Auf der Welt nichts Neues

Zehn lange Festivaltage liegen hinter dem internationalen Publikum, welches zur 62. Berlinale angereist war, um sich über die aktuellsten Entwicklungen in der Welt der Kinematographie zu informieren. Auf den Internationalen Filmfestspielen lassen sich länderübergreifende Trends ablesen – nicht nur filmische: Das Festival dient als globales Barometer für die Stimmung auf der Welt unserer Gegenwart. Von der Berlinale und den diesjährigen Preisträger_innen berichtet euch Denis Newiak.

Seitdem die Staaten in Europa nach dem „Schwarzen Freitag“ an allen Ecken und Enden sparen, wächst die Armut unter der arbeitenden Bevölkerung stetig an: Immer mehr Menschen – vor allem diejenigen, die ohnehin schon am Hungertuch nagen – verlieren ihre Arbeit und sind auf Almosen angewiesen. Von den Schulden erdrückt, verlieren sie ihre Wohnungen und ihr letztes Hab und Gut, viele werden obdachlos. Polizist_innen versuchen, die Jugendlichen einzufangen, die auf der Straße dahinvegetieren und ihr Leben durch Kriminalität zu meistern versuchen. Immer mehr Menschen werden anfällig für die fremdenfeindliche und menschenverachtende Ideologie der Nazis, die zunehmend an Kraft gewinnen und sich mörderisch radikalisieren. Während Europa zu einem Armenhaus wird und auf einen weiteren Weltkrieg zusteuert, lebt eine absolute Minderheit in unaussprechlichem Luxus – und will immer mehr, was ihr nicht zusteht.

Manche Leser_innen könnten nun denken, der Fokus der 62. Berlinale liege auf der Zeit zwischen 1918 und 1933, als Europa kurz vor dem größten Menschheitsverbrechen aller Zeiten stand. Tatsächlich konnten die Besucher_innen der Internationalen Filmfestspiele in Berlin auf der vielfach gelobten Retrospektive unter dem Titel „Die rote Traumfabrik“ zahlreiche bisher wenig berücksichtigte Filme aus den 20er Jahren sehen, die nicht nur in der Sowjetunion, sondern auch in Deutschland über die Missstände auf der sich rasch wandelnden Welt zu Anfang des 20. Jahrhunderts berichten. Dokumentationen mit Titeln wie „Zeitprobleme. Wie der Arbeiter wohnt“, „Im Schatten der Weltstadt“ oder „Um’s täglich Brot“ zeichnen ein schonungsloses Bild einer Welt, die nun fast 100 Jahre zurückliegt – und in vielen Köpfen als überwunden gilt.

So viel zum Blick in die scheinbar ferne Vergangenheit. Doch auf der Berlinale laufen insgesamt fast 400 Filme – und davon gehört nur ein kleiner Bruchteil zur jährlichen Retrospektive, die sich dieses Jahr den „roten“ kritischen Filmen widmete. Das Erschreckende: Auch unter den meisten aller anderen Filme werden die Zuschauer_innen es sehr schwer haben, einen zu finden, der nicht gesellschaftskritisch ist. Das Publikum in den zeitgenössischen Filmen wie „Kriegerin“ über eine junge Deutsche, die der Neonazi-Szene verfällt, dem Tagungsmitschnitt „Angriff auf die Demokratie“ mit düsteren Analysen zur krisengeplagten Welt von heute oder dem schweizerisch-französischen Jugenddrama „L’enfant d’en haut“ („Schwester“) mussten sich erneut fragen, was die Menschheit eigentlich so die letzten einhundert Jahre getrieben hat, dass sie großenteils immer noch mit wenigen Litern Wasser pro Mensch und Tag auskommen und in dreckigen und gesundheitsschädlichen Wohnungen oder Zelten hausen muss, dass sich Menschen noch einsamer und vergessener fühlen als vor den Weltkriegen, oder dass die alten verklärenden Rechtsaußen-Ideologien von damals nun wieder aufleben. Was ist hier schief gelaufen?

