Der kleine MUKS – Teil 5: Mise-en-Scène

Ein Blick auf unser Inszeniert-Sein und das aberwitzige Verlangen nach vermeintlicher Perfektion. Eine Kolumne von Lisa Spöri.

Manchmal läuft man durch diese Welt und ist erstaunt, dass es niemandem auffällt. Ehrlich. So unbeholfen und ratlos wie man sich hin und wieder durch sie bewegt, muss man doch unangenehm ins Auge stechen. Aber nein. Blickt man sich um, dann sieht man schnell, dass eigentlich niemand so richtig ins Bild passt. Wir alle heben uns mehr oder weniger krumm und schief vom Erdboden ab. Wir passen ins Bild, weil wir es nicht tun, sind häufig eher schräg in Szene gesetzt, deplatziert oder nur flüchtige Gesichter einer Momentaufnahme.

Dass die Welt reich an ungesunder Ästhetik ist, das haben wir mittlerweile alle begriffen. Aber wir setzen uns trotzdem gerne in Szene, nach allen Regeln der Kunst. Es macht ja auch Spaß. Aber wo hört der Spaß auf? Dort wo Werbeplakate und Selfies vorgeben, mehr als eben nur Werbeplakate und Selfies zu sein? Richtig, in der Realität! Nein, falsch! In der Realität fängt der Spaß doch erst gerade an!

Makel machen menschlich

Ich habe da eine Angewohnheit. Wenn ich unterwegs bin – und am liebsten tue ich es heimlich, wenn ich morgens in der U-Bahn sitze, wo die Leute noch mit halbgeschlossenen Augen oder Zahnpasta im Mundwinkel (oder was das auch immer sein mag) da sitzen – dann beobachte ich all die Fremden und suche ihre Ecken und Kanten, ihre Chics und Wows und Miaus! Soll heißen: Ihre Absonderlichkeiten.

Und stelle mir vor, dass jemand sie genau wegen diesen besonders liebt. Bei jedem Menschen werde ich fündig. Jeder hat einen einzigartigen liebenswürdigen Makel. Bei mancher ist es eine Zahnlücke oder ein markanter Nasenflügel, bei manchem der Schnurrbart oder der Dackelblick. Von herrlich überzeichneten groben Zügen, bis zu großen Händen – es ist so, dass alles schon dabei gewesen ist. Das liebte ich an dieser Person und dieses an jener.

Dynamisch inszeniertes Leben

Fernab von unseren virtuellen Identitäten sind wir nämlich bereits in Szene gesetzt. Allerdings willkürlich, das heißt, wir stimmen unter Umständen nicht mit Schönheitsideal X/Y überein. Aber hier wird es spannend. Unsere Gesichter sind quadratisch und eckig, haben Makel und Flecken. Sie sind schön, weil sie asymmetrisch auf Schultern sitzen und manchmal schief lächeln und ihre Münder nur dünne Striche sind. Weil sie echt sind und wie Gemälde von Picasso. All das ist nicht perfekt, aber schön. Unser Herz pumpt Blut durch unseren Körper und die Lunge den Sauerstoff und auch wenn wir reglos in der Bahn sitzen, jagt unser Gehirn rastlos seinen Gedanken hinterher. Wir sind schön, weil wir in konstanter Bewegung sind. Das reale Leben ist dynamischer inszeniert als jedes Werbeplakat.

Der Mensch sollte nicht an seiner Inkongruenz mit gängigen Idealen verzweifeln. Nein, denn nicht wir sind es, die nicht kongruent mit den Idealen sind, sondern das Ideal ist es, das der Fülle der menschlichen Schönheit nicht gerecht wird. Fakt ist, dass ich den Leuten, wenn ich sie in der U-Bahn beobachte, gleichzeitig auch gewisse liebenswürdige Eigenschaften zuschreibe. Große Münder, riesen Zinken, Dackelohren und dergleichen mehr sind nur dann zum Verlieben, wenn der Mensch zu dem sie gehören, von innen schön ist. Sie haben bei mir immer eine symbolische Bedeutung. Das ist es, was sie so schön macht. Aber genauso verhält es sich mit scheinbarer Perfektion. Pralle Hintern, makelloser Teint oder Muskelpakete lassen uns früher oder später kalt, wenn wir herausfinden, dass sie zur größten Dumpfbacke gehören.

Ecken, Kanten, Falten: Schönheit ist Bewegung

Wie schön muss ich sein, damit du mich liebst?“  frage ich meine Freundin Juli aus Jux, als wir morgens vorm Spiegel stehen und uns die Wimpern anpinseln. „Übertreib’s nicht, ja?“ entgegnet sie trocken. Sie kennt mich in- und auswendig, wir gehen seit 20 Jahren durch dick und dünn, im wahrsten Sinne des Wortes. Wir kennen jede die Schlankheitswahn- sowie die ich-bin-so-wie-ich-bin-Phasen der anderen. Und ich kann nicht behaupten, dass unsere Freundschaft kongruent zur Körperfülle gestiegen oder gesunken wäre. Nein, sie hatte schlicht und ergreifend gar nichts damit zu tun. Es sind andere Dinge, die uns schön und perfekt machen. Unsere Makel, unsere Zweifel, unsere ungeschliffenen Ecken. Juli ist sogar schön, wenn sie sich morgens verkatert im Bett aufsetzt, ihre Y-Falte preisgibt und der erste Satz: Alles dreht sich! ist. Weil Schönheit auch Bewegung ist und eben unsere ganz persönlichen Falten.

In einer Welt, in der alles symmetrisch und glatt wäre, würden wir früher oder später verrückt. Das ist eine Tatsache, denn die Schönheit der Menschen liegt darin, dass sie sich bewegende Absonderlichkeiten auf diesem Planeten sind und keine Standbilder mit Duckface. Wir können uns zwar auf sämtlichen sozialen Netzwerken in Szene setzen, aber die Realität schreibt ein anderes Drehbuch. Lebendige Schönheit ist nicht auf ein Selfie, ein Werbeplakat oder eine Kinoleinwand reduzierbar, auch nicht in 3D! Und wer es nicht glaubt, der schalte die Glotze an oder lege sich mit der nächsten Calzedonia Werbung ins Bett und amüsiere sich prächtig!

Du hast die bisherigen Teile des MUsischen KurzSchluss‘ verpasst? Kein Problem. Hier findest du alle Muks-Teile im Überblick.

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