Wo fahrt ihr eigentlich hin? Wenn speakUP-Redakteur_innen die Flucht ergreifen

Normalerweise berichten wir euch in jeder Ausgabe der speakUP über Leute, die für ihr Studium nach Potsdam gekommen sind: In unserer Reihe „Wo kommst du eigentlich her?“ haben wir euch schon Leute aus den verschiedensten Ecken der Welt vorgestellt. Dieses Mal haben sich drei Leute aus der speakUP-Redaktion selbst auf Entdeckungstour gemacht und berichten euch heute aus Irland, der Türkei und Dänemark. Von Nathalie Wiechers, Lisa Büntemeyer und Denis Newiak.

„Bei einem bis zwölf Guinness…“
Nathalie, Irland

Am 30. Januar 2012 ist „ERASMUS“ 25 Jahre alt geworden. Das ERASMUS-Programm der Europäischen Union, dass es Studenten aus ganz Europa ermöglicht, im Ausland zu studieren und Europa so näher zusammenbringen soll, hat auch mich und einen beachtlichen Teil der Speak-Up Redaktion in die ‚weite Welt’ hinausgetragen…

Irland war für mich das Ziel des kleinen Abenteuers, das im September 2011 begann und dann vier Monate andauern sollte.

Bei dem auch als grüne Insel bekannten Staat treten spontan gewisse Assoziationen auf, etwa hartnäckiger Dauerregen, derbe aber auch bauschige Schafe und grüne Wiesen in atemberaubender Natur oder auch der Gedanke an Guinness-Pints in Pubs, Small Talk beim Irish Whiskey trinken und Kerrygold Butter auf frischen Scones. Weiter geht es mit energiegeladenem River Dance, mystischem Keltenkult und der Tragik der irischen Geschichte. Möglich ist aber auch der Gedanke an den Schauspieler Colin Farrell, an den Film „P.S. Ich liebe dich“, sowie die gleichnamige Romanvorlage oder einfach nur an rote Haare.

Und ja, ich darf bestätigen, einige dieser Bilder kommen nicht von ungefähr, denn es wimmelt dort von diesen bauschigen Schafen mit den schwarzen Köpfen auf den sattgrünen Wiesen. Die Iren pflegen ihre Kultur. Sie sind u.a. stets bedacht auf den Erhalt der Sprache, erkennbar an den Schildern am Straßenrand, auf denen alle Straßennamen und Ortsbezeichnungen zuerst in Gälisch erscheinen. Die Traditionen und die Erinnerung an vergangenes Elend gehören ebenfalls dazu. Die Natur so schön, beinahe magisch, dass man sagen kann, wer einmal dieses Grün gesehen hat, wird es so schnell auch nicht mehr vergessen. Und auch die irische Butter ist ein Gedicht.

Die Irish Pubs, wie wir sie auch hier zu Lande kennen und die ihren Siegeszug über die ganze Welt angetreten haben (ja es gibt tatsächlich auch „Irish Pubs“ in China, Indonesien und der Mongolei), sind nicht annähernd vergleichbar mit den „wahren Müttern“ der Pubs auf der grünen Insel selbst. Von der Irish Sea bis zur Küste des Atlantiks kann man in kleinen beschaulichen Familienbetrieben aber auch in auch größeren Lokalitäten Nacht für Nacht, egal ob am Wochenende oder an Werktagen, egal ob in der Großstadt oder im kleinen Dörfchen, jedes Alter und jede Schicht der Gesellschaft treffen und dabei zusammen feiern bei traditioneller und auch moderner irischer Live Musik – wahlweise begleitet von einem bis zwölf Guinness. Die offenen und redseligen Iren sind stets zum Plaudern bereit und auch geduldig, wenn man als Nicht-Ire doch schon ab und zu genauer hinhören muss den irischen Slang zu entwirren.
Die Häufigkeit des Regens allerdings, muss im Fazit als eine maßlose Übertreibung deklariert werden. Genauso wie das Vorurteil der roten Haare, die sind nämlich viel häufiger in Schottland zu finden als in der Republik Irland. Collin Farrell bin ich nun leider nicht begegnet, doch lässt dies auf keinen Fall meine Freude über das schmälern was ich erlebt, gesehen und gelernt habe.