Die Berlinale ist kein Kindergeburtstag. Wer als Festivalbesucher_in glaubt, fröhlich von einem unterhaltenden Film zum anderen schlendern zu können, wird schnell desillusioniert. Die Berlinale ist ein politisches Filmfestival und schonungslos. Sie bietet uns mit ihren facettenreichen Bildern eine seltene Gelegenheit, das Fenster unseres mit Ikea-Möbeln ausgestatteten WG- oder Studiwohnheim-Zimmers zu öffnen und einen tiefen Blick nach draußen zu wagen, sonst ungesehene Welten kennen zu lernen, Althergebrachtes zu hinterfragen und Fremdes und Neues besser zu verstehen. Natürlich kann dann der Theatergast vor der Leinwand im Saal am Potsdamer Platz, im Friedrichstadt-Palast oder in einem der vielen teilnehmenden Kiezkinos nicht viel unternehmen: Er kann höchstens die Hände vor das Gesicht werfen, ein Taschentuch zur Hand nehmen oder weinend oder völlig blass die Vorführung verlassen. Doch das reicht nicht. Das Wichtigste kommt erst danach.

Mit den goldenen, silbernen und gläsernen Bären – den vielleicht wichtigsten Filmpreisen in der deutschen Filmfachwelt – werden die Filmkünstler_innen ausgezeichnet, die besondere Leistungen für die internationale Kinematographie erbracht haben. Ob überraschend unüberraschende Filme wie das DDR-Drama „Barbara“, voller Opfer und frei von Verantwortlichen, oder der für seine besondere Innovativität ausgezeichnete Schwarz-Weiß-Streifen „Tabu“ von Miguel Gomes (der, wie der Künstler selbst sagt, eigentlich ausgerechnet nichts Neues, sondern etwas besonders Altes machen wollte) diese hohen Auszeichnungen verdient haben, ist eine Frage des Geschmacks der Fachjurys. Trotzdem: Auch in diesem Jahr ging der Großteil der Preise an die Filme, die in ansprechender und eindringlicher Form auf Konflikte überall auf der Welt aufmerksam gemacht haben: „L’enfant d’en haut“ („Schwester“) über eine als Prostituierte arbeitende Mutter und ihren zwölfjährigen Sohn, der sich aus Scham als den Bruder seiner Mutter ausgibt und jeden Tag in den Wintersportparadiesen der Reichen Equipment zusammenklaut, um das Nötigste zum Überleben kaufen zu können, erhielt den Silbernen Bären. „Csak a szél“ („Just The Wind“) wurde unter anderem mit dem Großen Preis der Jury ausgezeichnet und wirft den Fokus auf die brutalen und nicht enden wollenden Roma-Pogrome in Ungarn, welchen in diesem Film drei Generationen – im täglichen Leben erniedrigt, schließlich erschossen – gleichzeitig zum Opfer fallen. Und den Silbernen Bären für das beste Schauspiel nahm Rachel Mwanza mit, die in „Rebelle“ („War Witch“) ein junges Mädchen verkörpert, die in einem afrikanischen Bürgerkrieg ihre Eltern verliert, von Rebellen entführt und zum Morden gezwungen wird und nur überleben kann, weil der Anführer der Rebellen in ihr den Sieg bringende „Hexenfähigkeiten“ vermutet; ganz nah an der Protagonistin erlebt das Publikum einen Kontinent, welcher noch am völligen Anfang seiner Entwicklung steht, in welchem kaum jemand genug zu essen hat oder lesen kann – doch der gern von der westlichen Welt mit so vielen fürchterlichen Waffen versorgt wird, sodass blutige Auseinandersetzungen förmlich provoziert werden. Dieser Film ist auch ein besonders gutes Beispiel für die vielen Filme auf dem Festival, die sich mit den Problemen der jungen Generation und ihrer chronischen Perspektivlosigkeit auf einem dauerhaft völlig ausgetrockneten globalen Arbeitsmarkt auseinander setzen.

Die Berlinale zeichnet ein düsteres Bild von unserer Welt, so dass es in der Regel keinen Spaß macht, die Filme bis zum Schluss zu sehen. Filme stellen unser Leben in Frage – das in fernen Ländern und hier bei uns im eigenen Wohnzimmer. Doch das macht ja gerade erst die Qualität dieser Kunst aus, macht ein Filmfestival gerade erst wertvoll – und eben nicht die Anwesenheit von gestylten Superstars, die ausgerollten schmutzig getretenen roten Teppiche oder die motorstarken BMW-Limousinen.

Wir sind nicht die ersten, die in einer Welt leben müssen, die am seidenen Faden hängt – die sich schon vor langer Zeit für viele Menschen zu einem realen Alptraum verwandelt hat. Doch hundert Jahre sind in ein kurzer Zeitraum – und trotz allem lässt sich unsere junge Generation nicht das Träumen von Visionen nehmen. Der Film ist dafür der beste Beweis.

Ausführliche Filmberichterstattungen von der Berlinale unter denis-newiak.blog.de

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