Die Geisteswissenschaften, oder auch “Humanities” genannt, stehen nicht immer im besten Licht. Fragen wie “Was macht man denn damit?” oder “Wozu braucht man das?” sind an der Tagesordnung. Daher ist es für Studierende dieser Fachrichtungen ratsam, sich ein dickes Fell anzulegen und den ein oder anderen Konter für provokante Bemerkungen parat zu haben. Doch was ist an diesen Vorwürfen eigentlich dran? Von Leon Urban.
“Humanities hinterfragen und verkomplizieren nur einfache Tatsachen!”
Die Humanities werden oft als “Laberfächer” abgetan, die angeblich weniger zur Wirtschaft und Entwicklung beitragen als andere Fachrichtungen. Dieser pauschale Vorwurf wurde tatsächlich einst selbstkritisch in der Philosophie diskutiert, insbesondere mit der Gründung des Wiener Kreises – ein Zusammenschluss von Wissenschaftlern und Philosophen, die neue philosophische Ideen entwickelten. So merkten einige Philosophen des Wiener Kreises an, dass die Philosophie gewissermaßen stagniere, weil sie uralte philosophische Fragen bis heute ohne nennenswerte Fortschritte diskutiert, während sich andere Disziplinen kontinuierlich weiterentwickeln, Krankheiten heilen oder wertvolle Technologien entwickeln. Allerdings sind die Ansichten des Wiener Kreises bis heute umstritten und angesichts der Vielfalt der Geisteswissenschaften sowie der damit verbundenen beruflichen Perspektiven erscheint die Bezeichnung “Laberfach” mehr wie eine vereinfachte Herabsetzung als ein zutreffender Kritikpunkt.
Doch stimmt es zumindest, dass die Philosophie offensichtliche Fakten unnötig verkompliziert und immer nur alles infrage stellt? Dieser Vorwurf basiert auf einem völligen Missverständnis bezüglich der eigentlichen Tätigkeit der Philosophie. Zwar wirft die Philosophie zweifellos zahlreiche Fragen auf und enthüllt dadurch oft, dass wir weniger wissen, als es scheint. Denn vieles, das auf den ersten Blick simpel und eindeutig erscheint, erweist sich oft bei näherer Betrachtung als deutlich komplexer. Allerdings wissen viele nicht, dass die Arbeit der Philosophie – abgesehen von einigen Sophisten oder radikalen Skeptikern, bei denen der menschliche Irrtum den Kern der Philosophie ausmacht – damit noch lange nicht getan ist!
Die Kunst der Philosophie besteht nämlich darin, auf große Fragen kategorische Antworten zu finden oder zumindest Stellung zu beziehen und einen wertvollen Beitrag zu bereits bestehenden philosophischen Positionen zu leisten. Somit stellt das stetige Infragestellen und Verkomplizieren nur die Vorstufe des Philosophierens dar, um das bestehende Wissen in ein neues Licht zu rücken. So ist es zum Beispiel wichtig, um eine moralisch gute und richtige Entscheidung zu treffen, zunächst erstmal herauszufinden, was genau unter “moralisch gut” überhaupt zu verstehen ist.
Das tatsächliche Philosophieren beginnt jedoch erst im nächsten Schritt, indem der Versuch einer Beantwortung dieser fundamentalen Frage unternommen wird. Daraus resultieren häufig auch praktische Implikationen. Ob Umweltschutz, Diversität oder soziale Gerechtigkeit – viele gesellschaftliche, wirtschaftliche oder auch politische Entscheidungen und Trends stammen ursprünglich aus philosophischen und geisteswissenschaftlichen Überlegungen.
“Humanities sind praxisfern, irrelevant und vermitteln keine brauchbaren Fähigkeiten!”
