offiziell nicht gibt. Ein Reisebericht, Teil 2. Von Dario Planert.

Ich war noch nie im Disneyland. Als Kind durfte ich nicht, und heute will ich nicht mehr. Bis vor kurzem sprach sehr viel dafür, dass ich in diesem Leben niemals mehr die authentische Disneyland-Erfahrung machen würde, bis sich mir Anfang September eine Möglichkeit zum Ausgleich bot. Und zwar weit, weit weg von Paris. Aber in Europa.

Ein Land, zwei Unabhängigkeiten

Nationalfeiertage gehören zur Nation, wie der Herpes auf die Oberlippe. Die Gründe für die Landesparty variieren. Absolute Evergreens sind Staatsgründungen, Militärische Heroismen, Wiedererlangung vermeintlich historischer Einheit, Unabhängigkeit von Faschisten/Kommunisten/Kolonialisten, zu den ausgefalleneren Anlässen gehört beispielsweise die massenhafte Fluchthilfe aus einem Hochsicherheitsgefänfnis. Die Republik Moldau gehört, wie viele ehemalige Teilrepubliken der Sowjetunion, zur Gruppe derjenigen, die ihre Unabhängigkeit von der Zentralmacht in Moskau feiert. Dies geschieht jährlich am 27. August. Merkwürdigerweise werden die selben Feierlichkeiten kaum eine Woche später, nur anderthalb Zugstunden von Chișinău entfernt, noch einmal begangen. Menschen, die sich öffentlich als Angehörige der Republik Moldau identifizieren würden, wird man hier schwerlich antreffen. Denn am 2. September feiert die „Pridnestrowische Moldauische Republik“, kurz Transnistrien, ihre Unabhängigkeit in der eigenen Hauptstadt Tiraspol. Doch hinter all den Feierlichkeiten, all dem Pomp, lässt sich ein kleiner Schönheitsfehler nicht retuschieren. Transnistriens Problem ist, dass es weltweit von nicht einem einzigen Staat anerkannt wird. Und trotzdem verfügt die Moldauische Zentralmacht über keinerlei Gewalt auf diesem Gebiet. Denn Transnistrien hat im Grunde alles, was man so braucht, um seine Unabhängigkeit mit Nachdruck zu vertreten: Eigenes Militär, befestigte Grenzposten, Polizei, einen Geheimdienst („KGB“) und ein Parlament („Oberster Sowjet“). Man nennt Transnistrien „de-facto unabhängig“, ein Wörtchen, dass es in sich hat.

„Die Tragödie von Bendery“ – Ein Besuch in Transnistriens zweitgrößter Stadt

Die erste Etappe unserer Reise führt nach Bendery, Transnistriens zweitgrößter Stadt. In die Augen stechen vor allem die bemerkenswert sauberen Straßen der Innenstadt und die bereits festliche Aufmachung für den kommenden Tag der Unabhängigkeit. Es gibt zunächst einmal keinen Hinweis darauf, dass es um diese Stadt materiell schlechter bestellt ist, als um Chișinău. Auf einem hellen Boulevard flanieren Familien, Priester und Jugendliche. Vor der heißen Mittagssonne kann man in Alleen fliehen, in denen unter dichtem, grünem Blattwerk Bänke zum Ausruhen einladen. Am Ufer des Dnjestr erhebt sich die historische Festung, ehemals uneinnehmbares Bollwerk gegen die Osmanen. Aber schon wenige Meter außerhalb des Zentrums beginnen die Fassaden an Charme zu verlieren, bis sie irgendwann nur noch baufällig sind. Verfallene Einkaufszentren und Wohnhäuser. Straßenschilder, Filmplakate und alle anderen Texte im Öffentlichen Raum sind nun ausschließlich mit kyrillischen Buchstaben gefüllt. Amtssprache hier ist Russisch. Alles Rumänische scheint verschwunden.