Denn wenn man mit sieben Menschen zusammengewohnt hat, die aus Bulgarien, Spanien, der Schweiz und den Vereinigten Staaten kommen und außerdem Studenten aus dem Kosovo und Montenegro, von Finnland über Frankreich und Schweden bis hin zu China und Australien kennen gelernt hat, erfuhr man: Es gibt wirklich sehr unterschiedliche Essensgewohnheiten und vor allem Essenszeiten und dass Deutsche einen für den Rest der Welt unverständlichen Appetit auf geschmierte Stullen verspüren. Dass die Trinkfestigkeit der Iren alles andere als ein Ammenmärchen ist, Spanier einfach viel temperamentvollere Stimmorgane haben als andere und Amerikaner Meister im Erdnussbutter verdrücken sind.

Und zu guter Letzt habe ich die Gewissheit errungen, dass die Sachen, die einen wirklich beschäftigen wie Heimweh, Angst vor versagten Prüfungen und Liebeskummer, einen nicht trennen. Zwar sind vielleicht die Zeiten für das Mittagessen verschieden, doch haben wir alle dieselben Hoffnungen und Wünsche. Egal aus welchem Land man kommt, jeder genießt die Freude am Feiern bei guter Musik und kühlen Drinks. Diese vier Monate haben mir nicht nur die Liebe zu Irland eingehaucht und weitere Erfahrungen gebracht, sondern mir auch Freunde in der ganzen Welt gegeben.

Der folgenlose Ruf des Muezzins
Lisa, Türkei

Beten ist besser als Schlafen! Mit diesen Worten versucht der Muezzin mich jeden Morgen zwischen fünf und sechs Uhr zu wecken. Doch auch wenn ich den ersten Ruf zum Gebet in der Regel verpassen, der Muezzin und sein leiernder Gesang geben so schnell nicht auf: Vier weitere Male schallt sein Ruf durch die Stadt, um Gläubige zum Gebet in die Moschee zu locken.

Istanbul ist die viertgrößte Metropole der Welt. Hier leben geschätzt 17 Millionen Menschen, ob in Villen am Bosporus oder leerstehenden Häusern mitten im Zentrum. Ein Ende der Stadt ist nirgends zu sehen und es grenzt an ein Ding der Unmöglichkeit, einen Weg aus ihr heraus zu finden. Obwohl zum Großteil eine muslimische Stadt, ist Istanbul wesentlich moderner, westlicher und bei weitem weniger religiös als man erwarten würde.

Während des Gesangs des Muezzins fällt bei genauerem Hinsehen auf, dass im Grunde niemand reagiert. Fast keiner eilt Richtung Moschee, das hektische Leben der Istanbuler geht den normalen Gang weiter, nur hier und da arten Gespräche in Geschrei aus, um sich über den lauten Gesang hinweg zu verständigen.

Etwa 40 Universitäten sind über die Stadt verteilt. Die von uns Potsdamer Studierenden liegt unmittelbar am Bosporus mit Blick auf die asiatische Seite, die nur eine zehn minütige Fährfahrt entfernt liegt. Studiert wird auf English – zumindest preist sich die Uni damit an. In Wirklichkeit überreden die türkischen Studenten_innen viele Professoren, die Kurse auf Türkisch zu geben, so dass wir mit unserem begrenzten Grundwortschatz keine Chance haben irgendetwas zu verstehen. Alternativ werden einige Kurse auf Englisch und Türkisch gemischt gehalten. Das Gefühl, hierbei bei einem Film mit Sprung im Sprachmenü gelandet zu sein, ist über das ganze Semester nicht verschwunden.

Abseits vom gewöhnungsbedürftigen Unileben hat Istanbul für Studenten viel zu bieten: Sie ist eine wahnsinnig junge Stadt mit einem Durchschnittsalter von sage und schreibe 28. Das Party-Viertel rund um den pulsierenden Taksim Platz schläft nie. Über 1300 Möglichkeiten feiern und trinken zu gehen werden den Türken und zahlreichen Touristen hier geboten, während sich die Gegend tagsüber in ein Shoppinggebiet verwandelt. Auch nach Frauen mit Kopftüchern oder gar Burkas sucht man in Istanbul lange, Kopftücher sind auf den Straßen Berlins wesentlich verbreiteter als hier. Eine Freundin bereute ihr Vorhaben aus Respekt vor der Kultur keine Röcke mitzunehmen schnell, als sie die viel leichter bekleideten türkischen Frauen sah.

Und auch wenn ich dem Ruf des Muezzins nicht gefolgt bin, ich habe es geschafft das nicht vorhandene Istanbulsche Verkehrssystem zu überleben und diese vielseitige Stadt nach großer anfänglicher Skepsis kennen und lieben gelernt.