Zu diesen Klischees lässt sich zuallererst entgegnen, dass sie sich allesamt auch auf unzählige andere Studiengänge übertragen lassen. So ist es beispielsweise für studierte Biologen außerhalb ihres Fachbereichs in der Lehre oder Forschung ebenfalls kein leichtes Spiel, basierend auf diesem sehr theoretischen Studium einen Job zu bekommen. Dies wird auch von einigen Plattformen für Studiengangberatungen bestätigt. Doch unabhängig davon will ich als Bildungswissenschaftler (B.A.), der sich im Master auch ausgiebig dem Thema “Future Skills” widmet, einmal ganz grundlegende Fragen zu vermeintlich „brauchbaren Fähigkeiten“ stellen, die das vorherrschende Bild in ein neues Licht rücken könnten und die jede:r für sich selbst beantworten kann.
Was sind überhaupt brauchbare Fähigkeiten?
Welche Rolle spielt auf dem großflächigen Arbeitsmarkt im Zeitalter von Digitalisierung und stetigem Wandel noch reines Fachwissen? Ist es angesichts von jederzeit abrufbaren Suchmaschinen und virtuellen Lernangeboten nicht wichtiger, sich selbstständig neues Wissen aneignen zu können sowie das Gelernte in die Praxis zu transferieren, als nur starres Fachwissen zu haben, das sich mit einem Klick im Internet in deutlich größerem Umfang und in höherer Qualität abrufen lässt? Wie steht es um wichtige Basiskompetenzen, die einen befähigen, mit digitalen Medien umzugehen und sich stetig an neue Herausforderungen anzupassen sowie sich in neue Themen einzudenken? Ist es aufgrund einer stetig wachsenden Informationsvielfalt nicht auch wichtig zu wissen, wo man bestimmte Informationen recherchiert und wie man diese anschließend bewerten und interpretieren muss?
Ist es hinsichtlich intelligenter KI-Lösungen nicht viel wichtiger, sich auf die Fähigkeiten zu stützen, die nicht durch künstliche Intelligenz effizienter substituiert werden können? In Zeiten, in denen KI-gestützte Computer die besten menschlichen Schachspieler besiegen und schon die einfachsten Suchmaschinen jeden menschlichen Quiz-Profi in die Tasche stecken, scheint die unangetastete intellektuelle Überlegenheit des Menschen angefochten zu werden. Ist es nicht genau aus diesem Grund wichtig, die aus künstlicher Intelligenz gewonnenen Informationen kritisch reflektieren und einordnen zu können?
Wie steht es eigentlich um das Fundament von Innovation – der Kreativität? Insbesondere in puncto Kreativität haben verschiedene Studien gezeigt, dass diese mit zunehmendem Alter abnimmt. Darunter fällt auch die bekannte Längsschnittstudie von George Land, die ab 1968 über mehrere Jahre hinweg Kreativitätstests mit Kindern durchgeführt hat, die auch von NASA-Mitarbeitern verwendet wurden. Die Studie konnte nachweisen, dass 98% der Fünfjährigen das erforderliche Maß an Kreativität für die NASA besitzen, während nur noch 2% der über 25-Jährigen dies aufweisen. Erscheint vor diesem Hintergrund eine gezielte Förderung von kreativem Denken an den Hochschulen nicht besonders relevant?
Wie steht es um Soft Skills wie soziale und kommunikative Fähigkeiten? Obwohl die menschliche Intelligenz individuell messbar ist, kommen zivilisatorische Fortschritte und große Innovationen nur zustande, wenn Menschen sich in Gruppen organisieren. Ob die ägyptischen Pyramiden, die Mondlandung oder der Ausbau des Internets, fast alle bewundernswerten Errungenschaften wurden kollektiv entwickelt und nur selten von einem einzelnen Individuum. Auch ist es nur schwer vorstellbar, dass eines Tages all die wertvollen zwischenmenschlichen Kompetenzen von künstlicher Intelligenz abgelöst werden. Selbst wenn die Vorstellung eines KI-Roboters, der soziale Konflikte klärt und für eine charismatische Ausstrahlung sorgt, verführerisch erscheint.