Geplant ist ein Besuch im „Museum der Tragödie von Bendery“, das aus zwei Räumen besteht und mich an eine Einrichtung erinnert, die ich einmal in Teheran besucht habe. Sein Name klang in etwa wie: „Museum der patriotischen Märtyrer, die ihr Leben im Kampf gegen die irakischen Invasoren verloren“ und bestand hauptsächlich aus Einzelschicksalen gefallener iranischer Soldaten des Ersten Golfkrieges, patriotischen Losungen und Bildern schrecklich zugerichteter Leichen. „Das Museum der Tragödie von Bendery“ befindet sich angeblich in dem Raum, in dem verwundete Freiwillige einst verarztet wurden, besteht aus Zeitungsartikeln des Jahre 1992 sowie den Porträtfotos im Kampf um Bendery Gefallener. In einer Ecke hat man versucht den Gebäudeschaden durch schwere Artillerie nachzustellen, indem man einige zerborstene Holzscheite übereinandergeworfen und einen Fensterrahmen darüber gehängt hat. Im Angesicht des Zustandes der Stadt wirkt das eher wie ein Antiklimax. Im Juli 1992 wurde Bendery zum Schauplatz eines erfolglosen Versuches des Moldawischen Militärs, die Kontrolle über Transnistrien wiederzuerlangen. Bei den Kämpfen starben mehrere hundert Menschen, während des gesamten Konfliktes etwa 1000. Im „Museum der Tragödie von Bendery“ ist von einem Genozid die Rede. Auf die Frage, ob dies ein offiziell anerkannter Völkermord sei, verneint der Museumsangestellte. Ein „russisches Institut“ habe die Tötungen jedoch als solchen klassifiziert. Wie verlässlich die Expertise gewisser russischer Institute ist, wird anhand des Falles Juri Dimitriew besonders anschaulich.

Jenseits des Dnjestr

Die Geschichte des Transnistrien-Konfliktes beginnt schon während der Perestroika. In den Teilrepubliken der Sowjetunion bilden sich nationalistische Bewegungen, die ihre  Unabhängigkeit von Moskau anstreben. Da schon zu Zeiten des russischen Imperiums mit der Russifizierung der fremdsprachigen Peripherie des Reiches begonnen wurde, existiert zu Beginn der 1990er in vielen neuen Staaten eine nicht geringfügige russischsprachige Minderheit, die nun Opfer von Anfeindungen wird und Befürwortern der nationale Einigkeit ein Dorn im Auge ist. Das Gebiet Transnistrien ist ein Zentrum der russischsprachigen Bevölkerung in der Teilrepublik Moldau. In der Einführung des Rumänischen als einzige Amtssprache bei gleichzeitiger Annäherung an Rumänien, sowie lautwerdenden Forderungen nach der Ausweisung aller Russischsprachigen sieht man eine eine massive Bedrohung der eigenen Existenz, woraufhin es zu Protesten in der russischen Minderheit kommt. Nach der kurzzeitigen Eroberung Benderys durch Moldauische Truppen und die Rückeroberungen durch transnistrische Freiwilligenmilizen einigt man sich auf einen Waffenstillstand, der bis heute anhält. Transnistrien bzw. seine russische Selbstbezeichnung Pridnestrovije bedeutet nicht mehr als „Jenseits des Dnjestr“, des Grenzflusses, der es von der Republik Moldau trennt. Seine Fläche umfasst etwa die des Landkreises Uckermark.

Disneydollars und Billig-Vodka

Das Paradoxon der nicht anerkannten aber de-facto-Unabhängigkeit, äußert sich daran, dass jeder Einreisende zwar an der Grenze seinen Pass vorzeigen- und gegebenenfalls ein Einreiseformular ausfüllen muss, jedoch keinen Stempel in den Pass erhält. Vertreter Transnistriens werden im Ausland niemals von den entsprechenden Repräsentanten der Gegenseite empfangen, sondern von Beamten untergeordneten Ranges und schon gar nicht in Regierungsgebäuden. Das Schöne am Transnistrischen Rubel ist, dass man damit eine Packung Barilla-Spagetti für umgerechnet 70 Cent und eine Flasche Vodka für 60 Cent kaufen kann. Wer aber den Fehler macht, mit Transnistrischen Rubeln im Portemonaie die Grenze nach Moldawien zu überqueren, der hat im selben Moment nur noch ein Bündel lustig bunter Disneydollar in der Tasche. Denn keine Bank der Welt wird einem die Scheine in eine andere Währung wechseln.