Søren, Stine und eine Kleine Meerjungfrau
Denis, Dänemark

„Have you already seen The Little Mermaid?“ – Das ist die Standardfrage, die sich Studierende aus dem Ausland gegenseitig stellen, wenn Sie am Anfang ihres Auslandssemesters in der dänischen Hauptstadt Kopenhagen stehen (zumindest dann, wenn sie das mehr oder weniger zweifelhafte Vergnügen haben, auf mich zu treffen). In Wirklichkeit ist den meisten Studierenden diese „Kleine Meerjungfrau“ – die da sehnsüchtig auf das Meer starrend auf einem Stein im Hafen der nordischen Metropole sitzt und von fotografierwütigen Tourist_innen umzingelt ist (welche, um alle negativen Vorurteile noch zu bekräftigen, auch noch Freude daran haben, die kleine Statue in unsittlicher Weise zu berühren…) – nicht wirklich wichtig. Sie ist eher ein „Pflichtprogramm“, welches jede_r Studierende erledigt haben muss, wenn er hier in Kopenhagen gewesen ist und alles gesehen haben will. Die meisten Studis aus dem Ausland (und auch aus dem Inland) sind vor allem von den Ausmaßen der Statue enttäuscht: Viele stellen sich wohl eher eine sich räkelnde Freiheitsstatue vor und sind dann natürlich desillusioniert. Berechtigter Weise werden auch viele einwerfen, dass es sich nicht einmal um das Original des Bildhauers Eriksen handelt, das wird ja an einem geheimen Ort vor tobsüchtigen Demonstrierenden, Sprengstoffexpert_innen und Kettensägenmördern versteckt. Für mich allerdings war es eine Ehre, die Statue, von der ich bis dahin nur schlecht gemachte Bilder kannte, einmal (oder auch achtmal) mit eigenen Augen sehen zu dürfen. Eins vorneweg: Es hat mein Leben verändert.

Aufmerksame Leser_innen, zu welchen die Besucher_innen von speakup.to mit Sicherheit gehören, werden sich nun fragen: Hat diese Stadt nicht mehr zu bieten als 175 Kilogramm in Form gebrachte Bronze? Der Einwand ist berechtigt. Kopenhagen ist natürlich mehr als die „Kleine Meerjungfrau“. Viel mehr. Die Kopenhagener_innen zum Beispiel: Was für großartige Menschen! Sie sind der lebendige Beweis, dass die Dän_innen die glücklichsten Leute der Welt sein müssen: Sie helfen einem selbst dann aus der Patsche, wenn man noch gar nicht gemerkt hat, dass man in der Patsche sitzt; sie sind immer gut drauf, auch wenn es eigentlich nichts zu lachen gibt; sie sind schlau, reich und schön (zumindest das Letztere zeigt sich darin, dass alle aussehen, als wären die Bewohner_innen des „Kaufmannshafens“ gerade eben erst aus einem edlen Hochglanz-Modemagazin geflohen). Mit der Wohnungssuche hatte ja nicht nur ich ein paar Abenteuer zu überstehen – doch den ganzen Stress war es wert, dann hier für fünf Monate leben zu dürfen. Ich könnte noch ein bisschen weiterschwärmen: Von der hohen Qualität der Lehre an der Universität Kopenhagen (In einem Seminar beispielsweise saßen hinten im Saal einfach als „Reserve“ ständig zwei Hilfskräfte, die erst dann ihren großen Moment hatten, als ein einziges Mal der Beamer ausfiel, aber ansonsten recht unterbeschäftigt wirken. Doch die Dän_innen haben’s eben!); von den vielen, meist zu recht überfüllten Cafés und Restaurants, wo der Kaffee so viel kostet wie bei uns eine Hauptspeise; von dem spaßigen Tango-Argentino-Kurs beim Hochschulsport, der unkommentiert bleiben muss. Von diesen Menschen will niemand mehr weg.

„Die Amerikaner haben sich eine riesige Freiheitsstatue in den Hafen gestellt, und den Dänen reicht eine winzig kleine Meerjungfrau“, zitiert eine gute Freundin stets eine einstige Dozentin aus der Ukraine. Die Dän_innen brauchen keinen Stuss und tragen nicht dick auf – sie haben einfach Stil und Würde und wissen, wie mensch gut lebt – während die „Lille Havfrue“ (sprich etwa ‚Liel Haofru‘), einsam auf ihrem Stein sitzend, dem Militarismus schon längt den Rücken kehrend, demütig auf das Meer hinaus blickend, nur davon träumt, endlich menschlich zu werden, in einer neuen Welt voll Menschlichkeit leben zu dürfen.

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