Sind es nicht die sozialen und kommunikativen Kompetenzen, die dazu beitragen, sich in einem Arbeitsteam gut zurechtzufinden? Welche Bedeutung haben diese Soft Skills im Vergleich zu einem Zeugnis voller Einser-Noten, das hauptsächlich Einzelleistungen in einer hochkompetitiven Umgebung spiegelt, die häufig aus einem “bulimieartigen Auskotzen” von schnell angelesenen Fakten bestehen? Zumindest scheinen parallel zu den kognitiven Fähigkeiten auch die zwischenmenschlichen Soft Skills nicht ganz irrelevant zu sein.
Brotlose Kunst oder Herzstück der Zukunft?
Mit all diesen Fragen im Hinterkopf lenkt sich unser Blick nun auf die Humanities. Wenn schon der Großteil der Naturwissenschaften nach wie vor den Fokus auf das Faktenwissen richtet und an althergebrachten Methoden und Kompetenzen festhält, vermitteln dann wenigstens die Humanities andere Fähigkeiten?
Grundsätzlich lässt sich dazu vermutlich nur sagen: So stark, wie sich die Humanities dann doch voneinander unterscheiden, so unterschiedlich fällt auch die Antwort auf diese Frage aus. Allerdings kann ich aus eigener Erfahrung bestätigen, dass viele dieser Fähigkeiten in einigen Humanities stark gefördert werden. So wird beispielsweise in der Philosophie sehr viel Selbstständigkeit und thematische Flexibilität abverlangt, da immer wieder die Aneignung von neuem relevantem Fachwissen und das kritische Reflektieren von Informationen und Argumenten erforderlich ist. Darüber hinaus folgt anschließend meist noch eine philosophische Analyse der Thematik auf Metaebene. Demnach schult das Philosophiestudium sowohl das flexible Einarbeiten in unbekannte Themen als auch wertvolle rhetorische und argumentative Kompetenzen.
Zudem werden in vielen Humanities selbst mathematische und analytische Fähigkeiten
vermittelt. So spielen beispielsweise die formale Logik in der Philosophie oder auch die
Statistik in vielen Sozialwissenschaften eine besondere Rolle. Generell steht zwar auch in den Humanities das abstrakte Denken im Vordergrund, jedoch integrieren sie verstärkt auch soziale, ethische und kommunikative Aspekte in ihre Studieninhalte. Dadurch fördern sie ein umfassenderes Verständnis für die menschliche Kultur, Gesellschaft und Ethik im Vergleich zu vielen anderen Studiengängen.
Somit lässt sich festhalten, dass das Studium von Humanities, entgegen allen Klischees,
definitiv keine Zeitverschwendung bedeutet und eine Menge wertvolle Kompetenzen
vermitteln kann. Diesen Wert scheinen zum Glück auch immer mehr Unternehmen
anzuerkennen. So zeigt eine Statistik von 2022, dass 99% aller Philosophieabsolventen auch
noch zehn Jahre nach ihrem Studium in einem festen Beschäftigungsverhältnis stehen. Folglich scheint ein Philosophiestudium den Weg in ein erfolgreiches Berufsleben zumindest
nicht massiv zu behindern. Auch in anderen Humanities stehen die Chancen auf einen nahtlosen Übergang in den Arbeitsmarkt besser, als es dem negativen Ruf vorauseilt.
Demnach lässt sich der Vorwurf der brotlosen Kunst weitestgehend zurückweisen, da die Humanities oft zu Unrecht unterschätzt werden und häufig unter oberflächlichen Klischees als unter tatsächlich zutreffenden Kritikpunkten leiden. Ob jedoch das Herzstück der Zukunft tatsächlich in den Humanities liegt, mag ich nicht beurteilen. Da jedoch viele der zukünftig relevanten Fähigkeiten, wie Kreativität, Selbstlernkompetenz oder auch soziale und
kommunikative Fertigkeiten, in den Humanities gefördert werden, erscheint es meiner
Meinung nach zumindest nicht völlig ausgeschlossen!
Hallo Leon,
ich hätte versucht die Argumente an einem Beispiel noch sichtbarer zu machen: z.B. anhand der Sterbehilfe, Tierexperimenten, Forschung im Dienste der Rüstung etc.. Aber grundsätzlich stimme ich dir zu! LG-Sathyam