Diese Scheinstaatlichkeit existiert nicht nur in Transnistrien. Es gibt, über den halben Globus verteilt mehrere staatsähnliche Gebilde ohne- oder nur mit teilweiser Anerkennung durch die UN-Mitgliedstaaten. Dazu gehören etwa die selbsternannte „Republik Somaliland“ oder der Kosovo. Unter den ehemaligen Sowjetrepubliken haben sich gleich vier solcher Konstrukte herausgebildet: Neben Transnistrien noch die „Republik Abchasien“, die „Republik Südossetien“ (Beide auf Georgischem Gebiet) und die „Republik Bergkarabach“ (Teil des heutigen Aserbaidschan). Noch umstritten ist der Status der selbsternannten „Volksrepubliken Donezk und Lugansk“ in der Ostukraine. Diese vier haben sich sogar in einer Internationalen Organisation zusammengeschlossen – der Gemeinschaft nicht-anerkannter Staaten.

„Alles was Beine, Krücken oder Räder hat, hat sich auf der Hauptstraße versammelt“

Am Morgen des 2. Septembers fahre ich mit dem Achtuhrfünfzehn-Zug Richtung Odessa nach Tiraspol. Bei der Registrierung am Bahnhof kommt es zu einer kurzen Diskussion mit den Grenzbeamten über Unklarheiten bei unserer letzten Einreise. Dabei wird mir für einen kurzen Moment ein bisschen heiß. In einem transnistrischen Knast zu landen, bedeutet, es sich für eine Weile einrichten zu können. Eine deutsche Botschaft gibt es hier nicht und die Verhandlungen dürften sich, ob oben genannter Hindernisse, schwierig gestalten.

Zehn Uhr. Tiraspols Straßen sind leer, wie die einer Geisterstadt. Alles, was Beine, Krücken oder Räder hat, hat sich auf der Hauptstraße versammelt, wo soeben die Militärparade beginnt. Balkone, Treppen und Statuen sind von Menschen besetzt, die beobachten, wie makellos gereihte Soldatentrupps aus der Ferne auf den Hauptplatz zu marschieren, unter den gebrüllten Kommandos irgendeines Befehlshabers kurz vor der Menge nach links abbiegen, die Formation variieren, noch einmal nach links abbiegen um wieder in der Ferne zu verschwinden. Am Rand der Hauptstraße ist eine Tribüne aufgebaut worden, auf der prominente Vertreter der Staatsgewalt, sowie der Kirche stehen. Unter ihnen, in zivil, ist auch Igor Smirnow, von 1992 bis 2011 Präsident und Schlüsselfigur der transnistrischen Unabhängigkeitsbewegung. Irgendwann hält eine Kolonne in der Mitte des Paradeplatzes, gegenüber der Tribüne, und führt eine Reihe von Formationen in beeindruckender Geschwindigkeit durch. Auf der riesigen Paradestraße, umschlossen von der Menschenmasse, wirken die wenigen Marschierenden  wie ein Grüppchen Zinnsoldaten.

Zehn Uhr Fünfundvierzig. Der letzte Ton der Militärkapelle klingt aus. Am Rande der Paradestraße macht sich ein buntes Grüppchen bereit für seinen Auftritt. Es folgt die Parade „Energie der Jugend“. Sie besteht aus Kindern und Jugendlichen, die Ältesten etwa 18 oder 19, die Jüngsten wirken, als hätten sie vor nicht allzu langer Zeit das Laufen gelernt. Eine Gruppe Ballerinas zieht ein winziges Mädchen hinter sich her, dass noch etwas wacklig auf den Beinen wirkt. Der Paradeplatz füllt sich nun mit Jungen und Mädchen in traditionellen Trachten und mit Fahneträgern. Abwechselnd rennen Jungen in Basketballtrikots und in Baseballoutfits an den Tänzern vorbei, werfen sich einige Bälle zu und verschwinden wieder. Plötzlich taucht eine Reihe Renneradler auf, die, Fahnen am Hinterrad befestigt, die Parade umkreisen. Aus den Lautsprechern zählt eine begeisterte Männerstimme die Errungenschaften um die Jugend auf, preist deren Sportlichkeit und die steigenden Geburtenraten. Jetzt laufen vier junge Frauen auf den Platz und tragen direkt vor der Bühne irgendein traditionelles Lied vor, dass von einer Mischung aus elektronischen Bässen und Balalaika begleitet wird. Dabei winken sie den uniformierten Männern immer wieder zu und kreisen mit den Hüften. Die wiederum lächeln und gönnerhaft zurück, manche klatschen im Takt. Die Wahrheit hinter all dem suche man am besten in den verkniffenen Mienen der Fahnenträger.

„Moderatorenstimmen überschlagen sich bei der Preisung des Vaterlandes, dem sie alles verdanken“

Etwa 45 Minuten später ist das Spektakel vorbei. Die Menge verlagert sich in die Seitenstraßen, wo jede Region Transnistriens ihre eigene, kleine Präsenz hat und ihre Einzigartigkeit anpreist. Die ist mit dem bloßen Auge schwer auszumachen. Der Schwerpunkt liegt offenbar auf der Darstellung Transnistrien als Hort der ethnischen Vielfalt um diesem Flecken Erde wenigstens einen Hauch überregionaler Bedeutung zu verleihen. Moderatorenstimmen überschlagen sich bei der Preisung des „Vaterlandes“, dem sie alles verdanken. Die Straßenlaternen sind abwechselnd in transnistrischen (rot-grün) und russischen Farben geschmückt. 2006 förderte ein Referendum 98 Prozent Zustimmung zu einem Anschluss Transnistriens an die Russische Föderation zu Tage. Von russischer Seite aus stieß dies offenbar auf verhaltene Begeisterung. Trotzdem sind nach wie vor über tausend russischer „Friedenstruppen“ in dem Gebiet stationiert. Der Geheimdienst, wird mir berichtet, hat sich dieses Jahr merklich zurückgehalten. Unter den Zuschauern waren sichtbar viele ausländische Journalisten, die ungehindert fotografierten. Vor einigen Jahren habe das noch die Aufmerksamkeit von KGB-Offizieren auf sich gezogen, auch mal zu einem kleinen Verhör geführt. Auch von Seiten der Moderatoren ertönen immer wieder überschwängliche Willkommensgrüße an die ausländischen Gäste der Hauptstadt. Will Transnistrien der Welt etwas sagen?

Eine Realität für sich

Als Ausländer müssen wir um spätestens 21 Uhr ausgereist sein. Der Bus am Hauptbahnhof fährt in den frühen Abendstunden ab. Noch einmal den Männern und Frauen in den Fantasieuniformen den Pass vorzeigen, dann ist man wieder…in der Realität? Es liegt nicht fern, Transnistrien mit dem Disneyland zu vergleichen. Beides versteht sich in – na gut, entferntem Sinne– als Land, beides kontrolliert seine Grenzen mit Wachpersonal und beides verteilt Spielgeld an seine Besucher. Beides macht zu einem gewissen Grade Spaß, bis man mit dem Sicherheitspersonal aneinandergerät und in beidem laufen eine Menge Männer mit lustigen Hüten herum. Nur die Schusswaffen, mit denen die Soldaten am Ende der Parade eine letzte Salve gen Himmel feuern, holen einen für einen Moment zurück auf den unbequemen Boden der Realität. Denn die sind echt.

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